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Kapitel 4: Die Reise nach Marismera
Оглавление„Der Smaragd hat deine Haut nicht verbrannt. Dadurch hat er seine Zustimmung gegeben, dass du uns begleiten darfst. Du bist in der Lage, seine Kraft zu benutzen und uns dabei zu helfen, unsere magischen Kräfte wiederzuerlangen. Damit hilfst du nicht nur uns zwei, sondern allen unseren Mitmenschen.“
Veronica sah die Katze an. „Ich verstehe trotzdem nicht, wie ich euch von Nutzen sein kann.“
„Das liegt daran, dass du noch nicht alles weißt“, ergriff der Hund das Wort. „Dieser Stein ist nicht der einzige Smaragd, den du benutzen müsstest, um uns zu helfen. Er ist nur ein kleiner Teil des Ganzen; dies ist der Smaragd Nummer 3 – der Findesmaragd.“
Veronica blickte den Smaragd an, der um ihren Hals hing. „Der Findesmaragd?“
„Es gibt insgesamt neun solcher Smaragdsteine“, erklärte der Hund. „Mithilfe des Findesmaragdes bist du in der Lage, die weiteren acht Smaragde ausfindig zu machen. Wenn du sie gefunden hast, musst du sie alle in einen magischen Seestern einsetzen, der sich in unserem Besitz befindet. Der Seestern ist wie der Findesmaragd neunzackig, und in jeder seiner neun Arme befindet sich eine kleine Vertiefung. Erst wenn du alle neun Smaragde in die entsprechenden neun Vertiefungen des Seesterns eingesetzt und diesen ins Meer geworfen hast, kehren unsere Kräfte zurück. Erst dann können wir uns wieder in Menschen zurückverwandeln.“
„Wo sind die anderen acht Smaragde jetzt?“, fragte Veronica.
„Sie sind überall auf der Insel verstreut“, antwortete der Hund, „und leider sehr gut versteckt. Wir haben lange nach ihnen gesucht, aber den auferlegten Zauberbann kann nur eine Person lösen, die nicht aus Marismera stammt, eine reine Seele hat und das Meer über alles liebt. Nur so eine Person kann die Smaragde finden. Mithilfe des Findesmaragdes.“
„Wer hat denn diesen Zauberbann ausgesprochen?“
„Der Geist der Insel. Unser Volk hat seit vielen hundert Jahren einen Geist, der über uns wacht.“
„Ihr nehmt mich auf den Arm!“
„Überhaupt nicht. Unser Geist ist eine Meerjungfrau und lebt unter Wasser.“
„Sie heißt Marimer und ist unsterblich“, fügte die Katze hinzu.
„Marimer ist ein guter Geist“, fuhr der Hund fort. „Sie war diejenige, die vor vielen Jahrhunderten das Lebensbuch verfasste und unserem Volk magische Kräfte schenkte. Sie stellte die Bedingung, dass wir unsere Kräfte niemals negativ einsetzen, und sagte, dass wir diese für immer verlieren, wenn die neunundneunzigste Person auf der Insel gegen dieses Gebot verstößt.“
„Aber dank meiner Ururoma“, ergänzte die Katze, „die eine besondere Beziehung zu unserem Geist hat, haben wir nun die Möglichkeit, durch dich und diesen Findesmaragd unsere Zauberkräfte zurückzuerlangen. Meine Ururomi ist hundertvierzig Jahre alt und hat Marimer jahrelang angefleht, unserem Volk eine zweite Chance zu geben.“
„Hundertvierzig?!“, wunderte sich Veronica.
„Auf unserer Insel werden die Menschen im Durchschnitt hundertfünfzig. Wenn sie natürlich nicht früher an Krankheiten oder durch Tierangriffe sterben. Was leider in den letzten Jahren öfter der Fall war, da wir uns ohne unsere Zauberkräfte nicht mehr so leicht dagegen wehren können.“
„Lidias Ururoma“, sagte der Hund, „ist eine weise Frau. Vier Jahre lang hat sie Marimer angefleht, uns eine Chance zu geben, unsere menschlichen Körper zurückzuerlangen. Ihre Gebete wurden schließlich erhört und eines Tages kam sie mit einem kleinen magischen Boot, dem Findesmaragd, dem magischen Seestern und der Wörterbuchflasche nach Hause. Sie erzählte uns, Marimer habe sich ihr gezeigt und ihr diese vier Gegenstände geschenkt. Mithilfe des magischen Bootes würden wir außerhalb Marismeras reisen können und nach einer Person suchen, die den Findesmaragd tragen konnte, ohne dass ihre Haut dabei brannte. Wenn diese Person einwilligte, uns zu begleiten, und sie die weiteren acht Smaragde finden würde, würden alle Menschen in unserem Land wieder über Zauberkräfte verfügen.“
Veronica schwieg kurz. „Was ist denn eine Wörterbuchflasche?“, fragte sie dann.
„Das ist eine Flasche, die ein grünes Pulver enthält, das bewirkt, dass die Menschen außerhalb von Marismera unsere Sprache verstehen und sprechen können“, erklärte der Hund. „Wir haben eine eigene Sprache, die ganz anders ist als alle anderen Sprachen in deiner Welt. Als wir vorhin einen Teil des Inhalts der Wörterbuchflasche über den Bootsrand gekippt haben, hast du ein wenig davon abbekommen. Deshalb kannst du uns nun verstehen und unsere Sprache sprechen.“
„Ich spreche doch immer noch Deutsch, meine Muttersprache. Und ihr sprecht auch meine Sprache!“
„So kommt es dir vor, denn die Magie der Wörterbuchflasche ist sehr stark. In deinem Kopf sprichst du immer noch deine Muttersprache, aber die Wörter, die herauskommen, sind auf Marismerisch. Auch wir sprechen Marismerisch, das Pulver übersetzt unsere Worte für dich und du empfängst sie in deiner Muttersprache. Sonst würden wir uns nicht verständigen können.“
„Liebst du das Meer?“, fragte die Katze sie.
Veronica dachte an all die wunderschönen Urlaube, die sie früher mit ihrer Familie am Meer verbracht hatte, und daran, wie sehr es wehtat, dass sie dieses Jahr nicht in die Nähe des Meeres gelangen würde. „Sehr“, antwortete sie.
„Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum der Findesmaragd dich nicht abgelehnt hat. Und verrätst du uns nun auch deinen Namen?“
Sie sagte ihn ihnen.
„Wir brauchen dich, Veronica“, sprach der Hund. „Seit elf Jahren suchen wir außerhalb Marismeras nach einem geeigneten Menschen. Aber entweder flohen die Menschen vor uns, als sie uns im fliegenden Boot kommen sahen, oder in den wenigen Fällen, in denen sie sich auf ein Gespräch mit uns einließen und sich den Findesmaragd um den Hals hängten, verbrannte dieser ihre Haut und sie mussten ihn sofort wieder ablegen. Sie waren nicht dazu geeignet, uns zu helfen. Nun haben wir dich endlich gefunden.“
„Wir bitten dich, uns nach Marismera zu begleiten“, sagte die Katze. „Mit unserem Boot kommen wir schnell und sicher dorthin.“
„Aber euer Boot ist winzig! Da passe ich gar nicht hinein.“
Kaum hatte Veronica dies gesagt, lief der Hund zum Boot und sprang hinein. „Nicht alles, was wie ein winziges Boot aussieht, ist auch ein winziges Boot“, rief er und zwinkerte Veronica zu.
Es war das erste Mal, dass ihr ein Hund zuzwinkerte, und sie fand es so lustig, dass sie trotz der eigenartigen Situation, in der sie sich befand, herzlich lachte.
„Pass auf!“, rief der Hund.
Veronica beobachtete, wie sich das kleine Boot plötzlich auszuweiten begann. Es wurde immer länger und breiter, bis es die Größe eines richtigen Bootes annahm.
„Reicht es oder soll es noch größer werden?“, fragte der Hund.
„Wie –?“, stammelte Veronica.
„Da ist ein Knopf an der Innenseite des Bootes“, erklärte die Katze. „Damit lässt sich das Boot beliebig verkleinern oder vergrößern.“
„Jetzt ist genug Platz für dich und deinen Koffer.“ Der Hund stieg aus dem Boot und gesellte sich wieder zu ihr und der Katze. „Bereit zur Abreise?“
Veronica schüttelte den Kopf. „Ich kann unmöglich in euer Boot steigen! Was, wenn es abstürzt und wir dabei sterben?“
„Das ist ausgeschlossen“, erwiderte der Hund. „Das Boot stammt aus Marimers Reich. Sie würde nie etwas erschaffen, das einem schaden könnte. Das verspreche ich.“
„Ich kann hier nicht weggehen. Mein Vater würde ...“ Veronica brach mitten im Satz ab. Sie war erst vor kurzem von zu Hause weggelaufen. Und sie wusste, dass es keinen anderen Ort gab, an den sie hätte gehen können.
„Wie lange würde es denn dauern, die acht Smaragde zu finden?“, hörte sie sich zu ihrer Überraschung fragen.
„Das können wir dir leider nicht sagen“, antwortete der Hund. „Unsere Insel ist groß und die Smaragde sind überall verstreut. Es gibt vier Städte auf Marismera: die Nordstadt, aus der wir stammen, die Südstadt, in der wir zurzeit wohnen, die Oststadt und die Weststadt. Die Weststadt ist größer als alle anderen Orte und gleichzeitig unsere Hauptstadt. Auf der Suche nach den Smaragden müssten wir in alle vier Städte und in die umliegenden Dörfer reisen. Und wir hoffen sehr, dass keiner der Smaragde im Urwald versteckt ist. Denn von dort würden wir nicht mehr lebend herauskommen.“
„Ricky!“, rief die Katze. „Verschreck sie nicht! Sie war gerade dabei, sich zu entscheiden, uns zu begleiten!“
„Ich will nur, dass sie die Wahrheit erfährt. Die Suche nach den Smaragden könnte unter Umständen mit Gefahren verbunden sein. Du brauchst aber nicht die ganze Zeit bei uns zu bleiben. Wir könnten dich noch heute Abend wieder zurückbringen und dich morgen oder an einem anderen Tag wieder abholen, damit du die Suche fortsetzt.“
Veronica sah aufs Wasser hinaus. „Wenn ich mitgehe, will ich wenigstens ein paar Tage hintereinander bei euch bleiben.“ Sie kam zu dem Schluss, dass sie tatsächlich verrückt sein musste, um dies gesagt zu haben.
„Habe ich richtig gehört? Ricky, hat sie gesagt, dass sie mitkommt? Kann das wahr sein?“ Die Katze begann, auf ihren vier Beinen einen lustigen Tanz zu vollführen.
„Ich glaube, du hast richtig gehört, meine Lidia. Es kann jetzt nur noch eine Frage der Zeit sein, bis wir wieder Menschen werden. Aber worauf warten wir noch? Los geht’s, nach Marismera! Das Boot ist startklar und bietet nun genug Platz für uns drei. Ich würde gern deinen Koffer zum Boot tragen, wie ein richtiger Gentleman“, sagte der Hund an Veronica gewandt, „aber ich muss mich entschuldigen, dass ich keine richtigen Hände habe.“
„Das macht nichts, er ist nicht schwer.“ Veronica konnte immer noch nicht glauben, dass sie im Begriff war, mit einem fliegenden Boot und in Begleitung zweier sprechender Tiere auf eine unbekannte Insel zu reisen, von deren Existenz sie bis vor einer halben Stunde nicht einmal wusste. Aber verrückte Menschen tun so etwas, erklärte sie sich. Und sie war sich nun sicher, zu dieser Sorte von Menschen zu gehören.
„Den Smaragd kannst du anbehalten“, sagte der Hund, „aber steck bitte seine Schachtel in deine Hosentasche, wir werden sie später brauchen.“
Im Boot nahm Veronica auf einer der zwei grünen Sitzbänke Platz, während der Hund und die Katze auf die andere kletterten. An der Innenseite des Bootes rechts und links war jeweils ein smaragdgrüner Knopf angebracht. Auf einen dieser Knöpfe musste der Hund vorhin gedrückt haben, als das Boot sich vergrößert hatte, nahm Veronica an. Nun drückte der Hund mit seiner Vorderpfote wieder auf einen der Knöpfe und sprach diesem zugewandt: „Nach oben, ganz vorsichtig, und dann den ganzen Weg nach Marismera. Danke!“
Das Boot begann auf dem kiesbedeckten Boden leicht zu schwanken. Veronica stützte sich an den Seitenwänden ab. Leise glitt das Boot die wenigen Schritte zum Wasser hin, nur das Knirschen der Kieselsteine war zu hören. Als es auf dem Wasser angekommen war, schwebte es einige Augenblicke ruhig darauf, bevor es begann, sich langsam in die Luft zu erheben. Das ist das Merkwürdigste und Verrückteste, was ich jemals erlebt habe!, dachte Veronica. Sie würde nie wieder daran zweifeln, dass es Magie gab, denn wie konnte man sonst all dies erklären? Mit beiden Händen hielt sie sich an den Bootsrändern fest und blickte um sich, um festzustellen, ob jemand am Ufer das Spektakel beobachtete. Doch es waren keine Menschen auf dieser Seeseite zu sehen und die wenigen Menschen, die am anderen Ufer joggten, hielten die Köpfe gesenkt.
Das Boot erhob sich nun schneller und Veronica spürte die Wärme der Sonnenstrahlen im Nacken. Nach einiger Zeit lehnte sie sich über den Bootsrand, um zu sehen, wie hoch sie inzwischen gestiegen waren. Der See unter ihnen sah wie ein Tintenfleck aus und der Wald daneben wie ein kleiner Kopfsalat. Die Menschen auf den umliegenden Straßen schwirrten wie Ameisen umher.
Plötzlich blieb das Boot in der Luft stehen.
„Was ist los?“, fragte Veronica und spürte ihr Herz schneller schlagen.
„Keine Angst. Jetzt geht’s richtig los.“ Der Hund zwinkerte ihr wieder zu, doch diesmal brachte sie das nicht zum Lachen.
Und dann begann das Boot, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Neunmal wirbelte es in der Luft herum, bevor es wieder zum Stillstand kam.
„Haltet euch fest“, rief der Hund.
Im nächsten Augenblick spürte Veronica einen starken Ruck. Das Boot rauschte davon. Es sauste mit solcher Geschwindigkeit durch die Luft, dass sie um sich herum nichts mehr erkennen konnte. Sie wollte fragen, ob es möglich wäre, umzukehren, denn sie hätte ihre Meinung geändert, doch der Wind heulte ihr so laut um die Ohren, dass ihr klar wurde, dass ihre Begleiter nichts hören würden.
Stunde um Stunde war vergangen. Die ganze Zeit hatte der Wind geheult und sie hatten kein Wort miteinander gewechselt. Nun verlangsamte das Boot seine Geschwindigkeit und um sie herum wurde es leiser. Veronica spürte die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Als sie aufblickte, strahlte ihr ein samtblauer Himmel entgegen. Sie lehnte sich ein wenig über den Bootsrand und blickte nach unten.
„Ricky, Lidia! Schaut nach unten!“, rief sie begeistert.
Wohin sie auch blickte, sah Veronica nur strahlend blaues Wasser. Wie immer wenn sie sich in der Nähe des Meeres befand, durchlief sie ein überwältigendes Glücksgefühl.
„Wir kommen der Insel immer näher“, kündigte der Hund an. „Wir müssen zwar noch eine Weile über den Ozean fliegen, aber den größten Teil haben wir schon hinter uns. Jetzt kannst du dich zurücklehnen und den Rest der Reise genießen.“
Veronica konnte sich nicht sattsehen an der Aussicht, die sich ihr bot. Soweit das Auge reichte, war nur blaues Wasser zu erblicken; kein Schiff, kein Boot, kein Land waren in Sicht. Endlich war sie in der Nähe ihres geliebten Meeres! Als sie sich so über den Bootsrand hinauslehnte, spürte sie die Schwere des Smaragdes, der um ihren Hals hing. Sie schob die Hand unter ihr T-Shirt und holte ihn hervor.
„Wenn wir auf Marismera ankommen, musst du ihn die ganze Zeit unter deinem T-Shirt versteckt halten“, sagte der Hund. „Du darfst mit niemandem über die Suche nach den Smaragden sprechen. Nur Lidia, ihre Ururoma und ich wissen davon. Und Marimer natürlich, aber ihr wirst du nicht begegnen.“
„Wieso nicht?“
„Sie ist kein gewöhnlicher Mensch. Sie ist unser Geist.“
„Aber ihr habt erzählt, dass Lidias Ururoma ihr begegnet ist.“
„Meine Ururomi lebt schon sehr lange und ist deshalb sehr weise“, erzählte die Katze. „Bevor Marimer sich ihr zeigte, hatte meine Ururomi sie jahrelang angefleht, uns zu helfen. Nicht jeder auf unserer Insel glaubt noch an Marimer. Die Wahrheit ist, dass niemand sagen kann, ob die Geschichte stimmt oder ob es sich dabei nur um eine Legende handelt.“
„Welche Geschichte denn?“, fragte Veronica.
„Da wir noch eine Weile fliegen müssen, haben wir genug Zeit, sie dir zu erzählen“, fuhr die Katze fort. „Vor vielen hundert Jahren war unsere Insel ein Königreich. Der König und die Königin lebten in einem großen Palast in der Oststadt. Sie hatten einen einzigen Sohn, und die Legende besagt, dass dieser sich in eine wunderschöne Meerjungfrau verliebte. Sie hieß Marimer und konnte bis zu zwölf Stunden wie ein Mensch auf dem Erdboden laufen. Nach zwölf Stunden verwandelten sich ihre Beine in eine Flosse und sie musste unter Wasser verschwinden. Zwölf Stunden später verwandelte sich ihre Flosse in zwei menschliche Beine zurück und sie konnte wieder an Land gehen. Obwohl sie sich nur alle zwölf Stunden sehen konnten, heiratete der Prinz das Meermädchen, und dieses lebte teils im Palast, teils unter dem Meer. Die Legende besagt, dass sie ihrem Mann im Laufe ihres gemeinsamen Lebens neun wertvolle Smaragde geschenkt hatte. Jeder dieser Smaragde verfügte über eine bestimmte Eigenschaft. Als der Prinz eines Tages sehr krank wurde, schenkte sie ihm den ersten Smaragd: den Smaragd der Gesundheit. Der Prinz berührte den Stein und wurde auf der Stelle wieder gesund. Nach einer langen Zeit, in der es auf der Insel nicht geregnet hatte, schenkte sie ihm den zweiten Smaragd: den Smaragd des Regens. Der Prinz konnte nun den Stein jedes Mal berühren, wenn die Erde Regen brauchte. Den dritten Smaragd bekam er, als ein kleines Mädchen aus Versehen in den Urwald gelangte und nicht mehr zurückkam. Der Prinz ging sie suchen und bekam von Marimer den Findesmaragd geschenkt, der aufleuchten würde, wenn er in die Nähe des kleinen Mädchens kommen würde.“
„So heißt auch der Smaragd, den ich trage!“, unterbrach Veronica die Katze.
„Du trägst den gleichen Smaragd, den Marimer damals ihrem Ehemann geschenkt hatte. Es ist der Smaragd Nummer 3, deshalb fehlt in einer der neun Spitzen die Ziffer 3. Die anderen Ziffern stehen für die anderen acht Smaragde, denn sie sind alle miteinander verknüpft. Wenn du die weiteren Smaragde findest, werden auch die anderen Ziffern verschwinden. Findest du zum Beispiel den Smaragd Nummer 1, dann verschwindet sofort die Ziffer 1 auf dem Findesmaragd. Und das geht so weiter, bis du alle gefunden hast. Am Ende sollten keine Ziffern mehr auf dem Findesmaragd zu sehen sein. Nun aber zurück zu unserer Geschichte: Als sich der Prinz im Urwald befand, um nach dem kleinen Mädchen zu suchen, verließ ihn der Mut und er kehrte nach kurzer Zeit zum Palast zurück. Unser Urwald ist ein gefährlicher Ort, von wilden Tieren und giftigen Insekten bewohnt, also war es gar nicht so feige von ihm zurückzukehren. Zu dieser Begebenheit schenkte Marimer ihm den vierten Smaragd: den Smaragd des Mutes. Der Prinz brauchte ihn nur zu berühren und schon kehrte sein Mut zurück. Doch bevor er wieder losging, um das kleine Mädchen zu suchen, bekam er von seiner Ehefrau zwei weitere Smaragde geschenkt, die ihm auf seiner Suche behilflich sein würden. Und so benutzte er die Macht des fünften Smaragdes schon in der ersten Nacht, als er im Urwald übernachtete und gegen die Kälte kämpfte – dies war der Smaragd des Feuers, und mit seiner Hilfe zauberte der Prinz ein großes Feuer herbei, das ihn die ganze Nacht wärmte und die gefährlichen Tiere von ihm fernhielt. Nachdem er das kleine Mädchen gefunden hatte, fand er aus dem Urwald nicht mehr heraus. Aber mithilfe des sechsten Smaragdes – des Smaragdes des Fliegens –, den er von seiner Frau erhalten hatte, erhob er sich mit dem Mädchen an der Hand in die Luft und sie flogen den langen Weg aus dem Urwald hinaus. Einige Jahre später starben der König und die Königin, und da der Prinz sehr bedrückt über den Tod seiner Eltern war, schenkte Marimer ihm den Smaragd des Glücks. Wenn der Prinz diesen berührte, verschwand seine Traurigkeit augenblicklich. Kurze Zeit später kam er in Besitz des achten Smaragdes – des Smaragdes der Liebe. Seine Frau hatte ihn ihm geschenkt, damit ihre Liebe lange währte. Und das tat sie auch, doch irgendwann wurde der Prinz alt und gebrechlich, während Marimer unverändert blieb, denn sie ist unsterblich. Und dann schenkte sie ihm einen letzten Smaragd – den Smaragd der Verwandlung.“
„Verwandlung?!“, wunderte sich Veronica.
„Ja. Damit konnte er sich wieder in einen jungen Menschen verwandeln und so seine letzten Tage glücklich und unbeschwert mit seiner Frau verbringen.“
„Er starb?“
„Natürlich starb er. Er war nur ein Mensch.“
„Aber konnte sie ihm nicht helfen? Ihm einen Smaragd der Ewigkeit schenken?“
„Ich weiß nicht, ob es einen solchen Smaragd gibt“, entgegnete die Katze. „Die Legende spricht nur von diesen neun Smaragden und davon, dass Marimer nach dem Tod des Prinzen sich nur noch selten auf der Insel zeigte. Irgendwann verschwand sie komplett, nur ganz selten wurde berichtet, dass man sie in ihrer menschlichen Form erblickte. Aber bevor sie verschwand, kurz nach dem Tod ihres Mannes, machte sie der ganzen Insel ein besonderes Geschenk. Siehst du, alle neun Smaragde konnten nur vom Prinzen benutzt werden; in den Händen einer anderen Person hatten sie überhaupt keine Macht mehr. Aber Marimer hatte miterlebt, wie angenehm das Leben des Prinzen durch diese Smaragde wurde, und so beschloss sie, allen Einwohnern Marismeras magische Kräfte zu schenken. Anschließend verfasste sie das Lebensbuch, in das sie die Bedingung eintrug, dass die Magie niemals zum Schaden anderer Menschen eingesetzt werden durfte. Und falls dies doch geschehen würde, würden die Menschen bei der neunundneunzigsten Person, die gegen dieses Gebot verstößt, ihre Zauberkräfte für immer verlieren. Neun war nämlich Marimers Lieblingszahl. Dies besagt zumindest die Legende.“
„Wo ist sie jetzt?“, fragte Veronica. „Lebt sie immer noch unter Wasser?“
„Viele unserer Mitmenschen behaupten, dass sie gar nicht existiert hatte. Was wir aber als Unsinn erachten.“
„Sogar der Name unserer Insel leitet sich von ihrem Namen ab“, sagte der Hund. „Unsere Vorfahren haben sie viel mehr verehrt als unsere Generation heute. Aah, da sind wir aber schon!“
Veronica lehnte sich über den Bootsrand und blickte nach unten. „Da ist ja eine Insel!“
Im selben Augenblick blieb das Boot in der Luft stehen.
„Ja, da unten ist Marismera“, erwiderte der Hund. „Ach, wie gut es sich anfühlt, wieder zu Hause zu sein. Ist diese Luft nicht die reinste Luft, die du je eingeatmet hast?“
Doch Veronica gab keine Antwort. Sie sah nach unten und bestaunte das Stück Erde, das sich unter ihnen erstreckte. Aus dieser Entfernung kam ihr die Insel wie ein riesiger, länglicher Brotlaib vor. Ein großer Fleck in der Mitte war ganz grün – dort musste sich der Urwald befinden, überlegte sie. Rund um den Urwald waren braune, grüne und gelbe Felder angelegt. Das mussten die Getreide- und Gemüsefelder sein, von denen sich die Menschen ernährten, schlussfolgerte sie. Außerhalb der Felder waren große Ansammlungen von Häusern zu erkennen, die sich bis zu dem perlweißen Strand auf allen Seiten der Insel erstreckten. Das Meer um die Insel herum war von einem tiefen Blau, doch ganz in der Nähe des Strandes schimmerte es türkisgrün. Die Insel war zum größten Teil flach, nur auf der einen Seite sah Veronica einige felsige Erhebungen, die Berge sein konnten.
„Gibt es auf der Insel Vulkane?“, fragte sie.
„Nein“, antwortete die Katze. „Wir haben nur im Norden einen einzigen Berg, den man allerdings nicht besteigen kann, denn er ist kahl und sehr steil. Man hat ihm den Namen Der Berg des Todes gegeben, weil jeder weiß, dass ein Versuch, ihn zu besteigen, nur im Tod enden kann.“
Bei diesen Worten erschauderte Veronica.
„Lehn dich bitte zurück“, forderte der Hund sie auf. „Es ist das erste Mal, dass wir mit der vergrößerten Form des Bootes landen. Hoffentlich befindet sich zurzeit niemand am Strand. Da wir bisher immer allein zurückkehrten, war unser Boot immer klein gewesen, sodass wir nicht allzu viel Aufsehen erregten.“
Veronica lehnte sich zurück und spürte, wie das Boot langsam herabsank. Die Sonne brannte ihr ins Gesicht und sie vermutete, dass es früher Nachmittag war.
Sie waren schon mehrere Meter gesunken, als die Katze plötzlich rief: „Oh nein, Ricky, schau!“
Veronica lehnte sich hinaus. Sie schwebten über einer kleinen Bucht, die zu beiden Seiten von hohen, kahlen Felsen gesäumt war. Sie steuerten auf den feinsandigen Strand in der Mitte der Bucht zu, doch genau unter ihnen saß eine Gestalt im Sand. Veronica konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn die Person hatte schulterlange dunkle Haare, die ihr das Gesicht verdeckten. Sie saß mit angezogenen Knien im Sand und schien etwas auf ein Blatt Papier zu schreiben, das auf ihrem Schoß lag.
Veronica spürte einen Ruck und das Boot hielt plötzlich in der Luft an. Der Hund hatte auf einen der zwei smaragdgrünen Knöpfe gedrückt und ihm zugewandt ,Stopp‘ geflüstert.
„Wir haben ein Problem“, sagte er leise. „Die Person da unten könnte jederzeit hochblicken und uns hier in der Luft entdecken. Schließlich schweben wir nur etwa zehn Meter schräg über seinem Kopf.“
„Können wir nicht woanders landen?“, fragte Veronica.
„Wir befinden uns hier in der Südstadt. An allen anderen Stränden laufen um diese Uhrzeit viele Leute herum. Das hier ist eine kleine, einsame Bucht. Nur wenige Menschen kommen hierher. Siehst du das Haus dort auf dem Hügel?“
Veronica schaute in die gezeigte Richtung. Hinter dem Strand erhob sich ein Hügel, auf dem sich ein einziges Haus befand.
„Das Haus gehört Quioni, der Ururoma von Lidia. Dort wohnen wir zurzeit. Jenseits dieses Hügels liegt die Stadt und links und rechts von dieser Bucht erstrecken sich lange Sandstrände. Die kannst du jetzt wegen der hohen Felsen, die diese Bucht begrenzen, nicht sehen. Das hier ist der sicherste Ort an der ganzen Südküste, an dem wir landen können.“
Veronica überlegte kurz. „Können wir nicht bis zum Haus fliegen und dort landen?“
„Das geht nicht“, sagte der Hund. „Das Boot muss bei der Landung zuerst mit dem Wasser in Berührung kommen, erst dann kann es von selbst zum Strand hingleiten. Als wir dich trafen, sind wir auch auf dem Wasser gelandet.“
„Das ist kein fliegendes Auto, sondern ein fliegendes Boot“, fügte die Katze hinzu. „Es braucht sowohl beim Starten als auch bei der Landung die Berührung mit dem Wasser. Wenn wir auf dem Erdboden landen würden, würde das Boot explodieren und wir würden in Stücke zerrissen werden.“
Veronica erschauerte. „Wir könnten aus dem Boot springen, bevor es die Erde berührt“, schlug sie vor.
„Auf diese Weise würden wir vielleicht unversehrt davonkommen“, sagte die Katze, „aber das Boot würde trotzdem explodieren. Und dann könnten wir dich nicht mehr in dein Land zurückbringen.“
„Und was machen wir dann?“, fragte Veronica.