Читать книгу An die Ränder der Erde - Anna Gyger - Страница 6
Seereise
ОглавлениеAmiel spürte ein Hämmern erbarmungsloser Intensität in seinem Kopf von. Dann stechender Schmerz und eine bleierne Schwere. Er fasste sich an den Kopf. Die Beule war erschreckend gross und er spürte Blut seine Haut wärmen. Langsam drang Licht zu ihm durch, und er öffnete die Augen.
Die Sonne schien ihm mitten in sein Gesicht und blendete ihn. Er schloss die Augen. Sein Körper schmerzte und er beschloss, noch einen Moment still dazuliegen. Von weit her hörte er Stimmen. Es war auf einmal entsetzlich schwül und heiss, der schattige Baum war verschwunden.
Wieder ertastete er seine Kopfwunde. Wird nicht so schlimm sein, dachte er. Er hatte wohl noch einmal Glück gehabt. Dieser Sturz war ganz schön heftig gewesen. Kein Wunder, wenn man wie ein Irrer durch den Wald rennt, ohne zu schauen, wo die Füsse gerade hintreten.
Wieder schlug er die Augen auf und beschirmte sie mit der Hand. Wie seltsam, dachte er. Von dem Wald war keine Spur mehr zu sehen. Er befand sich in einer kargen Landschaft mit Steinen, Staub und Büschen. Er versuchte, sich aufzusetzen. Das Stechen in seinem Kopf wurde wieder heftiger, und er stöhnte auf.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das grelle Sonnenlicht. Er zog seine Jacke aus und krempelte die Hosen hoch. Die Hitze war ungewohnt, und er hatte Durst. Wo war er bloss?
Wieder sah er sich um. Die Erde war kupferfarben, teilweise fast rötlich. Der Boden war trocken, und nur wenige Pflanzen gediehen in dieser Landschaft. Er horchte. In der Nähe mussten Menschen sein, das konnte er hören. Ein kräftiger Wind blies ihm um die Ohren.
Was war dies schon wieder für eine Zauberei, dachte er. Wie konnte er stürzen und an einem anderen Ort wieder zu sich kommen? War dafür dieser Dalin verantwortlich?
Ein äusserst beunruhigender Gedanke kam ihm. Konnte es denn sein, dass....
Er sprang auf - etwas zu eilig für seinen Zustand - und ein heftiger Schmerz durchfuhr seine Knochen. Doch nun war es ihm egal. Er klopfte sich den Staub von seinen Kleidern und sah sich genauer um. Ein kleiner Pfad lag da zu seiner Rechten. Er eilte voran, von einer gänzlich beklemmenden Vorahnung getrieben.
Schon bevor er die Küste sah, wusste er mit völliger Gewissheit, wo er war.
Und so war es. Der Pfad zog sich über einen Hang und ging auf einmal steil hinunter. Das weite Meer tauchte vor ihm auf und kräftige Wellen schlugen ans Ufer. Ein Dorf war nun zu sehen. Ohne Zweifel kein europäisches. Amiel wurde ganz benommen vor Verwunderung.
Da war er also, der Hafen. Schön und zierlich, fast wie in einem Bilderbuch sah er aus. Viele Schiffe aus Holz, alte Fischerboote, Ruderboote und Segelschiffe waren an mehreren langen Holzstegen befestigt. Daneben sah er ein buntes Treiben von Menschen. Ein Markt musste es sein. Amiel sah Wagen mit Gemüse und Handelswaren, die wirr durcheinander auf dem Hafenplatz standen, und eine beträchtliche Anzahl von lachenden, laut feilschenden und diskutierenden Menschen.
Ihre Hautfarbe war dunkel.
Amiel blieb einen Augenblick stehen und sah auf diese Kulisse, die ihm doch sehr unwirklich vorkam, welche aber ohne Zweifel real war. Er gab es auf, eine logische Erklärung dafür zu suchen. Es gab keine. Er konnte nicht mehr wegrennen, sondern musste zu jenem, der für all das verantwortlich war. Denn wenn er tatsächlich hier war, dann konnte Dalin nicht weit weg sein.
Er ging hinunter zum Hafen. Die Dorfbewohner sahen ihn prüfend an. Amiel fasste sich an den Kopf, die Wunde blutete noch. Er winkte ab um zu signalisieren, dass es ihm gut gehe. Da erblickte er am Ufer eine Gestalt.
Dalin war schon von weitem zu erkennen.
Er war damit beschäftigt, die Segel eines hölzernen, eher kleinen Segelbootes am eingezogenen Mast festzubinden. Das Schiff sah schon etwas mitgenommen aus, war aber ohne Zweifel eines der Schönsten im ganzen Hafen. Amiel erkannte vier Segel und sah, wie Einheimische Kisten an Bord trugen und sie in der Kajüte verstauten.
Amiel ging nun ohne Zögern auf Dalin zu.
„Nun Dalin, es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass sie hinter dieser ganzen gespenstigen Angelegenheit stecken. Ich muss schon sagen, ich wusste bisher nicht viel von Zauberei, aber das hier ist doch ganz schön dreist. Mich gegen meinen Willen um die halbe Welt zu zaubern? Bitte, hier bin ich und ich will auf der Stelle eine Antwort auf all das haben.“
Amiel war überrascht, wie fest und klar seine Stimme war. Seine Wut war nicht zu überhören.
Dalin fuhr herum und sah ihn an. Dieses friedliche, sanfte Gesicht passte so gar nicht zu dieser ganzen, wirren Geschichte.
Er lächelte, wirkte fast schon beschämt, und seine Wangen waren leicht gerötet.
„Entschuldige, Amiel. Das ist eigentlich gar nicht meine Art. Ich dachte nur, dass es schwer zu ertragen wäre, wenn du dieses ganze Abenteuer verpassen würdest. Ich meine, es wäre ganz schön traurig, das Buch wieder zuzuschlagen und dir den Rest der Geschichte vorzuenthalten, die du doch immer zu verstehen begehrt hast.“
Er band die dicke Schnur fest um den Mast und kam vom Boot herunter.
So eigenartig es Amiel auch vorkam, er konnte diesem Mann nicht misstrauen. Wie wütend er auch war, er fühlte sich bei ihm gut aufgehoben.
„Komm, Freund“, sagte Dalin, „du hast nen Kaffee verdient nach den ganzen Strapazen.“ Er sah besorgt auf Amiels Kopf. „Blutet die Wunde noch? Darf ich mal sehen?“
Amiel liess ihn gewähren. Mit einem Tuch reinigte Dalin geschickt die Platzwunde. „Wird schon wieder. Tut mir echt leid! Der Abhang, den du dir da ausgesucht hast, war ganz schön steil!“
Amiel folgte ihm ins Dorf. In einem einfachen Kaffeehaus, wo ihnen ein Ventilator etwas kühle Luft zublies, machten sie Halt. Dalin bestellte Kaffee und Nüsse, dazu frische Früchte.
Beide genossen den kühlen Luftzug und sassen einen Moment schweigend da.
Dann begann Dalin wieder zu sprechen. „Hör zu, lieber Freund, mir ist klar, dass die ganze Sache mehr als verwirrend ist. Es ist tatsächlich ein heftiger Eingriff unsererseits in deine freien Entscheidungen, aber dies passiert bei solchen Wundern schon mal. Dennoch sollst du wissen, dass du frei bist, zurückzukehren, wenn du nicht mitkommen willst. Ich werde dich nicht zwingen, mit mir zu kommen. Ich bin auch kein Zauberer, der dir seinen Willen auferlegen wird. Ich bin einfach nur dein Freund.“
Amiel fasst sich nochmals an seine Stirn um zu sehen, ob es noch blutete. „Und wie bitte schön hast du das hingekriegt - ich meine - die ganze Reise nach Mosambik in wenigen Minuten? Es schaut mir doch ganz nach Zauber aus, denn alle andere Argumentation lass ich nicht gelten!“
Dalin presste die Lippen kurz zusammen und verzog seine Mundwinkel.
„Das ist leider nicht ganz einfach zu erklären mein Guter. Weißt du, ich kenne dich! Du bist ein feiner Kerl. Ich habe gesehen, wie du mit deinem Leben gehadert und dich mit komplexen Gedanken abgemüht hast. Ich habe mich immer schon gefreut auf den Tag, wo du diese Reise hier beginnst und diese Mühen ein Ende haben werden.
Wenn du zurückgehst, dann komme ich mit dir und wir beide vergessen das Ganze. Doch ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir die Splitter deiner Erinnerung einsammeln und das Bild zusammenfügen.“
„Wer bist du?“, entfuhr es Amiel.
„Das Geheimnis dieser bevorstehenden Reise ist, dass ich dir keine schnellen Antworten geben werde. Niemand wird es. Am Ende jedoch wird es für dich mehr sein als eine Verstandeserkenntnis. Wie sagt man doch gleich: Wahrheit getrennt von Erfahrung wird immer dem Zweifel unterworfen sein.
Erfahrung ist ein guter Weg, seine Geschichte zu entschlüsseln. Eine Wahrheit soll erfahrbar sein, nicht nur erklärt. So bin ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein Reisebegleiter und Freund.“
Amiel kaute auf einer Nuss herum und wirkte nachdenklich.
„Dann sage mir, woher du das alles von mir weisst! Und erzähl mir von diesem Land, in das wir fahren werden. Deine Erklärungen sind mir zu dürftig, um mit dir wie ein Lebensmüder in die weite See hinauszustechen an einen Ort, den es nicht gibt!“
„Ich versichere dir, wir werden nach sechs bis acht Tagen festen Boden unter den Füssen haben“, antwortete Dalin.
„Das Land, das ich dir zeigen werde, ist ein Land der alten Zeit. Man könnte sagen, es ist eine Bühne der Geschichte. Eine wahre Freude für Entdecker, das kann ich dir versichern.
Ja, du hast recht. Noer gehört nicht zu dieser Welt, wie du sie kennst. Aber sein Schicksal spiegelt dein eigenes Leben. Dein eigenes Leben, deine Kultur und die gesamte Reise dieser Erde.
Was ich von dir weiss? Ich weiss, dass du träumst und dass dieser Traum dich niemals loslässt. Ich weiss auch, dass dieser Traum dich dahin führen wird, wo du das wieder finden wirst, was du verloren hast. Deine Erinnerung, Amiel. Du sollst dich erinnern und deine vergessenen Jahre zurückerhalten. Deine Reise wird dich an die Ränder dieser Erde führen und dir einen Blick darüber hinaus gestatten.
Deine Reise wird dich an den Anfang führen und dir einen weiten Ausblick gewähren in das, was kommen wird. Deine Geschichte wird in eine weit grössere hineinreichen, und durch sie sollst du die eigene wieder finden.“
Amiel lehnte sich zurück. „Ich nehme an, das ist alles, was du mir sagen wirst, nicht wahr?“
Dalin grinste breit. „Nun, so ist es. Nur das eine sollst du noch wissen: Die Geschichte, die ich dir erzählen werde, steht über Raum und Zeit. Sie verlangt von dir, dass du dich weit über das hinauslehnst, was die westliche Verstandeskraft voreilig beurteilt. Sie reicht weit tiefer. Also, ich frage dich: Wirst du mit mir kommen?“
Amiel seufzte und dachte angestrengt nach. Er rührte ziellos in seiner Kaffeetasse und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war klar und flimmerte vor Hitze. Seine Hände waren klebrig und verschwitzt. Seine Gedanken aber waren nun klar und er spürte, wie aufregend er das alles fand. „Das hier ist mir ein echtes Rätsel. Ich weiss nicht, warum ich mich darauf einlasse. Im Grunde wäre mein grösster Wunsch ein ruhiges, normales Leben. Doch das wurde mir nie gewährt. Um ehrlich zu sein, das alles erscheint mir wie totaler Wahnsinn. Aber wie ich feststelle, weisst du viel über mich und das berührt und erschreckt mich. Ich würde gerne mehr über dich wissen. Wie es mir scheint, werde ich da aber nicht viel mehr erfahren. Ich kann nicht zurück, nachdem ich erkannt habe, dass meine Vergangenheit nicht nur ein leeres und nichtssagendes Unglück war. Wenn du mir sagst, dass das alles einen Sinn hatte, einen Grund, dann werde ich mitkommen und ihn suchen. Selbst wenn ich gerade an allem zweifle, was ich je für logisch und geregelt hielt. Du meinst also tatsächlich, dass wir da hin segeln können?“
„Ja, das meine ich. Das Schiff steht bereit, und ich denke, dass es gut wäre, wenn wir bald aufbrechen. Das Wetter ist gut, und es ist gerade Mittagszeit. Es bleiben uns noch einige Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit.“
„Was genau verstehst du von der Seefahrt?“, wollte Amiel wissen.
„Nun, was die Bedienung des Schiffes angeht, bin ich eine ziemliche Null. Aber Karten und Kompass lesen, das liegt mir, ausserdem habe ich noch einige Zusatzsinne, die uns behilflich sein werden, den richtigen Weg einzuschlagen“, grinste er.
„Na gut, du verrückter Gefährte, dann zeig mir mal deine Karten, und wir machen das Schiff startklar.“
„Nur zu gerne“, sagte Dalin, winkte dem Caféinhaber und bezahlte. Dann gingen sie los. Unterwegs konnte er es sich nicht entgehen lassen, frischen Ziegenkäse und Brotfladen fürs Abendessen zu kaufen. Er schien ganz aufgeregt. Amiel vermutete, dass er das erste Mal mit auf einer Segeltour war. „Gott stehe mir bei“, sagte er leise vor sich hin und dachte an den alten Leon, der ihn bestimmt mit allen Kräften daran hindern würde, mit so einer Nussschale in den offenen Indischen Ozean zu stechen.
Sie bereiteten das Schiff vor. Amiel prüfte den Motor und die Segel. Erstaunt stellte er fest, dass das Schiff in einem bemerkenswert guten Zustand war. Im Innern des Schiffes befand sich ein kleiner Lagerraum, wo Essen und Material verstaut waren. Vorne beim Eingang waren zwei Schlafplätze, ein kleiner Esstisch und eine Kochstelle eingerichtet. Alles in allem schien das Schiff solide und vertrauenswürdig, wenn auch schnell klar wurde, dass es keineswegs für wochenlange Seereisen ausgestattet war.
Drei grosse, kräftige Afrikaner halfen ihnen dabei, das Boot auf die offene See hinaus zu stossen. Sie winkten und riefen ihnen fröhlich nach. Dalin lachte und dankte ihnen lauthals.
Amiel setzte sich ans Steuer und begann, die Koordinaten genauer zu prüfen. Er stellte das Ruder ein und überprüfte die Reisestrecke. Dalin drückte ihm eine Karte in die Hand. Verblüfft betrachtete er sie. Auf dieser Karte war tatsächlich eine grosse Insel eingezeichnet, die auf keiner Weltkarte zu finden war.
Sie lag im Herzen des Indischen Ozeans, ungefähr tausend Meilen nördlich der französischen subantarktischen Inseln und tausend Meilen südöstlich von Madagaskar.
An diesem Ort befand sich die Insel Noer. Amiel verglich Form und Grösse und stellte tatsächlich Ähnlichkeiten mit der Nordinsel Neuseelands fest.
Dalin steckte ihm zudem eine Karte zu, wo Noer in voller Grösse eingezeichnet war. „Da hast du was zum Studieren. Wirst sie auf deiner Reise bestimmt oft brauchen.“
Amiel sass eine ganze Weile beim Steuer und sah sich die Karte an. Auf der südlichen Hälfte der Insel war ein Gebirge zu erkennen, welches sich quer durch das Land zog und es von einer karge Wüstenebene im Süden abgrenzte. Der nördliche Teil machte den Anschein einer hügeligen Landschaft, die im hohen Norden zur flachen Ebene überging. Einige kleine Inseln umgaben das Festland.
Es wurde Abend. Um sie herum war nichts mehr zu sehen als der weite Ozean.
Dalin bereitete das Abendessen vor, und es roch nach Knoblauch und Basilikum. Amiel hörte, wie er munter vor sich hinpfiff. Er selbst sass auf dem Deck und beobachtete den Sonnenuntergang. Der Wind blies noch immer und die Wellen schlugen kräftig gegen den Bug. Die Sonne stand knapp über dem Horizont, und der Abendhimmel war klar und frisch.
Er dachte über all die Ereignisse dieses Tages nach. Er kam sich vor wie James Cook auf einer seiner Entdeckungsreisen. In gewisser Weise war dies durchaus vergleichbar.
Er war sich noch immer unsicher, ob er all dem wirklich Glauben schenken konnte. Er hatte nun sein Segelabenteuer, und das gab ihm zurzeit genügend Antrieb. Doch an der Mission selbst hatte er gehörige Zweifel. Wie sehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach, es ergab keinen Sinn. Er hatte sich entschieden, diesem liebevollen, aber ausgeflippten Typen, der zweifelsohne über eine Menge übernatürliche Kräfte verfügte und behauptete, nicht wirklich zu den Menschen dazuzugehören, zu vertrauen. Wohin er ihn genau führen würde, wusste er nicht.
Er war auf einer Reise, soviel war klar. Niemand würde ihm das jemals glauben, aber er war nun mal hier. Dabei, eine ganze Reihe übernatürlicher Dinge zu entdecken, die er selbst kaum für möglich gehalten hätte. Warum hatte Dalin denn gerade ihn ausgesucht?
Was auch immer der Grund war, es gab kein Zurück mehr. Er entschied sich, sich darauf einzulassen, wenn er auch sehr daran zweifelte, dass diese Insel jemals auftauchen würde. Nach acht Tagen würden sie umkehren oder die Richtung ändern müssen, sonst steuerten sie in gefährliche, südliche Gewässer.
Sie hatten ein Funkgerät an Bord. Amiel hatte darauf bestanden, auch wenn Dalin drüber nur den Kopf schüttelte. Doch er wollte das Risiko nicht eingehen, da die See weiter südlich immer rauer und gefährlicher wird. Er hatte keine Erfahrung. Nie war er länger als fünf Tage auf dem offenen Meer gewesen und dies stets in Küstennähe.
Dalin servierte Amiel Pasta mit frischen Kräutern, Hühnchenfleisch und gebratenem Gemüse.
Er öffnete gekonnt eine Flasche Bordeaux und goss die Gläser ein.
Sie prosteten sich zu und hatten alle Mühe, den Wein bei den starken Wellen nicht zu verschütten.
„Ein begnadeter Koch, wie ich sehe“, bemerkte Amiel, dem das Essen sichtlich schmeckte.
„Oh das ist meine Leidenschaft“, antwortete Dalin und zwinkerte ihm zu.
„Ich bin mein Leben lang viel gereist und bin der Meinung, dass die grösste Kunst der Menschheit ihre Küche ist. Mmhh, welche Köstlichkeiten ich auf diesem Planeten gekostet habe, kann ich dir sagen. Jedes Land, jede Region hat ihre eigenen Rezepte! Das ist doch fantastisch!“
Genüsslich nahm er einen Schluck Wein. „Ich weiss ja, dass ihr ohne das rote Wässerchen nicht lange auskommen könnt, also habe ich dir einige Flaschen eingepackt. Ach ja, da du keine Gelegenheit hattest, deine Sachen zu packen, habe ich dir einiges mitgebracht.“ Er ging zurück in die Kabine und brachte einen beige-braunen Rucksack mit.
„Hier, das ist deiner.“
Amiel bedankte sich höflich. „Was ist denn da drin?“
„Na, einiges an guten Kleidern und Ausrüstung damit du für das Outdoorleben gewappnet bist. Glücklicherweise ist da unten gerade Frühsommer und es wird nicht all zu kalt werden. Die Leute sind ganz wunderbar und die meisten sehr gastfreundlich. Ums Essen musst du dir keine Sorgen machen. Sie sind sehr grosszügig.“
„Willst du mir denn nicht etwas mehr darüber erzählen? Ich meine, wo werde ich hingehen? Was werde ich da genau tun?“
„Ach, mach dir darüber nicht zu viele Gedanken. Das wird sich vom ersten Augenblick an ergeben. Ich habe keine Route für dich geplant, wenn du das meinst. Die Sache ist ganz und gar dynamisch.“
„Na super“, seufzte Amiel. „Wie lange wird das denn genau dauern? Die alten Fischer und meine Freunde werden sich irgendwann schon fragen, wo ich bin und in der Werkstadt stapeln sich meine Aufträge!“
Dalin trank das Glas leer. „Vergiss erst mal deine Pendenzenliste. Ich verspreche dir, du wirst zurück sein, bevor sie deine Wohnung zum Verkauf ausschreiben.“
„Sehr beruhigend“, brummte Amiel.
Es wurde dunkel. Beide studierten zusammen den Kurs, und Amiel zeigte Dalin, wie das Schiff zu steuern war. Sie beschlossen, sich alle drei Stunden abzuwechseln, und Amiel übernahm die erste Schicht.
Während Dalin unten friedlich schlief, sass er - die Kapuze fest ins Gesicht gezogen - oben auf Deck und betrachtete das fahle Mondlicht, das seine Spur in den weiten Ozean zeichnete. An diesem Abend fühlte er sich frei.
Am Morgen erwachte Amiel früh. Die Nussschale machte ihrem Namen alle Ehre, und die dünnen Pritschen liessen an Bequemlichkeit sehr zu wünschen übrig. Auch gelang es ihm kaum, wirklich tiefen Schlaf zu finden, da er wohl tief drinnen der Sache entschieden misstraute. So war auch sein Erwachen eine sonderbare Mischung aus Realitätsfremde und Abenteuerlust. Jedenfalls brauchte er eine ganze Weile, um sich seiner Lage gewahr zu werden und sich ihrer anzuvertrauen. Er rieb sich die Schläfen und reckte seine schmerzenden Glieder.
Die Tatsache, mit diesem Verrückten auf offener See gen Wunderland zu segeln, schien wie der direkte Übergang vom vergangenen Nachttraum in den Nächsten.
Er stieg aus dem schmalen Bett und zog sich eine Jacke über. Er überprüfte die Navigation. Die Richtung war gut und alles stimmte. Heute war das Meer ruhiger, dafür waren einige Wolken zu sehen. Der Wind stand gut, und heute würden sie alle Segel einsetzen können.
Dalin sass bereits auf Deck. „Guten Morgen, Kollege. Na, gut geschlafen?“
Amiel brachte ein müdes Lächeln zustande. „Wenn du schon über überirdische Kräfte verfügst, hättest du gut und gerne in etwas dickere Matratzen investieren können! Ausserdem glaube ich noch nicht ganz, dass ich wirklich hier bin und mit dir rede.”
„Ha, der Kerl hat Humor!“, gab Dalin zurück und klatschte sich aufs Knie. „Was hältst du von Frühstück?“
Und so sassen die beiden auf Deck, tranken Kaffee und assen gebratene Eier und Schinken. Dazu die Überreste vom Brot, das sie am Hafen gekauft hatten.
Der Tag verstrich rasch. Sie zogen die grossen Segel auf, und Amiel lehrte Dalin das Segeln. Der Wind war stark, und das Boot brachte eine beachtliche Geschwindigkeit auf, so dass kräftig angepackt werden musste. Dalin war begeistert und sie beide ergänzten sich ausgezeichnet.
Der Segelabenteurer Amiel bestritt seinen Tag mit Segelsetzen, Segelmanövern und Navigation. Amiel war ganz und gar in seinem Element und war mit Leib und Seele bei der Sache. Bis jetzt lief alles hervorragend und insgeheim war er ziemlich stolz.
Dalin liess sich gerne von ihm anleiten, und Amiel genoss die Führungsrolle. Zuweilen hatten sie ein beachtliches Tempo und es bedurfte gezielter Manneskraft, das Schiff unter Kontrolle zu halten.
Am Abend sassen sie noch lange bei einer Flasche Wein an Deck und unterhielten sich über die verschiedensten Themen. Amiel erzählte von seiner Heimatstadt, und Dalin war begierig, ausgeschmückte Geschichten über die Gepflogenheiten des Kleinstadtlebens zu hören.
Dann erzählte Dalin von der Eigenart der marokkanischen Küche und berichtete von seinen Reisen, bis beide müde wurden.
Der dritte Tag begann grau und kalt. Schon nach kurzer Zeit prasselte ein starker Regen auf sie nieder und die Wellen prallten mit grosser Wucht gegen das Schiff.
Es war ein anstrengender Tag, und alle Kräfte wurden gefordert. Trotz Müdigkeit und Unbehagen schafften sie es, die Geschwindigkeit beizubehalten. Es war erstaunlich, wie viele Meilen sie zurücklegten. Amiel war bewusst, dass dies nicht mit rechten Dingen zu und herging. Normalerweise hätten sie mehr Zeit benötigt, um die vorgesehene Strecke zu bewältigen. Er war beeindruckt.
Auch der nächste Tag verlief stürmisch und gab ihnen kaum Gelegenheit, sich intensiver über die Reise zu unterhalten. Die Nachtschichten ermüdeten sie, so dass sie, wenn sich die Gelegenheit bot, auch tagsüber abwechselnd Rast machten.
Amiel war ganz auf die Seefahrt fokussiert, so dass er sich wenig Gedanken machte, was die nächsten Tage mit sich bringen mochten. Der Sturm forderte ihn heraus und ohne Dalins Gelassenheit hätte ihn vermutlich die Angst gepackt. Aber sein Gefährte erwies sich als tatkräftige, ausgeglichene Stütze, die am rechten Ort mit anpackte und ihm Sicherheit vermittelte. Es war eine Freude, mit ihm zu segeln.
Am fünften Tag beruhigte sich die See, und sie hatten Zeit, sich auszuruhen und einige Reparaturarbeiten zu tätigen.
Als der Abend hereinbrach, kochten sie sich ein ausgiebiges Abendessen und genossen die Dämmerung.
Nach den vielen Stunden, die sie beide bereits zusammen verbracht hatten, kam Dalin Amiel schon sehr vertraut vor. Ihre Gespräche hatten sich um alles Mögliche gedreht. Dalin war ein herausragender Zuhörer, der sich sehr für Amiels Erzählungen interessierte und gespannt nachfragte. Amiel fühlte sich in seiner Nähe pudelwohl. Er liebte es, sich mit jemandem so innig über absolute Belanglosigkeiten und Details des Lebens auszutauschen, sich in Schwärmereien zu verlieren und in alten Erinnerungen zu schwelgen.
Dalin verbreitete eine solch fröhliche, unbeschwerte Atmosphäre, wie Amiel es noch nie zuvor erlebt hatte.
Er strotzte vor Lebensmut und vermittelte eine wohltuende Gelassenheit.
Amiel war berührt von diesen Tagen. Mit diesem geheimnisvollen Gefährten genoss er jede Stunde. Er spürte, dass er ihm kompromisslos vertraute.
Er hatte noch nie erlebt, dass jemand so voller Interesse für ihn war! Gab es denn etwas Schöneres, als von einer anderen Person so offenherzig geschätzt zu werden und ihr Innerstes zu spüren? Dalin stellte viele Fragen und nahm sich viel Zeit, Amiel Raum für Erzählungen zu geben.
Dieser Mann stärkte ihn mit seiner Anwesenheit. Er hatte etwas Väterliches, Hingebungsvolles und Selbstloses, das Amiel aufsog und gänzlich genoss.
Auch an diesem Abend sassen sie beieinander, weit auf dem offenen Meer, wo nichts Vertrautes mehr in der Nähe war. Dennoch fühlte sich Amiel sicher und geborgen.
Der Mond spähte zwischen den Wolken hervor und hinterliess seinen silbernen Streifen über dem weiten Wasser.
Eine zauberhafte Nacht.
„Mein Freund, wir machen einen hervorragenden Job!“, sagte Dalin und erhob das Glas. „Es ist ein Genuss, mit dir auf See zu sein. Dein Können beeindruckt mich. Unsere Reise ist eine wunderbare Mischung aus Körperarbeit, Sturm in den Haaren, herrlichem Essen und langen Geschichtsabenden. Welch eine Freude!“
Amiel prostete zurück.
„Und, wie lange noch?“, fragte er seinen Gefährten.
„Nicht mehr weit, nicht mehr weit. Wir liegen bestens in der Zeit! Ich freue mich auf die hübsche Insel. Es hat herrliche Menschen dort. Ich bin sicher, du wirst sie mögen!“
„Wenn ich ehrlich bin“, gab Amiel zur Antwort, „so hab ich dich sehr ins Herz geschlossen und geniesse unsere Reise in vollen Zügen. Aber an die Insel Noer hab ich kaum gedacht und weigere mich noch immer, die Geschichte zu glauben. Andererseits wird es langsam Zeit, dass sich die Sache klärt, denn die Antarktis ist, wenn wir in diesem Tempo weiterfahren, nicht mehr allzu weit.“
„Spannend, nicht?“, zwinkerte Dalin ihm zu, „Sagaland oder nahende Pinguine! Einfach herrlich, diese Story!“
Er lachte.
„Sie waren sehr schön, diese Tage“, fuhr er fort. „Du bist ein besonderer junger Mann! Damit du es nicht vergisst, ich habe nicht irgend jemanden für diese Reise ausgewählt, sondern ganz bewusst dich! Es ist deine Reise, wild, verrückt und träumerisch. Sie lässt sich nicht so leicht durchschauen - so, wie auch du dich nicht leicht deuten lässt. Ich weiss, dass du dich oft so anders gefühlt hast, als die grosse Mehrheit der Leute. Es gibt viele Besonderheiten an dir, lieber Freund, und sie begeistern mich immer wieder auf`s Neue!“
„Ich habe es nicht als Vorteil empfunden.“ Gab Amiel zu. „Ich wäre gerne weniger anders gewesen und hätte viel darum gegeben, nicht so kompliziert gestrickt zu sein.“
Dalin neigte sich vor. „Kein Mensch ist nur ein Mensch der Masse und je mehr man sich in sie verwandelt, desto matter werden die Farben einer Gesellschaft. Aber was deine Geschichte betrifft, so wünsche ich dir von Herzen, dass du ein Ja zu ihr finden wirst. Dass sie dir einmal genauso wundersam und fantastisch erscheint wie mir und dass jede der dunklen Seiten dieses Buches ihre Bedrohung verliert. Das Leben ist dann gelebt, wenn es am Ende das Lied von der Schönheit singen kann.“
„Das sind sehr schöne Worte“, gab Amiel zurück, „aber wie kann ich ein Ja finden, wenn ich nicht weiss, zu was? Ich kenne die ersten Seiten des Buches nicht.“
„Ja, das weiss ich. Kein einfacher Weg. Aber ich kann dir die ersten Seiten deines Buches nicht erzählen. Es genügt nicht, sie in Worten zu hören. Warte ab, es fügt sich mehr und mehr zusammen.“
Amiel wusste nicht, ob er das glauben konnte, aber er konnte es hoffen. Er hoffte es mit ganzer Kraft! Vielleicht konnte er dann, wenn er wusste, wer er war, zurück gehen und die Dinge klären, für was er bislang zu feige war.
„Was möchtest du in deinem Leben erreichen?“, fragte ihn Dalin unvermittelt. „Wovon träumst du?“
Etwas überrascht sah ihn Amiel an und dachte nach: „Nun, wenn ich ehrlich bin, habe ich mir bislang nicht allzu viele Gedanken gemacht. Bestimmt wünsche ich mir das Übliche, eine tolle Frau zu heiraten, einige Kinder zu haben. Ich wünsche mir ein Zuhause und ein paar gute Freunde, viel mehr brauche ich nicht.“
„Oh, welch ruhmhafte Bescheidenheit“, erwiderte Dalin und konnte den neckischen Unterton nicht ganz verbergen. „Gibt es da nicht noch etwas mehr?“
„Was meinst du mit „mehr“?“, gab Amiel etwas verärgert zurück.
„Ich meine die Träume, mein Freund. Man spricht sie vielleicht nicht so schnell aus, aber sie sind mit Sicherheit da, sonst wäre das Leben fade und prüd.“
Amiel seufzte. „Alles, wofür ich die letzten Jahre arbeitete war, mir ein eigenes Leben aufzubauen und meiner früheren Schwermut endlich den Rücken zu kehren. Es ist mir ganz gut gelungen, und ich war zuversichtlich, die Vergangenheit hinter mir gelassen zu haben. Doch dann bist du aufgetaucht und hast mich aus dieser gemütlichen Position in ein unerwünschtes Abenteuer hineingeschleudert.“
„Unerwünscht?“, hakte Dalin nach.
„Ja, so ist es! Ich hatte geglaubt, es endlich hinter mir zu haben.
Du hast gesagt, du seist ein Traumdeuter und ich glaube zu wissen, dass du meine Geschichte besser kennst als mir lieb ist.“ Amiel hielt einen Moment inne und fuhr dann leise fort: „Es war der Traum, der nach langer Zeit zurückgekehrt ist. Ich habe es wieder gesehen, dieses weite Land. Ich habe das Gras berührt und den Duft eingeatmet. Ich kann es nicht beschreiben, aber immer, wenn es mir erlaubt ist, einen Blick in dieses Land zu werfen, wird alles andere unbedeutend. Der Traum war wie der erste Atemzug meines Lebens, er war von Anfang an da. Er ist alles, was ich von mir weiss, und er ist das Wunderbarste, was ich je erfahren habe. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich beinahe jeden Tag frage, was dieser Traum mit mir zu tun hat und wie ich dieses Land finden kann. Kannst du nicht sagen, wie ich das Rätsel lösen kann? Kannst du mir sagen, wer ich wirklich bin?“
Er sah Dalin lange an und wartete, bis dieser erwiderte: „Ja, ich werde dir gerne helfen, das Rätsel zu lösen. Deshalb sitzen wir jetzt hier unter dem Sternenhimmel. Lieber Freund, sei dir im Klaren, dass dir eine einzigartige Gabe anvertraut ist. Es sind wenige, denen solch offene Augen geschenkt werden.“
„Ist Noer dieses Land?“, fragte Amiel dazwischen.
„Nein, nicht ganz. Noer ist ein guter Wegweiser. In Kürze wirst du mehr erfahren. Aber nicht heute Abend. Ein guter Freund muss zur richtigen Zeit reden und zur richtigen Zeit schweigen können. Geh jetzt schlafen, und überlasse alles der Ruhe der Nacht. Der morgige Tag wird einiges zu bieten haben!“
Wie immer war klar, dass an diesem Abend nicht mehr von Dalin zu erfahren war. Es war nicht leicht, diese Eigenart hinzunehmen, aber Amiel fügte sich und merkte, wie sehr er sich nach Schlaf sehnte.
Sie spülten das Geschirr und machten sich fertig für die Nacht. Dalin würde die erste Wache halten.
Amiel war das recht. Als er sich hinlegte, dauerte es nur wenige Sekunden und er schlief ein.
Dalin weckte ihn diese Nacht nicht.
Am nächsten Morgen erwachte Amiel früh. Ihm wurde schnell klar, dass Dalin ihn diese Nacht schlafen gelassen hatte und fragte sich, wie dieser es wohl geschafft hatte, die ganze Nacht wach zu bleiben.
Inzwischen mussten sie ihrem Ziel näher gekommen sein, sofern dies wirklich möglich war. Bisher lief alles nach Plan und die Spannung darüber, was die nächsten Tage geschehen würde, stieg an.
Ein Hauch von Sorge überkam ihn. Er war nicht geübt in der Hochseefahrt und je südlicher sie kamen, desto wilder wurde das Meer. Jeden Tag konnte ein neuer Sturm sie treffen.
Dalin war nicht in der Kabine. Sein Bett war ordentlich hergerichtet, und Amiel hörte nicht das gewohnte Summen vom Oberdeck.
Er zog seine Kleider an und kletterte nach oben. Er sah sich um, doch sah er Dalin nicht. Er stieg auf das hintere Deck, doch niemand war da. Amiel begann, seinen Namen zu rufen und stieg wieder in den Bug des Schiffes. Er sah im Vorratsraum nach, in jeder kleinsten Ecke des Schiffes und rief seinen Namen. Dalin war verschwunden.
In Panik rannte Amiel wieder an Deck und suchte das Wasser ab. War Dalin ertrunken? Über Bord gefallen? Wie konnte das sein?
Um ihn herum war nichts als das weite Meer zu sehen. Kein Land, keine Schiffe, kein Zeichen von Dalin. Er musste sich setzen. Er hatte keine Ahnung, welches böse Spiel da mit ihm gespielt wurde.
Schliesslich taumelte er benommen in die Kabine zurück und setzte sich auf das Bett.
Sein Blick fiel auf die fein säuberlich zusammengefaltete Decke, dann auf das Kissen auf Dalins Nachtlager und zu seinem Erstaunen sah er da einen grauen Umschlag liegen.
Augenblicklich griff er nach ihm und riss ihn auf.
Es war eindeutig Dalins Handschrift:
„Lieber Freund, ich weiss, das wirst du mir ewig nachtragen, aber ich musste etwas früher aufbrechen als geplant. Nicht, dass ich weit weg bin, aber diesen letzten Abschnitt wirst du ganz gut ohne mich schaffen. Wir treffen uns in einigen Tagen wieder. Du wirst alle Hilfe und Hinweise finden, die du benötigst. Habe persönlich dafür gesorgt.
Bis bald. Dalin“
Amiel starrte auf den Brief. Minuten verstrichen und er blieb stumm sitzen, ohne sich zu regen oder viel zu denken. Dann legte er den Brief zurück und ging an Deck.
Er überprüfte erneut die Geschwindigkeit und die Steuerung, dann setzte er sich schliesslich an den Tisch. Für einige Stunden sass er nur da, sah aufs Wasser hinaus, studierte die Karte und überlegte fieberhaft, wie er seinem Schicksal entkommen konnte. Er sah sich schon jämmerlich auf dieser Nussschale verdursten. Welche Route konnte er nehmen bis zum nächsten Festland? Welche Chance gab es, umzukehren? Er überprüfte das Wasser und die Vorräte. Die Lage war klar, es würde nicht länger als vier Tage reichen. Das Wasser war fast aufgebraucht.
Viele Stunden war er hin und her gerissen. Dies war zu viel für ihn. Er war allein und steuerte mit grosser Geschwindigkeit auf das weite Nichts zu. Irgendwann würde es zu spät sein, um umzukehren. Konnte er es wagen, noch ein, zwei Tage weiter südlich zu fahren? Und was, wenn keine Insel kommen würde? Welche Möglichkeiten würden ihm bleiben?
Er wusste es nicht. Auch nicht, als die Sonne hinter dem Horizont unterging, auch nicht, als die ersten Sterne am Himmel aufleuchteten. Er fühlte sich als Teil eines ungewöhnlichen Alptraumes und war schlicht unfähig, darauf zu reagieren.
Die Nacht über lag er wach, fiel jeweils nur minutenlang in einen unruhigen Schlaf und schreckte wieder auf. Wutentbrannt über diesen komischen, überirdischen Typ, der einfach verschwunden war, als es brenzlig wurde. Wie konnte er nur so wahnsinnig sein, sich auf solch eine Geschichte einzulassen? Dann aber dachte er über jedes kleinste Detail der letzten Tage nach und erschauderte über die ganze Unwirklichkeit der Ereignisse.
Das konnte alles gar nicht wahr sein!
Er tat auch am Morgen nichts. Rührte kein Essen an, kein Wasser, hielt nur die Geschwindigkeit bei und wartete. Stunde um Stunde starrte er auf den weiten, nichtssagenden Horizont und wollte mit jeder Minute mehr verzagen.
Seine Gedanken rätselten, suchten einen Ausweg aus der Misere. Er hatte noch den Funk und würde Hilfe rufen können. Dies war der einzige Grund, weshalb er noch immer den Kurs nach Süden hielt.
Dieser Tag war voll von schrecklicher Einsamkeit. Eine solch schmerzliche Trübsal hatte er lange Zeit nicht mehr durchlebt und sie zermürbte ihn.
Die Fröhlichkeit und Schönheit der letzten Tage war verschwunden.
Viele Male wollte er sich erheben, endlich zu diesem Steuerruder gehen und diesen bitteren Spass beenden. Viele Male wollte er das Funkgerät einschalten und Hilfe anfordern.
Aber er sass immer noch da, an derselben Stelle mit dem Blick auf den Horizont gerichtet.
Er erhofftet sich nichts mehr von dieser Reise, vielmehr war es ein Gefühl lähmender Sinnlosigkeit, die ihn davon abhielt, aufzustehen und die Sache in die Hand zu nehmen.
Er konnte sich keinen Reim auf diese Geschichte machen. Er hatte nicht die geringste Spur von einer Idee, wozu das alles gut sein sollte.
In dieser Dämmerung seines Verstandes liess er sich dahintreiben, in diesem Nichts seiner Selbst vergass er alles um sich herum und in der Belustigung über den eigenen Wahnsinn hätte er beinahe verpasst, dass weit in der Ferne, am hintersten und trügerischsten Ende des Horizontes ein erstes Strichlein Land auftauchte.
Er glaubte es nicht. Er weigerte sich, es zu glauben.
Als bestätigte es den Zustand des verzagten Selbstkritikers, regte sich auch nichts in ihm, als der dünne Strich sich zu einer klaren Struktur verhärtete, die sich deutlich aus der blauen Unendlichkeit heraushob.
Und noch Minuten später war sein Innerstes taub, bevor es langsam in sein Bewusstsein drang und einige Signale durch das Gewirr seiner Synapsen sendete.
Amiel sprang auf.
Land! Da war ohne Zweifel Land zu sehen! Hastig sprang er in die Kabine und wühlte in seinen Taschen, bis er schliesslich das Fernglas fand.
So stand er an Deck, nun mit rasendem Puls und ängstlicher Erleichterung, und beobachtete, wie langsam in weiter Ferne eine Insel sichtbar wurde.
Als es keinen Zweifel mehr gab, welches Abenteuer sich vor seinen Augen auftat, legte er das Fernglas beiseite und begann, das Schiff für die Ankunft vorzubereiten. Eine schwindelhafte Aufregung umfing sein Herz. Es zersprang schier in seiner Brust und hämmerte gegen alle Werte des Verstandes. Hier war sie, dieses wirren Rätsels Antwort, die sich in einer solch verrückten, einzigartigen Weise vor ihm auftat. Er wappnete sich für den Sprung ins Unbekannte.
„Ja, aber glauben Sie denn wirklich, Herr Professor“, fragte Peter, „andere Welten sind überall zu finden, und einfach nur so um die Ecke herum?“„Nichts ist wahrscheinlicher“, antwortete der Professor. Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie sorgfältig. Dabei murmelte er: „Ich frage mich wirklich, was sie ihnen eigentlich auf den Schulen beibringen.“
C.S. Lewis in „ Der König von Narnia“ (1950)