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Kapitel 2: Das fliegende Boot

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Veronica schlang die Arme um ihre Knie und blickte aufs Wasser hinaus. Sie saß auf einer niedrigen Holzbank an einem kleinen See, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, an dem sie früher oft mit ihrer Mutter gewesen war. Das Ufer, an dem sie sich befand, war menschenleer, und am anderen Ufer erblickte sie nur zwei Jogger. Es war noch zu früh für Spaziergänger. Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, doch ihre Strahlen tanzten bereits auf der stillen Wasseroberfläche. Nicht weit von Veronica entfernt glitten zwei Enten still über das Wasser.

Ihre Mutter hatte den See geliebt – von ihr hatte Veronica die Liebe zum Wasser geerbt: zu den Flüssen, Bächen, Seen und vor allem zum Meer. Dies waren die ersten Sommerferien, die sie nicht am Meer verbringen würde. Als ihre Mama noch gelebt hatte, waren sie jedes Jahr dreimal in Urlaub gefahren – jedes Mal ans Meer. In den Sommerferien waren sie immer ins Ausland gefahren, während sie die Oster- und Weihnachtsferien in Deutschland verbracht hatten, abwechselnd an der Ostsee und der Nordsee. Auch letzten Sommer, ein Jahr nach Mamas Tod, waren Veronica, ihr Vater und ihr Bruder zusammen an die Westküste Frankreichs gefahren. Doch dieses Jahr reichte das Geld nicht für einen Urlaub. Veronica vermisste das Meer sehr, und wenn sie daran dachte, dass sie sich dieses Jahr nicht in seiner Nähe befinden würde, spürte sie den Schmerz nicht nur in ihrem Herzen, sondern im ganzen Körper.

Sie konnte verstehen, dass ihr Vater nach dem Tod ihrer Mutter traurig war, sie konnte aber nicht begreifen, warum er sich in den letzten Monaten immer öfter betrank und fast jeden Tag spät in der Nacht nach Hause kam. Sie wünschte sich sehr, dass er wieder eine Arbeit fand und mit dem Trinken aufhörte. Auch wünschte sie sich, die Atmosphäre bei ihnen zu Hause wäre wieder so fröhlich wie zu der Zeit, als ihre Mutter noch lebte. In den vergangenen zwei Jahren hatte Veronica ihren Vater kaum lächeln sehen; und ihr Bruder, der früher ihr bester Freund gewesen war, schloss sich nun die ganze Zeit, die er zu Hause war, in seinem Zimmer ein und blieb allein mit seinem Computer. Veronica vermisste ihre Mama auch sehr, aber aus den täglichen Gesprächen, die sie mit ihr führte, wusste sie, dass diese nicht wollte, dass ihre Familie so lange um sie trauerte. Erst vor kurzem, als Veronica ihr erzählte, wie schlimm es um ihren Vater stand, hatte ihre Mutter ihr gesagt: „Mein Tod war nicht so schlimm, wie ihr ihn euch vorstellt; ich starb bei dem Autounfall sofort, in weniger als einer Sekunde. Es ist normal, dass ihr eine Weile um mich trauert, aber dein Vater leidet seit zwei Jahren umsonst – in seinem Kopf stellt er sich ununterbrochen vor, wie ich sterbe. Da wundert es mich nicht, dass er seine Arbeit verloren hat und sein Leben nicht auf die Reihe kriegt. Er leidet unter einer falschen Vorstellung, nicht unter meinem Tod, der kurz und schmerzlos war und sich nur einmal ereignet hat. Es ist auch normal, dass ihr mich vermisst, aber deshalb braucht ihr nicht euer Leben aufzugeben; außerdem bin ich gar nicht so weit weg – ich bin ganz in eurer Nähe, die ganze Zeit, und werde es immer sein. Nur dass ihr mich nicht mehr mit euren Augen sehen könnt, aber dafür mit euren Herzen. Du spürst es, deshalb können wir uns auch miteinander unterhalten.“ Veronica hatte versucht, all dies ihrem Vater zu erklären, aber sie hätte wissen müssen, dass er es nicht glauben würde. Sie wusste selbst nicht, warum sie die Gegenwart ihrer Mutter so stark spürte und mit ihr sprechen konnte. „Magie“ hatte ihr Vater es genannt, und er war der Meinung, dass es so etwas nicht gab.

Während sie weiter auf die Wasseroberfläche starrte, begann sie sich zu überlegen, wo sie als Nächstes hingehen könnte. Sie hatte nicht viele Verwandte; ihre Mutter war ein Einzelkind gewesen und ihr Vater hatte nur einen Bruder. Dieser lebte mit seiner Familie in Hamburg, und das lag in Norddeutschland, während Veronica in Süddeutschland lebte. Ihr erspartes Taschengeld würde für eine Fahrkarte nach Hamburg nicht reichen. Und selbst wenn sie irgendwie dorthin käme, würde ihr Onkel sie mit dem ersten Zug zurückschicken. Anita, ihre beste Freundin, konnte sie auch nicht besuchen, denn diese verbrachte die Ferien bei ihren Großeltern. Veronicas Großeltern hingegen lebten nicht mehr.

Während sie sich den Kopf darüber zerbrach, was sie als Nächstes tun sollte, kamen ihr die Tränen. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und ließ den Tränen freien Lauf. Nach einiger Zeit hob sie den Kopf und blickte wieder auf den ruhigen See hinaus. Ihr Blick war von den Tränen getrübt, doch sie konnte die zwei Enten von vorhin erkennen. Und durch den Schleier ihrer Tränen erkannte sie noch etwas, das hoch über den Enten, mitten in der Luft, zu schweben schien.

Verwundert rieb sie sich die Augen. Dann blinzelte sie ein paar Mal, um wieder klar zu sehen, und schaute nach oben. Einige Meter über der Stelle, an der die Enten über das Wasser glitten, schwebte mitten in der Luft ein kleiner Gegenstand. Er war so klein wie eine Obstschale, hatte aber die Form eines Bootes. Seine türkisgrüne Farbe glänzte wie ein Smaragd in der strahlenden Sonne. Ganz langsam schien das kleine Boot auf das Wasser zuzusteuern.

Veronica blickte oberhalb des Bootes, um nach einem Seil zu suchen, an dem es womöglich hing. Ihr erster Gedanke war, dass jemand in einem der Bäume am Ufer versteckt war und sich einen Scherz erlaubte. Doch das Boot schien an keinem Seil zu hängen – es schwebte so sicher und eigenständig in der Luft, als befände es sich auf dem Wasser.

Mit pochendem Herzen beobachtete Veronica, wie sich das Boot langsam der Stelle auf dem Wasser näherte, an der die zwei Enten schwammen. Offenbar wollte es auf dem See landen. Als wollten sie Platz machen, entfernten sich die Enten gemächlich von der Stelle. Das Boot war nur noch etwa einen Meter vom Wasser entfernt, als zwei Köpfe aus seinem Inneren hervorlugten. Veronica schlug ihre Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Denn aus dem türkisgrünen Boot in der Luft schauten eine kleine schneeweiße Katze und ein dunkelbrauner Hund hervor. Beide stützten ihre Vorderpfoten auf dem oberen Rand des Bootes ab und blickten auf den See unter ihnen.

Veronica sprang auf und versteckte sich hinter der Bank. Dann streckte sie den Kopf ein wenig seitlich hervor, um zu beobachten, was als Nächstes geschah.

Für einen kurzen Augenblick verschwanden die Katze und der Hund im Inneren des Bootes, und als ihre Köpfe wieder hervorschauten, kam eine große hellgrüne Flasche zum Vorschein. Die zwei kleinen Tiere stützten die Flasche mit ihren Vorderpfoten und hielten sie hoch über den Bootsrand. Dann neigten sie sie leicht und ein smaragdfarbenes Pulver schoss hervor. Augenblicklich erfüllte grünlich schimmernder Glitzer, der zu Veronica herüberwehte, die Luft. Kleine Glitzerpartikel fielen auf sie wie Schneeflocken im Winter herab, nur dass sie smaragdgrün waren. Sie fühlte sich mit einem Mal benommen und verspürte den Drang zu niesen. Mehrmals hintereinander nieste sie. Als sie wieder um sich blickte, war der Glitzer verschwunden und ihre Benommenheit verflogen.

Das Boot ließ sich nun auf dem Wasser nieder, nur ein paar Meter von Veronica entfernt, und steuerte langsam auf das Ufer zu. Es hatte keine Ruder und es war auch kein Motorengeräusch zu hören. Das Boot schien von selbst zum Ufer zu gleiten. Als es auf dem kiesbedeckten Ufer angelangt war, sprangen die zwei Bootsinsassen heraus. Die weiße Katze war eine Spur kleiner als ihr Begleiter und hatte eine himmelblaue Schleife um den Hals. Der dunkelbraune Hund trug keine Schleife, hatte aber einen großen weißen Fleck oberhalb des rechten Auges.

Veronica stellte mit Entsetzen fest, dass die zwei in Richtung ihrer Bank kamen. Und dann sah sie die Katze ihre Lippen bewegen.

„Die Arme, sie ist erschrocken.“

Als Veronica diese Worte vernahm, presste sie beide Hände gegen den Mund, um nicht loszuschreien.

Marismera

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