Читать книгу An die Ränder der Erde - Anna Gyger - Страница 8

Derefs Haus

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Sie betraten das Haus durch ein niedriges, hölzernes Eingangstor. Amiel stiess seinen Kopf am Türrahmen an und taumelte einen Moment. Die Menschen hier waren deutlich kleiner als seinesgleichen. Deref lachte laut auf.

Auch der Wohnraum war niedrig und sehr einfach ausgestattet. Ein Holztisch mit zwei Bänken, ein grosser Kachelofen, in welchem ein warmes Feuer loderte, eine halb abgetrennte Kochecke sowie einige Schränke. Im Raum stand noch einer dieser geflochtenen Schaukelstühle, die Amiel aus den Zeiten seiner Grossmutter kannte. Er war mit weichen Fellen bedeckt. In der hinteren Hausecke erblickte er einen Webstuhl und einige Kisten.

Aus der Küche kam eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm.

Sie lächelte, blickte jedoch etwas verunsichert zu Deref.

„Amiel, das ist meine Frau Lora. Lora, dies ist ein Wanderer auf der Reise nach Luun. Er kam mit dem Schiff. Ich lud ihn ein, bei uns zu übernachten.“

Lora grüsste Amiel nun herzlich und wies ihn an, er solle sich setzen.

Zwei weitere Kinder kamen in den Essraum und grüssten ihn.

„Ich habe vier Kinder“, meinte Deref, „der Älteste ist bereits fünfzehn Jahre alt und hilft derzeit bei seinem Onkel aus. Der arme Kerl ist krank geworden und benötigt Hilfe mit seinem Vieh."

Deref brachte die Fische in die Küche, wo Lora bereits dabei war, das Abendessen vorzubereiten.

Dann verschwand er, um sich zu waschen und umzuziehen.

Amiel sah sich noch einmal genauer um. Es gab offensichtlich noch keinen Strom. Auf den Tischen standen Kerzen, und bei Einbruch der Dämmerung hängte Lora eine Öllaterne vor das Fenster.

Lora kochte auf einem Herd, der noch mit Holz beheizt wurde. Das Wasser hatten sie in grossen Krügen gelagert und holten es wohl jeweils beim Dorfbrunnen, wo sich Deref gerade wusch.

Es wirkte auf Amiel genauso, wie er sich zu Lebzeiten seiner Urgrossmutter vorstellte.

Er fand das wirklich faszinierend.

Die Kleider waren selbstgewoben und bestanden aus einfachen Stoffen. Lora trug einen langen, leinenen Rock mit Strickjacke und einen Umhang aus Wolle um die Schultern.

Auch Amiel machte sich schliesslich frisch, und bald schon sass die ganze Familie am grossen Tisch zum Abendessen. Die Kerzen und das Feuer waren jetzt das einzige Licht, welches das Zimmer erhellte.

Sie assen Fisch mit Kartoffeln. Deref und Lora erzählten von ihren Kindern und dem Dorfleben. Anscheinend gab es der Nordküste entlang einige Fischerdörfer, im Süden vereinzelte Bauernhöfe. Bis zur nächsten Stadt Luun, Noers Hauptstadt, war es jedoch eine weite Strecke, durch eine wenig bewohnte Gegend.

„Die Menschen im Norden leben vom Fischfang. Das ist seit Generationen so. Im Garten pflanzen wir unser Gemüse, und jedes Dorf bewirtschaftet einige Getreidefelder. Einige halten Ziegen, Hühner und Schweine. Mehr braucht es nicht zum Leben“, erklärte Deref.

Lora räumte den Tisch ab. Dann brachten sie und Deref die Kinder zu Bett und setzten sich anschliessend mit Amiel an den Tisch.

„Ein Freund von Dalin bist du also“, sagte Lora und lächelte, „ein guter Mensch, dieser Dalin. Kommt immer mal wieder vorbei und erkundigt sich nach uns. Obwohl ich mich oft wundere über ihn. Er gibt nicht viel über seine Reisen preis.“

„In der Tat, ein seltsamer Vogel“, antwortete Amiel. „Das nächste Mal werde ich ihn nicht mehr so schnell entwischen lassen. Der Gute ist mir einige Antworten schuldig geblieben. Du glaubst also, ich finde ihn in Luun?“, fragte er Deref.

„Ja!“ Er sagte, dass er dich in den nächsten Tagen da treffe. Er wird dich schon finden.“

„Das hoffe ich“, erwiderte Amiel.

„Meinem Nachbarn habe ich bereits Bescheid gesagt. Er wird dich morgen früh in die Stadt mitnehmen.“

„Das ist sehr freundlich. Ich bin sehr dankbar für eure Gastfreundschaft und Unterstützung. Das ist ganz wundervoll!“

Er sah sich einen Moment nachdenklich um. „Würdest du mir von Noer erzählen? Ich würde gerne mehr über euer Volk und das Land erfahren.“

Deref nickte erfreut. „Das mache ich gerne.“

Während Lora Kaffee aufsetzte und süsses Weizengebäck auftischte, erzählte Deref von dem Leben hier am Meer. Amiel war beeindruckt von der Einfachheit ihres Lebens.

„Seit Urzeiten leben in Noer vier Völker. Wir, die Menschen am Meer, leben hier, an der nördlichen Küste. Wir geben unser Wissen über die Fischerei und den Bootsbau an unsere Kinder weiter. Davon leben wir. Unsere Kinder lernen, wie man sich hier an den windigen Küsten zurechtfindet und überlebt. Der Norden ist steinig und verwinkelt. Viehzucht ist nicht einfach hier und der Boden bringt nur mit viel Aufwand einen Ertrag hervor. Rau und windig ist unsere Heimat. Hier, wo der Duft des Meeres in der Luft liegt, da gehören wir hin. Mit den anderen Völkern haben wir eher wenig zu tun, weil alle hier für sich leben. Es gibt kaum Mischehen hier. Wir mögen es nicht, von unserem Land weg zu kommen. Aber wir treiben Handel untereinander. Wir liefern getrockneten Fisch, Schafswolle und verkaufen Schiffe. Weiter südlich leben nur wenige Menschen am Meer. Unser Nachbar, der dich morgen mitnehmen wird, fährt nach Luun zum Markt und verkauft unsere Waren. Das tun wir jede zweite Woche. Einmal im Monat gehen wir mit drei Pferdewagen nach Luun, doch morgen liefern wir nur Fisch. Luun ist unsere Hauptstadt. Sie gehörte zu dem Volk des Waldes. Die meisten Menschen Noers gehören zu ihrem Stamm. Ein quirliges Volk. Da unten gibt es viel Musik, Kunst und eine Menge Arbeit. Luun ist heute eine geschäftige Stadt, doch wir hören immer wieder von Streitereien und Machtspielen in den politischen Gefügen. Ich bin daran nicht interessiert und ziehe es vor, im einfacheren Teil des Landes zu leben. Hier ist es still und friedlich. Auch wenn ich mir manchmal Sorgen mache, wie lange es noch so weitergeht. Aber lassen wir das.“

Deref lehnte sich im Stuhl zurück.

„Um Luun herum gibt es hügeliges Land mit viel Wald und Weiden. Die Wälder sind tief und bergen einige Geheimnisse. Wir vom Meer finden uns da nicht gut zurecht. Es gibt eigenartige Tiere und Wesen da, wie man sich erzählt. Die Menschen, die da leben, sind Viehhirten und Holzfäller, haben viele Schafe und Kühe. Sie leben in Steinhäusern mit roten Ziegeldächern und verkaufen uns Holz, da hier nicht viele Bäume wachsen. Auch Käse und Fleisch kaufen wir von ihnen, wenn wir zu wenig davon haben. Ganz im Süden, am Rande der Berge, geht der Wald in hügeliges Grasland über. Da leben viele Bauern, die Obst und Gemüse anbauen. Aber vor allem wird Wein angebaut.“

Derefs Augen glänzten.

„Für uns ist der sehr teuer, da der Transport viele Tage in Anspruch nimmt. Doch manchmal können wir uns einige Krüge leisten. Ich würde gerne mal dahin reisen.

Gehst du weiter nach Süden, kommst du zu einer grossen Bergkette. Das Arin Gebirge. Nur ein einziger Pass führt über die hohen Gipfel. Das Bergvolk bewacht die Übergänge genau. Es ist keine einfache Angelegenheit, seit Unruhen im Lande sind. Ich war noch nie da und habe es auch nicht vor. Doch ich mag die Geschichten von den Schneestürmen. Hier bei uns gibt es fast nie Schnee.

Das Volk der Berge lebt von der Jagd. Man erzählt sich, sie halten gezähmte Adler, mit deren Hilfe sie jagen. Eine alte Tradition und Kunst, die sie ihren Söhnen weitergeben. Sie leben in Holzhäusern und halten Berghirsche als Vieh. Sie leben von deren Fleisch und handeln mit Fellen. Sie jagen auch Bären und Wölfe, deren Felle sie verkaufen. Sie schneidern Mäntel und Hosen und fertigen kostbare Schuhe daraus. In Luun treffen sich die Völker jeden Monat am grossen Markt. Da kommen sie mit ihrer Ware ins Tal herunter, was für sie eine fünftägige Reise bedeutet. Ausserdem sind sie Meister in Kräuterheilkunde. Viel Medizin wird von dem Bergvolk hergestellt. Sie verfügen über ein tiefes Wissen. Von der südlichen Seite der Berge weiss ich nicht viel. Nur sehr wenige bereisen den gefährlichen Pass. Was ich weiss ist, dass hinter den Bergen eine weite Wüste liegt. Eine karge Steinwüste. Da unten lebt ein kleines Volk von Beduinen. Sie reisen einmal im Jahr über die Berge an den Markt. Sonst hört man nicht viel von ihnen. Sie haben Kamelherden und Ziegen, von denen sie leben.

Kamelfelle sind sehr beliebt. Auch stellen sie Schmuck aus Steinen her. In den Felsen finden sie prächtige Edelsteine, die sie verkaufen. Ja, mein Guter, das ist unser Land. Natürlich müsste ich noch die Tiere erwähnen, die ich längst nicht alle beim Namen nennen kann.“

Damit begann er, Amiel von Noers eigenartiger Tierwelt zu erzählen. Von grossen Bären, die beinahe die Grösse eines Pferdes erreichen, und sich in den Wäldern herumtreiben. Von grünen Wildkatzen, die im Wald auf den Bäumen leben und manch rastendem Reisenden den Proviant geschickt entwenden. Er erzählte von den Grauvögeln, die in grossen Schwärmen sehr gefährlich sind und manchmal kleine Kinder raubten.

Er erzählte von den Rieseneidechsen des Moores, die Amiel nach Derefs Rede mehr an Drachen aus den Märchenbüchern erinnerten als an gewöhnliche Reptilien.

Deref kam richtig in Fahrt, und Amiel wurde langsam schläfrig und wünschte sich, Deref würde in absehbarer Zeit dasselbe empfinden.

Als Lora ihn sanft anstupste, erkannte Deref schliesslich, dass sich sein Gast wohl nach einem weichen Kissen sehnte.

„Oh, du siehst müde aus“, stellte er fest. „Ich zeige dir besser dein Bett. Schliesslich wird die Nacht für dich nicht allzu lange werden. Wenn der Hahn das erste Mal kräht, musst du aufstehen, denn noch vor dem Morgengrauen müsst ihr losfahren, um vor Einbruch der Dunkelheit in Luun zu sein.Doch eines will ich dich doch noch fragen, mein Freund. Weshalb bist du eigentlich hier? Wir haben hier nicht viele Fremde. Woher kommst du und was suchst du hier in Noer?“

„Ich weiss nicht genau“, antwortete Amiel. „Ich komme aus Europa, im hohen Norden.“ Lora und Deref blickten ihn nur mit verwirrtem, unverständlichen Blick an, und Amiel wusste sofort, dass es keinen Sinn machte, eine Erklärung dafür zu suchen, warum niemand von ihnen von der Existenz der Heimat des anderen wusste. Dalin war wohl der Einzige, der ihm dazu Rede und Antwort schuldig war.

„Ich bin erstens hier, weil dieser verrückte Dalin mich zu einem irren Segeltrip genötigt hat und zweitens bin ich hier, weil ich glaube, dass ich hier sein muss, um etwas zu finden, was irgendwie zu mir gehört, ich weiss nicht, warum und wozu. Ich glaube, ich suche eine Art Land. Ein Bild, einen Traum. Ich weiss es nicht.“

Deref sah ihn fragend an, aber Loras Augen begannen zu leuchten.

„Ein Land“, sprach sie in leisem Ton. „Dalins Gäste sind keine gewöhnlichen Reisenden, das sehe ich klar.“ Sie lächelte und ihr Ausdruck verriet, dass sie mehr wusste, als dass sie preisgab.

„Und nun komm, ich zeige dir dein Bett. Für Morgen habe ich dir einen Beutel mit Proviant bereitgestellt. Die Reise wird lang.“

Damit erhoben sich alle vom Tisch und gingen zu Bett.

Amiel lag trotz seiner Müdigkeit noch eine Weile wach und dachte über diesen doch so aussergewöhnlichen Tag nach. Noch immer war es ihm viel zu anstrengend, eine Erklärung oder Begründung für diese Ereignisse zu suchen. Er kapitulierte vor der Begrenzung seines Verstandes. Er gab sich diesem Abenteuer hin. Ganz alleine. Und doch fühlte er sich aufgehoben, so, als sei sein Weg längst vorbereitet.

Er wusste, dass er Dalin finden musste, wollte er in dieser Angelegenheit irgendwie weiterkommen.

Er dachte nur kurz an zu Hause. Sie würden ihn so schnell nicht vermissen. Diese Erkenntnis schmerzte ihn einen Augenblick. Dann gab sie ihm gleichzeitig neuen Mut. Er war also frei. Frei, der Welt für einige Zeit den Rücken zu kehren und auszusteigen aus dem gewohnten Trott. Es musste mehr vom Leben geben als das, was er jetzt so leicht hinter sich lassen konnte.

Eine Heimat musste mehr sein als ein hübsches Dörfchen mit guten Kontakten.

Etwas brannte in seinem Herzen.

Eine neue Sehnsucht.

Und dann war er auf einmal dankbar und unbekümmert.

So schlief er ein.

Die Welt ist im Wandel. Ich spüre es im Wasser. Ich spüre es in der Erde. Ich rieche es in der Luft. Vieles, was einst war, ist verloren, da niemand mehr lebt, der sich erinnert.“

Galadriel in „Der Herr der Ringe“ (2001)

An die Ränder der Erde

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