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Kapitel 1: Veronica nimmt Abschied
ОглавлениеVeronica schlug die Augen auf. Ihr Blick fiel auf das breite Fenster gegenüber, durch das grelle Sonnenstrahlen hereinfielen, die sie blendeten. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie sich befand, und sie konnte sich nicht erklären, weshalb die Unterlage, auf der sie lag, sich so hart anfühlte. Das war gar nicht ihr Bett! Dann fiel es ihr ein: Sie war hier eingeschlafen. Sie setzte sich auf und blickte zum Fernseher in der Ecke. Er war schwarz und stumm. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn gestern Abend ausgeschaltet zu haben. Ob er …? Doch sie brachte den Gedanken nicht zu Ende, denn schon war sie aufgesprungen und aus dem Zimmer hinaus in den kleinen Eingangsflur gerannt. Dort waren seine Schuhe … und an der Garderobe hing seine Jacke. Er war zurückgekehrt. Er hatte den Fernseher ausgeschaltet.
Sie kehrte ins Zimmer zurück und setzte sich auf das harte Sofa, auf dem sie die Nacht verbracht hatte. Wann war er zurückgekommen? Und wie würde sie ihm ihr Vorhaben beibringen? Ruckartig drehte sie sich um und sah hinter das Sofa. Ihr kleiner Rollkoffer stand immer noch da. Und auf dem Glastisch neben dem Sofa erblickte sie Reste des Mohnkuchens, den sie gestern nach der Schule gekauft hatte. Für ihren elften Geburtstag – den er vergessen hatte.
Plötzlich vernahm sie Schritte, die aus dem Flur zwischen dem Wohnzimmer, in dem sie sich befand, und den hinteren Schlafzimmern kamen. Das Wohnzimmer hatte zwei gegenüberliegende Türen, eine, die in den kleinen Eingangsflur führte, in dem sie soeben gewesen war, und eine andere, die in den langen hinteren Flur führte, durch den man zu den Schlafzimmern gelangte. Diese zweite Tür öffnete sich nun mit einem leisen Quietschen. Im Türrahmen erschien ihr Bruder. Veronica nahm wahr, wie er seinen Blick über die Bettdecke und das Kopfkissen schweifen ließ, die neben ihr auf dem Sofa lagen. Ohne ein Wort durchquerte er das Wohnzimmer und verließ es durch die andere Tür, die in den Eingangsflur führte. Von dort aus betrat er die Küche.
Veronica blieb einige Augenblicke sitzen, bevor sie ihrem Bruder nachlief. Als sie die Küche betrat, schmierte er sich gerade im Stehen eine Brotscheibe mit Butter und Marmelade. Sie setzte sich an den Küchentisch und beobachtete ihn.
„Wann ist er heimgekommen?“, durchbrach sie die Stille.
Ihr Bruder stellte das Marmeladenglas zurück in den Kühlschrank und nahm den Teller mit der Brotscheibe in die Hand. „Wieso fragst du das mich? Du hast die ganze Nacht auf ihn gewartet.“ Damit wandte er sich zum Gehen.
Veronica sah ihm nach. „Wo gehst du hin?“
„In mein Zimmer.“
„Warum frühstückst du nicht hier?“
„Ich hab meinen Computer schon eingeschaltet.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er die Küche.
Veronica sprang auf und lief ihm in den Flur nach. „Dennis, warte!“
„Was ist?“
„Ich bin eingeschlafen. Ich hab nicht mitbekommen, wann er nach Hause gekommen ist.“ Sie sah sich in dem kleinen Eingangsflur um. „Seine Jacke und seine Schuhe sind hier.“
Ihr Bruder biss ein Stück von seiner Brotscheibe ab. „Er schläft. Tief und fest. Bis zum Nachmittag kriegst du ihn nicht wach.“
„Ich will heute mit ihm reden.“
Schwach lächelnd wandte sich ihr Bruder wieder zum Gehen. „Viel Spaß.“ Mit diesen Worten ging er ins Wohnzimmer, dann den langen hinteren Flur entlang zu seinem Zimmer.
Veronica kamen die Tränen, als sie ins Wohnzimmer zurückging und sich auf das unbequeme Sofa sinken ließ. Die Wanduhr zeigte sieben Uhr an. Als sie überlegte, ob sie sich für ein paar Stunden wieder hinlegen sollte, hörte sie erneut Schritte im hinteren Flur. Schwere Schritte und ein trockenes Husten. Er war wach! Hastig wischte sie sich die Tränen ab und sprang auf die Beine. Im gleichen Augenblick schwang die Tür auf.
„Papa!“
Ihr Vater starrte sie an. Sein Haar war zerzaust und unter seinen Augen traten dunkle Augenringe hervor. Sein schlaftrunkener Blick fiel auf die Bettdecke und das Kopfkissen auf dem Sofa. Schweigend durchquerte er das Wohnzimmer und ging in Richtung Küche. Veronica folgte ihm und setzte sich erneut an den Küchentisch.
Geräuschvoll durchstöberte ihr Vater mehrere Schubladen. „Haben wir kein Aspirin mehr?“
„In der oberen Schublade“, antwortete sie.
Er stöberte weiter. „Da sind keine.“ Seufzend setzte er sich ihr gegenüber und stützte den Kopf auf die Hände. „Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Musst du heute nicht in die Schule?“
„Wir haben Sommerferien. Weißt du nicht mehr? Heute ist der erste Ferientag.“
Er sah auf. „Warum hast du im Wohnzimmer geschlafen?“
„Ich hab auf dich gewartet.“
„Wieso?“
„Ich wollte mit dir reden.“
„Worüber denn?“
Sie zögerte. „Darüber, dass du jeden Abend betrunken nach Hause kommst.“
„Ich komme nicht jeden Abend –“
„Doch! In den letzten Wochen schon. Du hast damit angefangen, als du arbeitslos wurdest. Aber das ist schon ein halbes Jahr her! Am Anfang hast du dich nur am Wochenende betrunken, dann immer öfter, und seit Wochen jeden Tag. Das weißt du genauso gut wie ich!“
„Veronica bitte … Schrei nicht so. Mein Kopf platzt. Das ist nur eine vorübergehende Situation. Bald werde ich wieder Arbeit finden und dann wird alles so sein wie früher.“
„Das sagst du schon seit Monaten.“ Sie hielt inne. „Das sind die ersten Sommerferien, in denen wir nicht in Urlaub fahren. Wir sind bis jetzt jeden Sommer ans Meer gefahren – auch nachdem Mama gestorben war.“
Ihr Vater wich ihrem Blick aus. „Wir können uns dieses Jahr keinen Urlaub leisten. Du und Dennis wisst das doch. Das Arbeitslosengeld reicht kaum zum Leben aus.“
„Warum gehst du dann jeden Abend aus und betrinkst dich?“
„Das zahl’ ich nicht von meinem Geld. Meine Freunde spendieren mir die Getränke.“
„Tolle Freunde hast du, Papa.“ Nun wich sie seinem Blick aus. „Du hast vergessen, dass gestern mein Geburtstag war.“
Ihr Vater schwieg.
„Ich habe letzte Nacht nicht deshalb auf dich gewartet“, fuhr sie fort. „Sondern, weil ich dir sagen wollte, dass ich dich nicht mehr jeden Tag betrunken sehen will ... und dass ich weggehe.“
„Was meinst du damit?“
„Ich laufe von zu Hause weg.“
„Spiel nicht mit mir, Veronica. Ich bin voll verkatert.“
„Meinen Koffer habe ich schon gepackt.“ Abrupt stand sie auf und hastete ins Wohnzimmer. Dort griff sie nach ihrem kleinen Rollkoffer und kehrte mit ihm in die Küche zurück. „Und wie du siehst, habe ich letzte Nacht nicht im Schlafanzug geschlafen, sondern in meiner Tageskleidung. Ich brauche mir nur noch die Schuhe anzuziehen und dann bin ich weg.“ Sie sah ihren Vater lange an, zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: „Als Mama gestorben ist, passierte das in einer Sekunde. Seitdem sind zwei Jahre vergangen ... aber du benimmst dich so, als würde sie seitdem jede Sekunde sterben. In diesem Haus gibt es keine Freude mehr, kein Lachen. Nur noch ernste Gesichter. Und in letzter Zeit den Alkohol. Ich vermisse Mama auch sehr, aber ...“ Erneut zögerte sie. „Ich weiß, du glaubst mir nicht ... aber ich spreche oft mit ihr. Und sie spricht mit mir. Ich weiß nicht, wie, aber ich kann sie hören. Und sie hat mir jedes Mal gesagt, dass sie nicht will, dass wir traurig sind, weil sie fort ist. Denn sie ist nicht fort ... sie meinte, dass sie immer in unserer Nähe ist. Und ich spüre das auch. Spürst du es denn nicht?“
„Du täuschst dich selbst, Veronica. Deine Mutter ist tot. Für immer. Sie kann nicht mit dir sprechen, weil sie nicht mehr existiert. Ich verstehe, dass du in deinem Alter noch an solche Dinge glaubst. Aber es gibt keine Magie, das wirst du noch herausfinden.“
„Ich glaube, du täuschst dich, Papa.“ Veronica wandte sich rasch um und schleppte ihren Koffer in den Eingangsflur. Dort zog sie schnell ihre Sandalen an.
Einige Sekunden später erschien ihr Vater hinter ihr. Er räusperte sich. „Veronica ... Wegen deines Geburtstags – das tut mir sehr leid ...“
Schweigend berührte sie die Wohnungstürklinke.
„Und wo willst du hingehen, wenn ich das wissen darf?“, fragte er.
„Weit weg! Ganz weit weg!“
„Ich finde dein Spiel spannend. Aber ich weiß, dass du in ein paar Minuten wieder da bist.“
Veronica drückte die Klinke nieder und öffnete die Tür. Dann sagte sie, ohne sich umzudrehen: „Ich hab mich von Dennis nicht verabschiedet. Sag ihm, er soll auf dich aufpassen. Mach’s gut, Papa.“