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Kapitel 6: Der Smaragd des Regens

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„Das ist sie also. Ich habe seit fünfundzwanzig Jahren keine Chi Chis mehr gesehen.“

Veronica, die noch immer auf dem Erdboden saß, spürte, wie die schwere Kreatur, die sie auf dem Rücken getragen hatte, von ihr herunterglitt. Als sie aber der Gestalt ins Gesicht sah, sprang sie so schnell wieder auf die Beine, wie sie vorhin zu Boden gestürzt war. Denn die Kreatur, die jetzt ihre dicke Hand nach der alten Frau neben sich ausstreckte, hatte das hässlichste Gesicht, das Veronica jemals unter die Augen gekommen war.

Die Frau nahm die ausgestreckte Hand der Kreatur in ihre und hielt sie, als wäre diese ein Kind. „Du brauchst keine Angst vor Tico zu haben“, sagte sie mit einer jung klingenden Stimme, die im Gegensatz zu ihrem sehr runzligen Gesicht stand. „Er ist nur ein verspielter Schimpanse.“

Als hätte das Ungeheuer diese Worte verstanden, begann es heftig zu nicken. Dabei verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, das zwei Reihen gelblicher Zähne entblößte.

Die Alte, deren schneeweiße Haare ihr bis zur Taille reichten, musterte Veronica von Kopf bis Fuß. „Die letzten Chi Chis, die ich gesehen habe, waren bei Weitem nicht so blass wie sie.“ Sie streckte ihre sonnengebräunte runzlige Hand aus und nahm eine Haarsträhne von Veronica zwischen die Finger. „Und solche gelben Haare habe ich schon lange, lange nicht mehr gesehen. Denn die letzten Chi Chis waren dunkelhaarig. Aber in meinen Zwanzigern sind mir schon ein paar mit solchen hellen Haaren begegnet. Ich kann mich noch sehr deutlich an sie erinnern.“

Sie ließ Veronicas Haarsträhne los und musterte sie weiter. Veronica hatte bisher noch nie erlebt, dass ihre Haarfarbe, die ihr vollkommen normal erschien, so viel Aufsehen erregte. Sie mochte ihre hellen langen Haare und ihren glatten Pony, doch jetzt wünschte sie sich, sie würde eine große Mütze tragen, um ihr Haar darunter zu verstecken.

„Wir werden sagen, dass sie sich die Haare mit Zitronensaft gefärbt hat“, entschied die Frau.

„Mit viel Zitronensaft“, fügte der Hund hinzu.

„Das ist gar nicht so verkehrt“, sagte die Katze. „Wir werden sagen, sie kommt aus der Nordstadt, da sind die Leute alle etwas seltsam. Und schaut euch diese Jungs an, die jedes Wochenende am Strand Musik machen, die aus dieser Musikgruppe, wie heißt sie noch mal? Die Haie des Ozeans, oder? Sie haben alle seltsame Haarfarben ... und keiner wundert sich mehr ... einer hat sogar blaue Haare.“

Veronica hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon die Katze sprach. Am meisten interessierte sie aber, warum die Alte sie eine Chi Chi genannt hatte. Doch als sie sich nach der Bedeutung dieses Wortes erkundigen wollte, wandte sich die Frau an den Hund: „Ricky, du hast gesagt, ihr habt das Boot im Wasser zurückgelassen. Schaust du bitte, ob der Junge noch am Strand rumläuft? Wir müssen das Boot so schnell wie möglich aus dem Wasser ziehen, bevor die Wellen es fortspülen.“

Auf ihre Worte hin drehte sich der Hund um und betrat das Haus. Veronica vermutete, dass er aus einem Fenster, das zum Strand hinausging, schauen wollte.

Der Schimpanse, der bis dahin die Hand der Alten gehalten hatte, löste sich nun von ihr und rannte zu den zwei Palmen hinüber, die auf der linken Seite des Gartens wuchsen und zwischen denen die Hängematte gespannt war. Vor einer Palme blieb er stehen und begann sie hochzuklettern. Als er oben ankam, bemerkte Veronica, dass es eine Bananenpalme war. Unter ihren langen Blättern beherbergte die Palme mehrere Büschel grüngelber Bananen. Geschwind kletterte der Schimpanse wieder herunter und kam mit zwei Bananen auf Veronica zu. Mit einem breiten Grinsen streckte er ihr eine Banane entgegen.

„Tico ist ein freundlicher Gastgeber“, sagte die Frau und deutete ihr mit einem Kopfnicken an, das Geschenk anzunehmen.

Veronica, die ihre erste Begegnung mit dem Schimpansen noch nicht richtig verkraftet hatte, lag es auf der Zunge zu sagen, dass sie Ticos Empfang von vorhin, als er auf ihren Rücken gesprungen war, nicht wirklich als freundlich bezeichnen würde. Aber da sie nicht unhöflich sein wollte, schwieg sie und nahm die Banane entgegen. Der Schimpanse behielt die andere Banane, aß sie jedoch nicht, sondern starrte Veronica unbewegt an.

„Er wird seine Banane erst dann essen, wenn du auch deine isst“, sagte die Katze. „Tu ihm bitte diesen Gefallen, sonst wird er dir nicht von der Seite weichen.“

Veronica schälte ihre Banane und biss ein Stück ab. Noch nie zuvor hatte sie eine solch süße und aromatische Frucht gegessen. Sie ließ sich überhaupt nicht mit den Bananen von zu Hause vergleichen. Der Schimpanse begann nun auch seine Banane mit seinen dicken Fingern zu schälen und schlang sie im Nu herunter.

Im gleichen Augenblick stürmte der Hund aus dem Haus. „Der Junge ist weg! Wir können los!“

„Einen Moment, Ricky“, sagte die Alte. „Falls wir unterwegs jemandem begegnen, muss Veronica sich vorher umziehen.“

Veronica sah an sich hinab. Was stimmte denn nicht mit ihrer Kleidung? Sie entdeckte weder auf ihrem grünen Oberteil noch auf ihrer weißen Hose irgendeinen Fleck.

„Ja, natürlich“, sagte der Hund an Veronica gewandt. „Du trägst heute Grün, aber das war bei uns gestern. Heute ist Tag Blau.“

„In eurer Welt ist es anders“, erklärte die Katze. „Ihr habt nur sieben Tage in der Woche und jeder Tag trägt einen nichtssagenden Namen. Unsere Woche besteht aber aus neun Tagen und jeder Tag trägt den Namen einer Farbe. Heute ist Tag Blau, gestern war Tag Grün und morgen ist Tag Lila.“

Veronica dachte, dass heute eigentlich Montag war, doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr die Katze fort: „Außerdem besagt unsere Tradition, dass wir jeden Tag Kleidung in der Farbe des jeweiligen Tages tragen sollen.“

In der Tat trug auch die alte Frau ein bodenlanges blaues Kleid, fiel nun Veronica auf. Und die Schleife um den Hals der Katze war ebenfalls blau.

„Ein blaues T-Shirt habe ich bestimmt in meinem Koffer“, sagte sie, denn sie wollte die Traditionen dieses fremden Landes nicht verletzen. „Aber ich glaube nicht, dass ich blaue Hosen dabei habe.“

„Das macht nichts“, sagte die Alte, „denn du trägst eine weiße Hose. Weiß und Schwarz sind bei uns keine Farben und können deshalb jeden Tag getragen werden, wenn sie mit der Farbe des jeweiligen Tages kombiniert werden. Du kannst deinen Koffer ins Haus tragen und dich dort umziehen. Wir warten hier auf dich.“

Veronica lief zu der Stelle, wo sie ihren Koffer abgestellt hatte, und zog ihn hinter sich her Richtung Haus. Als sie auf der Veranda angekommen war, schob sie die angelehnte Haustür auf und trat ein. Sie befand sich im Wohnzimmer. Die Wand ihr gegenüber bestand nur aus Glas, von oben bis unten, von rechts nach links, und bot einen atemberaubenden Blick auf das tiefblaue Meer, das sich vor dem Haus erstreckte. Schnell durchquerte sie das Zimmer und blieb vor der großen Glasscheibe stehen. Jetzt konnte sie auch die kleine Bucht sehen sowie die hohen Felsen, die diese zu beiden Seiten begrenzten. Der Anblick des weiten Meeres verschlug ihr den Atem. Was würde sie darum geben, in einem solchen Haus zu wohnen! Sie kehrte zu ihrem Koffer zurück und stöberte darin herum, bis sie ein blaues T-Shirt entdeckte. Sie zog es an und ging wieder hinaus.

„Fertig? Dann mal los. Tico, du bleibst hier“, sagte die Alte und lief aus dem Garten hinaus.

In wenigen Minuten gelangten sie an den Strand. Der Sand war so weich, dass Veronica Schwierigkeiten hatte, mit ihren Sandalen darüber zu laufen, denn sie sank bei jedem Schritt tief ein. Eine leichte Brise wehte durch ihre Haare und sie konnte die salzige Luft riechen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel und keine einzige Wolke bedeckte den hellblauen Himmel.

Sie erreichte als Letzte die Felsen und zwängte sich durch einen schmalen Spalt hindurch. Kurz darauf stand sie auf einem flachen Felsen und erkannte, dass es der gleiche war, auf den sie aus dem Boot hinaufgeklettert war. Neben ihr standen die Frau, der Hund und die Katze und blickten hinunter zum Wasser auf die Stelle, wo sie das kleine Boot zurückgelassen hatten. Doch vom Boot war weit und breit keine Spur zu sehen.

„Eigentlich ist das Meer heute ziemlich ruhig“, sagte die Alte, „es hätte das Boot in so kurzer Zeit nicht so weit hinaustreiben können, dass wir es nicht mehr sehen können.“

„Es war der Junge!“, rief der Hund. „Ich wette, er hat das Boot aus dem Wasser gezogen und mitgenommen!“

Auf der runzligen Stirn der Frau erschienen plötzlich noch mehr Falten. „Das gefällt mir nicht. Als mir das Boot anvertraut wurde, hatte ich versprochen, dass es nie in fremde Hände gelangen würde. Wenn jemand entdeckt, dass es sich dabei um ein magisches Boot handelt, kann das großes Chaos auf der Insel verursachen.“

„Wenn wir nur wüssten, wer dieser Junge ist und wo er wohnt“, seufzte der Hund. „Kennst du ihn nicht, Quioni? Hast du ihn vorhin vom Haus aus nicht gesehen?“

„Ich habe nicht aus dem Fenster geschaut, denn ich bin erst vor kurzem nach Hause gekommen. Nach der Arbeit musste ich noch ein paar Besorgungen machen.“

„Sie gehen arbeiten?“, wunderte sich Veronica, die sich erinnerte, dass Lidias Ururoma hundertvierzig Jahre alt war.

„Natürlich gehe ich arbeiten.“

„Meine Omi ist Lehrerin an einer Schule. Sie unterrichtet Astronomie“, erklärte die Katze.

„Es gibt hier eine Schule?“, fragte Veronica verdutzt.

„In unserer Stadt gibt es vier Schulen“, erwiderte die Frau. „Wo wir jetzt davon sprechen ... ich habe zwar vorhin nicht aus dem Fenster geschaut, aber in den letzten Wochen ist mir aufgefallen, dass sich ein Junge mit schulterlangen Haaren hin und wieder allein in unserer Bucht aufhält ... und immer schreibt er etwas auf ein Blatt Papier.“

„Das ist er!“, rief der Hund. „Das ist der Junge, den wir heute gesehen haben!“

„In der Tat? Na dann, den kenne ich. Er ist einer meiner Schüler und geht gerade in die sechste Klasse.“

„Weißt du, wo er wohnt, Omi?“, fragte die Katze.

„Seine Eltern betreiben ein Restaurant am Goldenen Strand – das ist der Strand, der sich hinter diesen Felsen erstreckt“, erklärte die Frau Veronica. „Das Restaurant heißt Meeresschnecke. Und soweit ich weiß, wohnt die ganze Familie in der Wohnung über dem Restaurant.“

„Das Restaurant kennen wir“, sagte der Hund. „Lidia und ich laufen oft daran vorbei, wenn wir am Goldenen Strand spazieren gehen.“

Die Alte überlegte kurz. Dann sagte sie an Veronica gewandt: „Ich schlage vor, du gehst jetzt dahin und läufst in der Nähe des Restaurants herum, bis du diesen Jungen erblickst. Wenn du ihn siehst, erzählst du ihm, dass du dein Spielzeug verloren hast, und da du ihn vorhin hier am Strand gesehen hast, vermutest du, er hätte es mitgenommen. Du sagst, du hättest das Spielzeug aus Versehen ins Wasser fallen lassen, und wenn er dich fragt, warum du vor ihm weggelaufen bist, sagst du, du musstest mal schnell für kleine Mädchen. Du erzählst, du bist hier zu Besuch, kommst aus der Nordstadt und wohnst hier bei einer Bekannten. Wenn er dich fragt, warum deine Haut so blass ist, sagst du, dass du in den letzten Monaten an einer schweren Krankheit gelitten hast und das Haus nicht verlassen durftest. Übrigens erzählst du das jedem, der dich darauf anspricht.“

„Mal schauen, ob er ihr das abnimmt“, sagte der Hund. „Hoffentlich kommt er nicht auf den Gedanken, dass sie eine Chi Chi ist. Denn dann könnte sich die Nachricht in Sekundenschnelle verbreiten und die Leute würden sich von ihr fernhalten.“

„Was ist denn eine Chi Chi?“, fragte Veronica.

„So nennen wir die Menschen, die nicht von unserer Insel stammen“, antwortete die Katze. „Menschen aus deiner Welt.“

„Und warum haltet ihr euch von ihnen fern?“

„Weil wir in der Vergangenheit nicht immer gute Erfahrungen mit ihnen gemacht haben.“

„Wobei ich immer behauptet habe“, fügte die Alte hinzu, „dass dies nur auf Vorurteilen beruht. Die letzten Chi Chis, die vor fünfundzwanzig Jahren zu uns gelangt sind, waren nette, friedliche Menschen. Schade, dass sie so kurz nach ihrer Ankunft gestorben sind.“

„Wie waren sie denn auf die Insel gekommen?“, erkundigte sich Veronica.

„Sie erlitten Schiffbruch. Waren so krank, dass sie nach kurzer Zeit starben. Unsere Insel ist zwar auf keiner Karte eingezeichnet, denn wir sind vom Rest der Welt abgeschnitten, aber hin und wieder gelangen einige Menschen aus der Außenwelt zu uns. Wie das geschieht, ist uns ein Rätsel. Denn soweit wir wissen, verfügen die Menschen aus deiner Welt über keine magischen Kräfte.“

„Jedenfalls waren uns nicht alle freundlich gesinnt“, fuhr die Katze fort. „Die meisten von ihnen wollten Kriege zwischen unseren vier Städten anzetteln, sie wollten uns und unser Leben verändern. Aber wir sind sehr zufrieden mit unserem ruhigen Leben und waren schon immer ein friedliches Volk. Natürlich habe ich das alles nicht aus erster Hand erlebt, denn das spielte sich vor vielen Jahren ab, aber wir haben darüber im Geschichtsunterricht gelernt.“

„Veronica, ich glaube, du solltest schon mal aufbrechen und nach dem Jungen suchen“, sagte die Frau. „Wir wissen nicht, was dieser mit dem Boot vorhat. Hoffentlich fügt er ihm keinen Schaden zu. Ricky, Lidia, ihr begleitet sie und passt auf sie auf. Ich warte auf euch oben am Haus.“

Damit drehte sich die Alte um und ging durch den schmalen Felsspalt zurück zum Strand. Der Hund und die Katze wandten sich in die andere Richtung und nahmen einen schmalen Pfad, der sich zwischen den Felsen hindurchschlängelte. Veronica folgte ihnen. An einigen Stellen wurde der Pfad so eng, dass sie sich zur Seite drehen und den Bauch einziehen musste, um hindurchzukommen. An anderen Stellen mussten sie über Felsen klettern, die zum größten Teil so glitschig waren, dass sie alle paar Sekunden ausrutschten.

„Das ist der kürzere Weg zum Goldenen Strand“, rief ihr der Hund zu. „Es gibt einen angenehmeren Weg, aber der führt über den Hügel, und diesen wieder hochzulaufen, würde zu lange dauern.“

Nach etwa fünf Minuten ließen sie die Felsen hinter sich. Ein kilometerlanger goldfarbener Sandstrand, dessen Ende Veronica nicht erkennen konnte, erstreckte sich vor ihnen. Zu einer Seite lag das unendliche Meer, dessen kleine Wellen sich in weißem Schaum kurz vor dem Strand brachen. Auf der anderen Seite erstreckte sich eine endlos lange Promenade, die von Palmen gesäumt war. Viele Menschen liefen an der Promenade entlang, und Veronica fiel auf, dass sie alle eine sonnengebräunte Haut und dunkle Haare hatten. Und alle trugen blaue Kleidung, hier und da mit einem weißen oder schwarzen Kleidungsstück kombiniert. Der Strand war nicht so überfüllt wie die Promenade, aber auch hier trugen die Menschen, die sich im Sand sonnten, blaue Badeanzüge. Sogar die Decken, auf denen sie lagen, waren blau.

Veronica, die das Laufen durch den weichen Sand anstrengend fand, zog ihre Sandalen aus und trug sie in der Hand. Einige Menschen schwammen im Meer und etwas weiter vom Ufer entfernt waren zwei Ruderboote zu sehen.

„Bootstaxis“, sagte die Katze, die Veronicas Blick gefolgt war. „Ein bisschen weiter vorne befindet sich die Haltestelle. Mit diesen Taxis kann man zu den anderen Orten der Insel fahren. Aber sie sind sehr teuer. Am besten nimmt man ein Kutschentaxi, wenn man die Insel bereisen will.“

„Kutschentaxis? Werden sie von Pferden gezogen?“

„Natürlich.“

„Gibt es hier denn keine Autos? Oder Busse?“

„Wir haben keinen Treibstoff. Also können wir auch keine Kraftfahrzeuge fahren.“

„Sprich nicht so laut, Lidia“, ermahnte der Hund sie. „Und Veronica, wenn du mit uns sprichst, versuch die Lippen nur ganz wenig zu bewegen. Für die Menschen um uns herum sind wir nur gewöhnliche Haustiere.“

„Entschuldigung“, sagte Veronica und bewegte dabei kaum die Lippen. „Aber weiß denn keiner, dass ihr in Wirklichkeit keine Tiere seid?“

„Nur unsere Familie weiß das. Aber außer Quioni haben wir hier in der Südstadt keine weitere Familie. Unsere Eltern und Verwandten leben alle in der Nordstadt, wo wir herkommen.“

„Als die Tragödie mit unserer Verwandlung passierte“, flüsterte die Katze, während sie am Wasser entlangliefen, „haben unsere Familien alles Mögliche versucht, um uns wieder in Menschen zurückzuverwandeln. Es gelang ihnen natürlich nicht, sie hatten genauso wie wir ihre magischen Kräfte verloren. Irgendwann gaben sie auf und begannen uns zu bemitleiden. Wir konnten ihre mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen und zogen zu meiner Ururoma hierher. Inzwischen leben wir seit vierzehn Jahren in der Südstadt. Wenn meine Omi Besuch hat, behauptet sie, dass wir ihre Haustiere seien. Würden wir in der Gegenwart anderer Menschen sprechen, würden diese einen großen Schreck bekommen, denn auch bei uns sprechen Tiere nicht.“

„Aber wissen eure Mitmenschen denn nicht, was vor fünfzehn Jahren geschehen ist? Dass ihr von Estelle in Tiere verwandelt wurdet?“

„Natürlich wissen alle darüber Bescheid“, antwortete der Hund. „Das Ereignis ist schon in den neuen Geschichtsbüchern eingetragen. Aber die Leute wissen nicht, dass wir es sind. Auf Marismera haben wir keine Fernseher und keine Radios, die Nachrichten erscheinen nur in Zeitungen. Es gibt vier große Zeitungen auf Marismera, eine für jede der vier Städte. Unsere Familien haben damals ein kleines Vermögen an die Herausgeber aller vier Zeitungen gezahlt, damit diese unsere Namen nicht veröffentlichen. Es wurde ausgiebig über das Ereignis berichtet, aber unsere Namen und Fotos erschienen in keiner der vier Zeitungen. Und nach einer Weile ließ das Interesse an uns nach, alle waren viel mehr über den Verlust ihrer magischen Kräfte besorgt. Alle wissen, dass zwei Menschen, die kurz davor standen, zu heiraten, von Estelle in einen Hund und eine Katze verwandelt wurden, aber niemand außer unseren Familien weiß, um welche zwei Menschen es sich dabei handelte.“

Der Hund verstummte, als sie an einem kleinen Jungen vorbeikamen, der im Sand spielte. Nach ein paar Schritten fiel Veronica auf, dass der Junge ihr folgte. Sie beschleunigte ihre Schritte, doch er holte sie ein.

„Was ist denn mit deinen Haaren los?“, fragte er und stellte sich ihr in den Weg. Er konnte nicht älter sein als fünf, schätzte Veronica.

Sie zögerte kurz, bevor sie antwortete: „Ich hab sie mit Zitronensaft gefärbt.“

Der Junge schien kurz nachzudenken. „Wie viel Zitronensaft denn?“

„Einen Liter.“

„Nur Zitronensaft?“

„Ich hab auch ein bisschen Ananas- und Bananensaftkonzentrat hinzugefügt.“

„Okay, danke!“ Damit flitzte er in Richtung Promenade davon.

Veronica schaute zu der Katze und dem Hund hinunter. „Er hat es mir abgenommen.“

„Na ja, Kinder eben ...“, murmelte der Hund.

„Da, siehst du’s?“, sagte die Katze. „Da ist das Restaurant!“

Etwa zweihundert Meter vor ihnen erhob sich ein einstöckiges, rot gestrichenes Gebäude. Als sie ihm näher kamen, erkannte Veronica, dass das Restaurant auch eine große Terrasse mit Meerblick hatte. Das Gebäude lag auf der rechten Seite des Strandes und einige der Palmen, die hinter ihm wuchsen, spendeten ihm Schatten. Unmittelbar dahinter lag die Promenade. Über der Eingangstür des Restaurants hing ein purpurrotes Schild. Meeresschnecke stand da in leuchtend gelben Buchstaben. Um die Inschrift herum waren mehrere kleine, goldene Meeresschnecken abgebildet.

Auf der Terrasse saßen nur ein Mann und eine Frau an einem Tisch und nippten an ihren Getränken.

„Die Mittagszeit ist schon vorbei“, sagte der Hund. „Am Nachmittag gehen nicht viele Leute ins Restaurant.“

Sie liefen an der Terrasse vorbei und gingen auf ein großes Fenster seitlich des Gebäudes zu. Das Fenster reichte bis zum Boden, sodass auch der Hund und die Katze hineinspähen konnten. Im Inneren des Restaurants saßen auch keine Gäste. Ein Mädchen, das nicht älter zu sein schien als Veronica, wischte mit einem Lappen die Tische ab. Als es sich zu einem anderen Tisch wandte, konnte Veronica für einen kurzen Augenblick sein Gesicht sehen – das Mädchen hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Jungen, den sie suchten. Ihre Haare waren ebenfalls schwarz und lockig, jedoch etwas länger. In dem Augenblick, in dem Veronica ihre Entdeckung dem Hund und der Katze mitteilen wollte, schoss unter ihrem T-Shirt ein hellgrüner Blitz hervor, der auf das Mädchen im Inneren des Restaurants zielte.

Veronica wich vom Fenster zurück. Sofort erlosch der Lichtblitz unter ihrem T-Shirt.

„Der Findesmaragd!“, rief der Hund. „Der Blitz ist von ihm ausgegangen!“

Veronica schob die Hand unter ihr T-Shirt und zog den sternförmigen Smaragd hervor. Er leuchtete nicht mehr, aber die Ziffer 2 in der zweiten Zacke von rechts war verschwunden. Sie kniete sich hin und zeigte es dem Hund und der Katze.

„Wir haben den Smaragd Nummer 2 gefunden!“, rief die Katze.

„Aber wie –?“, begann Veronica, doch der Hund schnitt ihr das Wort ab.

„Der Blitz hat genau auf den Hals des Mädchens da drin gezielt. Habt ihr gesehen, was sie um den Hals trägt?“

Veronica und die Katze schüttelten die Köpfe.

„An einer Kette um ihren Hals“, sprach der Hund aufgeregt, „hängt ein kleiner grüner Stein, der wie ein Wassertropfen geformt ist. Der Smaragd des Regens!“

„Ich dachte, die Smaragde seien im Erdboden versteckt“, sagte die Katze.

„Dasselbe dachte ich auch“, sagte der Hund, „und vielleicht sind es die anderen ja auch. Oder dieser war früher auch im Boden versteckt und dieses Mädchen hat ihn gefunden.“

„Und wie kommt er nun in unseren Besitz?“, fragte die Katze.

„Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf“, entgegnete der Hund. „Da starren einige Leute von der Promenade auf uns, kommt hier entlang!“

Sie stahlen sich an dem großen Fenster vorbei und versteckten sich unter den breiten Blättern einer niedrigen Palme, die hinter dem Restaurant wuchs. Die Promenade lag direkt hinter ihnen, aber die Palmblätter boten ihnen Schutz vor neugierigen Blicken. Aus dem hinteren Teil des Restaurants drangen Stimmen zu ihnen und Veronica fiel auf, dass das Gebäude eine Hintertür hatte, die leicht angelehnt war. Die Stimmen kamen aus dem Raum dahinter. Der Hund ging auf die Tür zu und spähte hinein. Veronica und die Katze folgten ihm.

Durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür erkannte Veronica, dass der Raum dahinter eine Küche war. Inmitten des Raumes befand sich ein großer Tisch, um den vier Personen herumstanden. Sie erkannte den Jungen sofort, obwohl er mit dem Rücken zu ihr stand. Er trug dieselben Kleider wie vorhin in der kleinen Bucht. Neben ihm standen zwei Erwachsene – eine Frau und ein Mann – sowie ein Mädchen mit langen Haaren, das einige Jahre älter zu sein schien als das Mädchen, das Veronica soeben gesehen hatte. Sie konnte die drei Personen neben dem Jungen von der Seite sehen und fand, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm hatten. Sie vermutete, dass die zwei Erwachsenen seine Eltern waren und das Mädchen seine ältere Schwester. Und das jüngere Mädchen, das im anderen Raum des Restaurants die Tische abwischte, gehörte vermutlich auch zur Familie.

Veronica fiel auf, dass die vier Personen auf etwas starrten, das vor ihnen auf dem Tisch lag. Als sie den Gegenstand erkannte, klappte ihr der Mund auf.

Marismera

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