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Kapitel 3: Die Katze, die keine Katze ist, und der Hund, der kein Hund ist

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Veronica wäre über die weite Wiese, die sich hinter der Bank erstreckte, schon längst davongelaufen, wenn sie sich nicht erinnert hätte, dass ihr Koffer noch immer vor der Bank stand. Sie wollte ihn nicht zurücklassen, wagte jedoch nicht, aus ihrem Versteck hervorzukommen.

Hinter der Bank geduckt, wartete sie, dass die zwei merkwürdigen Gestalten, die soeben aus dem fliegenden Boot gestiegen waren, wieder verschwanden. Um nicht entdeckt zu werden, vergrub sie ihr Gesicht zwischen den Knien und machte sich so klein wie möglich.

Kurz darauf vernahm sie zu ihrer Rechten ein leises Rascheln. Vorsichtig hob sie den Kopf. Der dunkelbraune Hund war um die Bank herumgekommen und stand jetzt nur wenige Schritte von ihr entfernt.

„Hallo“, sagte er.

Veronica wollte sofort losrennen. Doch als sie sich aufzurichten versuchte, sackten ihr die Beine ein und sie fiel nach hinten.

Nun war auch die Katze um die Bank herumgekommen und stellte sich neben den Hund. „Guten Morgen“, sagte sie.

Auf dem Boden liegend, tastete Veronica nach einem Stein, mit dem sie sich würde wehren können, falls die zwei sie angreifen würden.

„Es tut uns leid, dass wir dich so überfallen“, sprach wieder die Katze. „Es ist nicht unsere Absicht, dich zu erschrecken.“

„Ich hoffe, dass wir durch unser für dich etwas ungewöhnliches Auftauchen“, sagte der Hund, „keinen allzu schlechten Eindruck auf dich gemacht haben. Wir würden uns gerne mit dir anfreunden, denn wir brauchen deine Hilfe.“

Veronica sah sich um, doch es waren weit und breit keine Menschen zu sehen, die ihr hätten zu Hilfe kommen können. Sie war nun bereit, sich auch ohne ihren Koffer davonzumachen. Wenn ihre Beine ihr nur gehorchen würden!

Die Katze trat einen Schritt vor. „Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wie du siehst, sind wir klein und machtlos. Es geht keine Gefahr von uns aus.“

„Wenn du möchtest“, sagte der Hund, „kannst du aufstehen und dich wieder auf die Bank setzen. Wir sind nicht hier, um dir etwas anzutun, sondern weil wir deine Hilfe brauchen.“

Veronica fasste sich an die Schläfen und murmelte vor sich hin: „Ich träume. Das ist nur ein Traum. Bald wache ich wieder auf.“ Sie schloss die Augen und hoffte, dass die zwei sich bald in Luft auflösen würden. Doch als sie Sekunden später die Augen wieder öffnete, standen die zwei sprechenden Tiere immer noch vor ihr.

„Dies ist kein Traum, das kann ich dir versichern“, sagte die Katze. „Wir wissen, wie ungewöhnlich es dir vorkommen muss, zwei sprechenden Tieren zu begegnen. Aber wir sind in Wirklichkeit gar keine Tiere. Es würde uns sehr glücklich machen, wenn du uns eine Chance geben würdest ... und uns zuhörtest.“

Als Veronica begriff, dass die zwei nicht die Absicht hatten, sie anzugreifen, fasste sie ein wenig Mut. „Wie ... wie könnt ihr sprechen?“

Der Hund seufzte. „Das ist eine lange Geschichte. Wenn du bereit bist, sie dir anzuhören, erzählen wir sie dir gern.“

„Vorher sollten wir uns aber vorstellen“, sagte die Katze. „Ich heiße Lidia und das ist Ricky, mein Verlobter. Und wie heißt du?“

Als Veronica nichts erwiderte, sagte der Hund: „Ist in Ordnung, vielleicht verrätst du uns später deinen Namen. Möchtest du jetzt aufstehen und dich auf die Bank setzen?“

Veronica zwickte sich in den Arm, doch der Schmerz verriet ihr, dass dies kein Traum war. Vielleicht bin ich verrückt geworden, dachte sie, und ich bilde mir ein, dass Katzen und Hunde sprechen können. Sie erinnerte sich an das, was ihr Vater an diesem Morgen zu ihr gesagt hatte, nämlich dass es keine Magie gab. Er sollte in diesem Moment hier sein!

„Wir sind dir sehr dankbar“, sagte die Katze nun, „dass du nicht vor uns weggelaufen bist. Nicht viele Menschen lassen sich auf ein Gespräch mit uns ein. Die meisten laufen schon davon, wenn sie von weitem unser Boot sehen.“

Veronica beschloss herauszufinden, wie verrückt sie denn nun geworden war. Sie würde den beiden den Gefallen tun und ihnen zuhören. Wenn dies nur ein Traum war, müsste sie früher oder später wieder aufwachen. Sie richtete sich auf und umklammerte mit ihrer Hand einen kleinen Stein. Wenn es nötig wäre, würde sie sich damit wehren. Langsam ging sie um die Bank herum und setzte sich darauf. Der Hund und die Katze folgten ihr und setzten sich auf ihre Hinterpfoten ihr gegenüber. Das kleine Boot lag nur ein paar Schritte hinter ihnen am Ufer.

„Wir kommen aus Marismera“, begann der Hund, „und bevor wir Hund und Katze wurden, waren Lidia und ich normale Menschen. Genauso wie du.“

„Fast“, fügte seine Begleiterin hinzu.

Veronica blickte sich um, doch es waren immer noch keine Menschen auf dieser Uferseite. „Wo ist Marismera?“, fragte sie.

„Mitten in einem großen Ozean“, erwiderte der Hund. „Es ist eine Insel. Dort sind wir geboren und dort haben wir unser ganzes Leben verbracht. Allerdings nicht immer in diesen Gestalten. Bis vor fünfzehn Jahren waren wir noch Menschen – jung und hübsch. Lidia war jedenfalls sehr hübsch.“ Der Hund schaute seine Begleiterin verschmitzt an.

„Und jetzt sind wir fünfunddreißig Jahre alt und du siehst, was aus uns geworden ist“, fügte die Katze hinzu.

„Was ist denn passiert?“, fragte Veronica.

„Als wir beide zwanzig waren, wurden wir in unsere jetzigen Gestalten verwandelt“, erklärte der Hund. „Dies geschah kurz vor unserer Hochzeit.“

Veronica starrte die beiden an. „Was … wer hat euch denn verwandelt?“

„Ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft“, antwortete die Katze. „Sie und Ricky waren von klein auf befreundet. Als ich ihn kennen lernte und wir uns ineinander verliebten, wurde sie sehr eifersüchtig. Und als wir einige Jahre später unsere Hochzeit bekannt gaben, verwandelte sie uns in zwei Tiere. Da sie nicht das haben konnte, was sie wollte, nämlich Rickys Liebe, wollte sie wenigstens verhindern, dass wir uns an unserer Liebe erfreuten.“

„Aber das ist unmöglich! Niemand kann einen anderen Menschen in ein Tier verwandeln!“, rief Veronica, hielt dann aber inne. Wenn dies nur ein Traum war, dann war es vielleicht doch möglich. Genauso wie eine sprechende Katze und ein sprechender Hund möglich waren.

„Du siehst sehr wohl, dass man es kann“, entgegnete die Katze. „Jedenfalls in unserem Land.“

„Wir müssen dir etwas über Marismera verraten“, sprach der Hund. „Bis vor fünfzehn Jahren, als der Vorfall mit unserer Verwandlung geschah, war Marismera eine magische Insel. Das heißt, alle Bewohner besaßen magische Kräfte. Das war schon viele hundert Jahre so gewesen.“

Veronica sah ihn verwundert an. „Magie – gibt es wirklich?!“

„Natürlich“, antwortete der Hund. „Zumindest hat es sie in unserem Land gegeben. Dank unserer früheren Zauberkräfte führten wir ein sorgenfreies Leben und konnten uns vor den vielen Gefahren retten, die auf einer Insel lauern. Und genau dieser magischen Kräfte hat sich dieses Mädchen bedient, als es von unserer angekündigten Hochzeit erfuhr. Dadurch hat sie uns in unsere jetzigen Gestalten verwandelt.“

Veronica überlegte kurz. „Konntet ihr eure Zauberkräfte nicht dazu einsetzen, euch zurückzuverwandeln?“

„Leider nicht“, erwiderte die Katze. „Und genau darin besteht unser Problem. Aus diesem Grund brauchen wir deine Hilfe. Es gibt in Marismera nämlich ein Gesetz, das im Lebensbuch eingetragen ist.“

„Lebensbuch? Was ist denn das?“, fragte Veronica.

„Es ist das wichtigste Buch auf Marismera. Es enthält die Gesetze und Regeln darüber, wie wir unser Leben führen sollen. Und darin steht, dass wir unsere magischen Kräfte nur unter einer Bedingung einsetzen dürfen, nämlich niemals zum Schaden unserer Mitmenschen. Wir dürfen uns mit der Magie das Leben verschönern und uns vor Gefahren retten, aber wir dürfen keiner Person Schaden zufügen.“ Die Katze hielt kurz inne. „Natürlich hielten sich in der Geschichte unserer Insel nicht alle Menschen daran und es gab hin und wieder unglückliche Vorfälle. Im Lebensbuch steht auch, dass derjenige, der seine Zauberkräfte auf negative Weise einsetzt, sich in ein Monster verwandeln und bis zu seinem Lebensende im Urwald leben wird. In der Mitte unserer Insel gibt es nämlich einen großen Urwald.“

„Aber dann ist das Mädchen, das euch verwandelt hat, jetzt ein Monster!“, rief Veronica aus.

„So ist es“, bestätigte der Hund. „Und ich kann dir versichern, dass es kein ansehnliches Monster ist. Aber was wir dir noch nicht erzählt haben, ist, dass in unserem Lebensbuch eine weitere Strafe eingetragen ist. Wenn die neunundneunzigste Person in der Geschichte Marismeras ihre magischen Kräfte auf negative Weise einsetzt, verlieren alle Bewohner unserer Insel für immer ihre Kräfte.“

„Genau das ist vor fünfzehn Jahren eingetreten“, fügte die Katze hinzu. „Estelle war die neunundneunzigste Person, die die Magie negativ benutzt hat, denn sie hat aus Eifersucht gehandelt.“

„Estelle?“

„So heißt das Mädchen, das in Ricky verliebt war und uns in Tiere verwandelt hat.“

„Estelle war ein hübsches Mädchen“, erzählte der Hund. „Aber mein Herz schlug nur für Lidia. Estelle war für mich die ganze Zeit nur eine gute Freundin. Aber sie kam damit nicht klar und hat diese große Dummheit begangen. Als Folge ihrer Tat verloren alle Bewohner unserer Insel von einer Sekunde auf die andere ihre magischen Kräfte; wir natürlich auch. Dies geschah augenblicklich, sodass uns keine Zeit blieb, uns zurückzuverwandeln.“

„In den vergangenen fünfzehn Jahren“, ergänzte die Katze, „sind viele unserer Mitmenschen an Krankheiten gestorben, die wir früher dank der Magie im Handumdrehen heilen konnten. Andere Menschen wurden von Giftschlangen oder gefährlichen Insekten und Tieren angegriffen. Ohne die Kraft der Magie konnten sie sich kaum dagegen wehren. Unsere Insel ist wunderschön, aber es gibt auch gefährliche Gegenden sowie wilde Tiere. Mit magischen Kräften führten wir ein schönes Leben, ohne diese ist das Leben härter geworden.“

„Und ohne Magie werden Lidia und ich bis an unser Lebensende eine Katze und ein Hund bleiben. Ich werde nie wieder Lidias hübsches Gesicht sehen können.“

„Außer du willigst ein, uns zu helfen“, fügte die Katze in hoffnungsvollem Ton hinzu.

Veronica sah die beiden verdutzt an. „Ich verstehe nicht, wie das möglich sein sollte. Nach allem, was ihr mir erzählt habt, gibt es keine Möglichkeit, dass –“

„Aber wir haben dir noch nicht alles erzählt. Es gibt eine einzige Möglichkeit, wie wir unsere magischen Kräfte wiedererlangen können.“

Die Katze hielt inne und Veronica wartete, dass sie weitersprach.

„Würdest du bitte“, forderte die Katze sie auf, „zu unserem Boot gehen und die kleine grüne Schachtel herausholen, die dort auf der Sitzbank liegt?“

Veronica zögerte zuerst. Doch dann stand sie auf, ließ den Stein, den sie bis dahin in der Hand gehalten hatte, auf den Boden fallen, und ging auf das kleine Boot zu. Dort angekommen, stellte sie fest, dass seine Länge lediglich einen halben Meter betrug und sich darin zwei mit grünem Samt bezogene Sitzbänke befanden. Das Innere des Bootes war genauso wie ihr Äußeres türkisgrün angestrichen. Auf einer der Sitzbänke entdeckte sie eine quadratische dunkelgrüne Schachtel, so klein, dass sie in ihre Hosentasche hineingepasst hätte. Sie hob sie auf und trug sie zur Bank.

„Mach sie bitte auf“, forderte die Katze Veronica auf, nachdem diese wieder auf der Bank Platz genommen hatte.

Veronica klappte den Deckel der Schachtel auf. „Wow! Das ist –“

„Ein Smaragd, ja“, unterbrach die Katze sie. „Ein echter.“

Veronica betrachtete den ungewöhnlichen Stein. Er hatte die Form eines neunzackigen Sterns und schimmerte hellgrün in der Sonne. In jede Zacke war eine dunkelgrüne Ziffer eingraviert – von 1 bis 9 im Uhrzeigersinn. In der oberen Zacke stand eine 1, rechts davon eine 2, dann ... Veronica stellte fest, dass die 3 fehlte – in die dritte Spitze von rechts war keine Ziffer eingraviert. In der nächsten Zacke ging es weiter mit 4, dann 5, und so weiter bis 9. Während sie die Schachtel mit dem Smaragd in der Hand hielt, verwarf Veronica den Gedanken, dass dies nur ein Traum war. Die Schachtel fühlte sich in ihrer Hand sehr wirklich an und der Smaragd darin war bestimmt keine Einbildung.

„In der Schachtel ist auch eine Halskette“, sagte die Katze. „Nimm sie bitte heraus und leg sie dir um den Hals.“

Veronica bemerkte jetzt, dass der Smaragd an einer schlichten hellgrünen ledernen Schnur hing.

„Aber vorsichtig“, ermahnte der Hund sie. „Falls du spürst, dass deine Haut davon brennt, wirf den Smaragd sofort auf den Boden.“

„Ist er gefährlich? Er sieht doch so wunderschön aus!“

„Er ist nicht gefährlich“, entgegnete die Katze, „er ist machtvoll. Er kann uns bei unserem Versuch, unsere magischen Kräfte zurückzuerlangen, behilflich sein. Aber er kann nicht von Ricky oder mir benutzt werden. Und von keiner anderen Person auf Marismera. Nur eine Person außerhalb unseres Landes kann ihn benutzen. Aber um herauszufinden, ob du die geeignete Person dafür bist, musst du ihn dir um den Hals hängen.“

Veronica nahm die hellgrüne Schnur zwischen zwei Finger und hielt sie hoch. Der Smaragdstern, der daran baumelte, glänzte so sehr in der strahlenden Sonne, dass sie die Augen zukneifen musste. Sie legte sich die dünne Schnur um den Hals und der Smaragd hing nun vor ihrem T-Shirt.

„Du musst ihn unter dein T-Shirt stecken“, wies der Hund sie an. „Er muss deine Haut berühren.“

Veronica nahm die Schnur und schob sie mitsamt dem Smaragd, der daran hing, unter ihr T-Shirt. Sie hielt den Atem an und wartete.

Einige Sekunden verstrichen. Weder sie noch die Katze oder der Hund wagten, sich zu rühren.

Plötzlich fuhr ein Fahrradfahrer an ihnen vorbei und Veronica zuckte zusammen.

„Was ist?“, fragte die Katze. „Brennt es?“

„Nein.“ Veronica sah dem Radfahrer nach. „Ich hatte nur Angst, dass der Mann anhalten und euer Boot entdecken würde. Aber er hatte es anscheinend eilig.“

„Es brennt wirklich nicht?“, fragte der Hund nach.

„Ganz im Gegenteil. Der Smaragd fühlt sich angenehm kühl an.“

„Ich kann’s nicht glauben! Sie ist es, Ricky! Wir haben sie gefunden!“

„Ganz ruhig, Lidia. Natürlich ist es schön, dass der Smaragd sie nicht zurückgewiesen hat. Aber wir wissen nicht, ob sie einverstanden ist, mit uns mitzukommen.“

„Mitkommen? Wohin denn?“, fragte Veronica.

Die Katze konnte ihre Begeisterung kaum verbergen. „Auf Marismera. In unser Land!“

Marismera

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