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ОглавлениеZwei Personen habe ich aus dieser Zeit besonders gut in Erinnerung: Hella und Franz. Hella war unser Kindermädchen. Als sie bei uns zu arbeiten begann, war sie erst 14 Jahre alt. Wir liebten sie wie eine große Schwester, ja vielleicht sogar noch mehr, denn sie stand außerhalb der Konkurrenz, die unter uns Schwestern herrschte. Sie war immer für uns da, ihrem Wesen nach wirkte sie ausgleichend. Vater war ein sehr aufbrausender Mensch, und Mutter neigte zur Hysterie. Hella war der Ruhepol in der Familie und insofern sehr wichtig für uns Kinder.
Franz war bei uns als Landarbeiter eingestellt und wohnte im Haus in einem Mansardenzimmer. Bei der schweren Arbeit am Feld unterstützte er vor allem die jüngeren Geschwister, gerade sie konnten mit dem Arbeitstempo nicht mithalten. Wenn sie eine Reihe Rüben zu scheren hatten und zu weit zurückfielen, kamen ihnen Franz und zumeist auch Hella zur Hilfe.
Im Sommer bestand ein wesentlicher Teil der Feldarbeit für uns Kinder im Schlichten der Strohballen. Das vom Mähdrescher ausgeworfene Stroh wurde mit einer Strohpresse, der ein Traktor vorgespannt war, aufgenommen und zu Ballen gepresst. Wir mussten die schweren Ballen entgegennehmen und auf den Wagen schlichten. Franz war dabei meist unser Vorarbeiter. „Setzt euch hin und ruht euch ein bisschen aus“, meinte er dann in seiner gutmütigen Art, wenn es uns zu viel wurde. Wir hatten großes Glück, so liebenswerte Menschen im Haus zu haben!
Am schlimmsten war die Feldarbeit, wenn die Sonne unerbittlich auf die abgemähten Felder der niederösterreichischen Tiefebene brannte, wir fühlten uns nahe an einem Hitzekollaps. Wann würde Vater begreifen, dass er zu viel von uns verlangte? Weil wir es doch immer mit letzter Kraft irgendwie schafften, sah Vater keinen Anlass, seine Leistungsanforderungen zu drosseln.
Wenn Mutter an solchen Tagen das Mittagessen auf das Feld brachte und wir es auf einem schattigen Platz verzehrten, dann hatte das gemeinsame Essen nach solch körperlich auszehrender Arbeit etwas sehr Schönes.
Rosi sieht mich überrascht an. „Dass du das so empfunden hast! Für mich war da nichts Schönes dabei. Mutter hat unserem Vater oft vorgehalten, dass die Arbeit für uns zu schwer sei, da wir doch Mädchen seien und nicht so hart arbeiten dürften. Das war aber auch schon alles, mehr hat sie nicht für uns getan. Mir ist es damals schon so vorgekommen, als würde sie das nur so beiläufig sagen, um uns zu zeigen, dass sie sich für uns einsetzt. Wirklich unternommen hat sie nichts. Vater hat sich für ihre Meinung nicht interessiert und uns rücksichtslos ausgenützt. Wir waren eben billige Arbeitskräfte. Heute wäre diese Arbeit vermutlich für Kinder verboten. Und die Ohrfeigen sind sowieso nicht mehr erlaubt. Diese Verbote sind für uns zu spät gekommen.“
Die Tätigkeiten, die wir auszuführen hatten, waren in der Regel stumpf und erforderten Ausdauer und Kraft. Interessantere Arbeiten durfte nur unser Bruder Sebastian verrichten. Schon mit fünf Jahren fuhr er mit dem Traktor, und der Vater förderte ihn in jeder Weise. Ihm erklärte er, wie alles funktionierte und warum die Arbeit in dieser oder jener Weise zu verrichten sei.
Sebastian liebte die Arbeit auf dem Hof und war mit Begeisterung bei der Sache. Die Schule interessierte ihn weniger. Wenn er mittags heimkam, warf er seine Schultasche in die Ecke und lief hinaus in den Hof, um zu arbeiten. Vater hatte ihm einen alten Pflug geschenkt, Sebastian wusch und ölte dieses Gerät hingebungsvoll. Die Eltern beobachteten glücklich die Begeisterung ihres Sohnes für die Landwirtschaft. In diesen Momenten herrschte Harmonie zwischen Vater und Mutter.
Als wir noch klein waren, spielten wir am liebsten hinter dem Haus. Da gab es einen Sandkasten, und meist lagen auch irgendwelche Traktorreifen herum. Oft kam unsere Freundin Lisa zu uns. Sie liebte es, so viele Kinder als Spielkameradinnen zu haben. Kinder aus der Nachbarschaft fanden sich immer bei uns ein, ebenso unsere Cousins Norbert und Martin. Für die anderen war es offensichtlich sehr schön bei uns. Unsere Mutter war großzügig und für uns konnten es nicht genug Kinder sein. Alle waren willkommen. Gern spielten wir Familie oder auch Fronleichnam mit Altären und allem Drum und Dran. Auch die feierliche Prozession durfte nicht fehlen. Dafür mussten wir zehn Kinder sein, aber das waren wir ja oft. Mutter war es am liebsten, wenn wir uns alle im Haus oder Hof aufhielten, damit sie uns gut im Blick hatte.
Wir freuten uns, wenn unsere Cousins – viele waren in unserem Alter – zu uns kamen und mit uns spielten. Zu ihnen nach Hause gingen wir nicht so gerne, weil ihre Eltern uns gegenüber nicht besonders gastfreundlich waren. Wir waren lieber zu Hause, und Mutter war das auch lieber. Fremde Buben, also Buben, die mit uns in die Schule gingen, durften unser Haus nicht betreten. Da war Vater sehr streng.
Als wir wieder einmal im Hof spielten, entspann sich ein fürchterlicher Streit. „Ich will einen eigenen Puppenwagen“, schrie Rosi laut. Wir hatten nur einen, und wir anderen Kinder waren nicht bereit, ihn ihr allein zu überlassen, also zog sie beleidigt ab. Sie lief über den Hof in den Keller, weil sie wusste, dass dort ein alter ausrangierter Puppenwagen stand. In der Eile drehte sie das Licht nicht an, sondern ließ nur die Tür offen stehen. Sie fasste den alten Kinderwagen, der festgeklemmt zwischen tausend anderen Sachen war, am Griff und zog mit aller Kraft daran. Inzwischen war die Kellertür zugefallen. Es war stockdunkel, und als sich der Wagen mit einem Ruck löste, fiel Rosi rücklings in den tiefen Brunnen, der sich dort befand und der gerade offen stand. Es war reiner Zufall – oder Intuition –, dass Vater kurz darauf in den Keller ging. Rosis Hilferufe hatte er mit Sicherheit nicht gehört, weil sie von den lauten Maschinen im Hof übertönt wurden. Erst als er die Tür öffnete, hörte er sie rufen. Mithilfe von zwei Arbeitern ließ er sich dann an einem Seil in den tiefen Brunnen hinunter, um seine Tochter zu retten.
„Ich habe unglaubliches Glück gehabt, dass in dem Brunnen kein Wasser war, sondern nur Schlamm. Ich bin weich gelandet. Nun bin ich da unten im Brunnen gestanden, alles war dunkel. In meiner Verzweiflung habe ich versucht, seitlich die Wände hochzukommen, aber es war alles glitschig, und ich bin immer wieder abgerutscht. Ich habe aus Leibeskräften nach Vater geschrien.“ Später hat er mir erzählt, dass er – mithilfe des Seils unten bei mir angekommen – gedacht hat, mein Körper sei voll Blut, dabei war es nur der Schlamm. Wie durch ein Wunder bin ich unverletzt geblieben. Mutter hat gesagt, ich hätte einen Schutzengel gehabt. Ich bin bis heute überzeugt davon, dass das stimmt. Und so einen Schutzengel habe ich immer wieder in meinem Leben gespürt.“
„Vater hat diese Geschichte oft erzählt, weil er so stolz darauf war, dass du nach ihm und nicht nach Mutter gerufen hast.“
„Ja, es war uns immer bewusst, dass Vater uns helfen kann. Er war ein von sich überzeugter Mann und hat für alles eine Lösung gewusst. Keine Anforderung war ihm zu schwierig und hilfsbereit war er zudem. Mutter ist mir da eher hilflos vorgekommen. Ich glaube, deshalb sind wir Mädels so selbstständig geworden, weil uns das an Vater gefallen hat. Die Rolle der Frau, wie sie Mutter übernommen hat, wäre nichts für uns, weder für dich noch für mich.“
„Wenigstens hat sie Unterstützung gehabt. Erinnerst du dich noch an die Waschfrauen?“
Einmal in der Woche kamen zwei Waschfrauen ins Haus. In einem riesigen, mit Holz befeuerten Kessel kochten sie Wasser und wuschen, rumpelten und schwemmten in einem hölzernen Waschtrog in der Waschküche einen Riesenberg Wäsche. Eine große Errungenschaft zu Beginn der Sechzigerjahre war die Zentrifuge, die das anstrengende Auswringen per Hand überflüssig machte. Zum Bügeln brachten wir dann die getrocknete Wäsche zu einer Frau in der Nachbarschaft.
Außerdem war es üblich, dass wir von Zeit zu Zeit zu einer Schneiderin und auch zu einer Strickerin fuhren. Sie nähten für uns sechs Mädchen Kleider aus ein und demselben Stoff oder strickten gleich aussehende Röcke und Pullover. Auf manchen Fotos posieren wir, nach Größe aufgereiht, in unseren exakt gleichen Röcken, Blusen und Pullovern vor der Kamera, aufgereiht wie die Orgelpfeifen.
Wenn auf dem Hof für saisonale Arbeiten Verstärkung gebraucht wurde, etwa bei der Ernte oder der Weinlese, halfen Taglöhner aus. Sie brachten gute Stimmung in unser Haus. Wir Kinder fanden das lustig und abwechslungsreich.
Zweimal im Jahr, im Lauf des Frühlings und des Sommers, wohnten mehrere Saisonarbeiterinnen aus dem südlichen Burgenland für ein paar Wochen bei uns. Sie wurden für das Setzen und Ausnehmen der Rüben gebraucht, was damals noch händisch erfolgte. Bis zu zwanzig Personen saßen dann am Mittagstisch.
„Da war dann endlich was los!“, erinnert sich Rosi und erzählt weiter: „ Diese Frauen aus dem südlichen Burgenland, die ein anderes Deutsch gesprochen haben, hat man kaum verstanden. Sie waren für uns wie aus einer anderen Welt. Im Vergleich zu ihnen lebten wir in einer mondänen Welt.“
„Und trotz der vielen Menschen, dem Trubel, der auf dem Hof geherrscht hat, war der Tagesablauf für uns Kinder sehr geordnet“, ergänze ich.
Rosi lacht auf. „Weißt du noch, wie Großmutter jeden Abend dafür gesorgt hat, dass unsere Kleider für den nächsten Morgen gerichtet waren? Sie hat für jedes Kind die Wäsche vorbereitet – von der Unterhose über die Socken bis zur Oberbekleidung – und sie unserem Alter nach in der Küche aufgereiht. In der Früh hat sie uns beim Waschen geholfen, uns unsere langen Haare zu Zöpfen geflochten und gemeinsam mit Mutter das Frühstück und die Jause für die Schule hergerichtet. Ohne Schürze haben wir nicht in die Schule dürfen. Nur sonntags, zum Kirchgang, haben wir unsere schönen Kleider getragen. Das Gewand hat ja sauber bleiben müssen. Ich sehe das Bild heute noch vor mir: In der Küche auf der Anrichte sind die ‚Binkerl‘, wie wir es genannt haben, gelegen. Man hat es nur nehmen – das zweite war meins – und anziehen müssen. Es war alles perfekt! Und das jeden Morgen.“
Unsere Großeltern wohnten gleich gegenüber, in einem Haus, das nur durch einen gemeinsamen Hof getrennt war. Großmutter war sehr wichtig für uns Kinder. Wir alle hatten sie sehr gerne. Jeden Morgen, wenn wir aus dem Haus waren, ging sie in die Kirche und betete für uns, vor allem, wenn wir eine schwierige Prüfung hatten. Abends saß sie meist bei uns im Wohnzimmer und sah fern. Einen eigenen Fernseher besaß sie nicht.
Auch den Großvater habe ich in guter Erinnerung. Immer noch sehe ich ihn unter dem prächtigen Nussbaum in unserem Hof sitzen. Im Schatten der grünen Äste rauchte er gemächlich seine Zigarette. Manchmal beauftragte er uns damit, ihm ein Bier zu holen. Er war immer zufrieden, beschäftigte sich viel mit uns kleinen Kindern, lehrte uns allerlei Reime. Großvater ist in seinem 68sten Lebensjahr an den Folgen eines Schlaganfalles gestorben. Ich erinnere mich noch gut, wie er vom Krankenhaus nach Hause kam und, gestützt auf unseren Vater, ins Haus geführt wurde. In der folgenden Nacht ist er dann von uns gegangen.
Damals war es üblich, die Toten zu Hause aufzubahren. Verwandte und Freunde kamen ins Haus, um gemeinsam zu trauern. Da saßen dann alle um den Toten herum und beteten leise murmelnd den Rosenkranz.
Nach Großvaters Tod gingen wir, wenn uns mal langweilig war oder wir Stress in der Familie hatten, oft in Großmutters Wohnung, die in einem Nebengebäude war.
Großmutter litt in ihren Sechzigern an Magenkrebs, worauf ihr ein Drittel des Magens entfernt wurde. Außerdem war sie „zuckerkrank“ und hielt sich diszipliniert an ihre Diätvorschriften. Sie nahm kaum etwas zu sich, außer vielleicht ein Stück Brot, eingeweicht in Milch. Als sie operiert werden musste, sagte ihr der Arzt, dass sie nur noch fünf Jahre zu leben hätte. Sie lebte dann noch zwanzig Jahre.
Unsere Großeltern waren stets freundlich, aufmerksam und großzügig mit uns. Sie kritisierten uns nie, alles, was wir machten, war toll. Ich denke, so sollten Großeltern sein.
Das schlechte Verhältnis, das zwischen Großmutter und ihrer Schwiegertochter – unserer Mutter – bestand, tat unserer Zuneigung zu Großmutter keinen Abbruch. Wir fühlten uns wohl bei ihr und verstanden nicht, warum es zwischen den beiden Frauen Streit gab. Großmutter und Mutter waren einfach zu unterschiedlich. Es begann damit, dass sich Mutter von ihrer Schwiegermutter nicht gut aufgenommen gefühlt hatte, als sie nach der Hochzeit ins Haus ihres Mannes gezogen war. Mit dem Großvater hätte sie sich gut verstanden, aber nicht mit der Großmutter, erzählte sie uns … Was ganz genau dahinter steckte, erfuhren wir nie wirklich.
Als Großmutter im Sterben lag, ließ sie nach unserer Mutter rufen. Bei diesem letzten Zusammentreffen bat Großmutter sie um Verzeihung. „Ich bin dir keine gute Schwiegermutter gewesen“, sagte sie zu meiner Mutter. Mutters Reaktion war typisch für sie. Obwohl sie so viele Jahre im Kampf gegen die Schwiegermutter zugebracht hatte, war sie nun am Sterbebett sofort bereit, sich zu versöhnen: „Schau, du hast deinen Buben gerne gehabt und ich auch. Das war unser ganzer Konflikt.“ Mit diesen Worten ließ sie die alte Frau in Frieden und versöhnt gehen. Für diese Großherzigkeit liebten wir unsere Mutter sehr.
Ihre eigenen Eltern lebten in einem Nachbarort. An vielen Sonntagen fuhr Mutter mit uns Kindern dorthin auf Besuch, zu einem großen, lauten und fröhlichen Familientreffen – Mutter hatte fünf Geschwister, die alle mit ihren Kindern kamen. Wir hatten mütterlicherseits 17 Cousinen und Cousins. Für die vielen Kinder gab es bei den Großeltern nicht immer genug Sitzgelegenheiten. Wer als Erster kam, ergatterte einen Platz. Wenn die in Wien lebende Tante Luise mit ihren drei Kindern auch dabei war, flüsterte Mutter uns zu: „Steht auf und macht den Wiener Kindern Platz!“ Das ärgerte uns sehr. Lange wussten wir nicht, weshalb sie das tat. Vielleicht weil Luise ihre ältere Schwester war?
Die Großeltern freuten sich immer riesig über unseren Besuch. Großvater überreichte jedem von uns fünf Schilling mit dem Spruch: „Kauf dir beim Frisch ein Gfrorenes!“ oder: „Kauf dir beim Frisch ein Packerl Schnitten!“, je nach Jahreszeit. Frisch, so hieß der Wirt vor Ort. Außerdem gab es bei den Großeltern das geliebte Kracherl zu trinken, das uns dann jedes Mal bei der Heimfahrt auf den Magen schlug.
Mit ihren Geschwistern und Eltern war Mutter glücklich und ausgelassen. Sie scherzte und erzählte alle möglichen Geschichten. Wenn Vater nicht mit dabei war, konnte sie sich bestens unterhalten und herrlich alle möglichen Leute nachahmen. Wenn Vater mitfuhr, dominierte meist er das Gespräch. Dann neckte er gerne Tante Luise, und manchmal gerieten sie sich wegen ihrer unterschiedlichen politischen Ansichten in die Haare. Vater war der Meinung, dass niemand so viel arbeiten würde wie die Bauern, er jammerte über deren Steuerlast und deren geringen Verdienst für ihre außergewöhnliche Leistung. Dass die Arbeit einer Hauptschullehrerin in Wien auch herausfordernd sein konnte, wollte ihm nicht einleuchten.
Im Haus meiner Großeltern gerieten meine Eltern oft in Streit. Die Großeltern mischten sich niemals ein. Obwohl es in ihrer eigenen Ehe nie ein lautes Wort gab, mussten sie mit anhören, wie Vater mit Mutter herumbrüllte und sie oft grob zurechtwies, wenn ihm etwas nicht passte. Die Großeltern saßen daneben und äußerten sich nicht dazu. Uns waren diese öffentlichen Beschimpfungen sehr unangenehm.
Viel später erzählte mir Mutter einmal, dass sie eines Tages nach einem schrecklichen Streit mit Vater heim zu ihren Eltern gefahren war und darum gebeten hätte, wieder von ihnen aufgenommen zu werden. „Ich halte es nicht mehr aus“, hatte sie geschluchzt. Doch die Großeltern meinten beide übereinstimmend: „Du hast ihn dir ausgesucht, jetzt musst du bei ihm bleiben. Zu uns kannst du nicht kommen.“
Rosi fällt mir neuerlich ins Wort: „Ich erinnere mich noch, wie sie einmal ihre Tasche genommen und gesagt hat: ‚So, jetzt gehe ich nach Hause zu meinen Eltern.‘ Gespannt und ängstlich haben wir aus dem Fenster gesehen, wie sie aus dem Haus und in den Hof gelaufen ist. Wir haben uns sehr gefreut, als sie gleich darauf doch wieder zurückgekommen ist. Sie hätte es nie geschafft, uns zurückzulassen. Sie hätte weder mit uns gehen können noch ohne uns. Es ist ihr gar nichts anderes übrig geblieben, als bei Vater zu bleiben.“
In meiner Erinnerung waren die Großeltern immer schon sehr alte Leute. Sie behandelten uns freundlich und liebevoll, dennoch waren sie uns auch ein wenig fremd. Großvater war agil, Großmutter schien immer schon gesundheitlich angeschlagen. Sie fuhren gerne auf Kur, und wir besuchten sie dann in ihrem Kurort. Die beiden wirkten immer glücklich miteinander. Großvater hatte diese freigiebige Art, die uns sehr imponierte. Er lud uns alle in ein Gasthaus zum Mittagessen ein, und wir durften bestellen, was wir wollten. Und das, obwohl wir zu neunt waren. Beim Zahlen gab er den Kellnern auch noch ein großzügiges Trinkgeld. Wenn das Essen schmeckte, ließ er sogar dem Küchenpersonal Trinkgeld schicken.
Mitte der Sechzigerjahre begannen sich die Verhältnisse zu ändern. In Österreich gab es damals Vollbeschäftigung und einen Mangel an Arbeitskräften. Die Bauern schafften sich immer mehr Maschinen an, die sie von der schweren körperlichen Arbeit deutlich entlasteten. Das offene Hausleben mit den vielen Erntehelfern kam nach und nach zu einem Ende.
Die Menschen aus dem Dorf begannen damit, für ihre Arbeit in die Hauptstadt Wien zu pendeln. Viele Dörfer wurden nach und nach zu Schlaforten. Dieses Schicksal blieb auch Dormus nicht erspart. Viel los war dort ja ohnehin nie gewesen. Abgesehen vom Kirchgang am Sonntagvormittag war der Ort ruhig. Oft herrschte gespenstische Stille.
Zu dieser dörflichen Ruhe fällt Rosi noch etwas ein: „Obwohl ich nicht besonders gut Klavier gespielt habe, habe ich oft im Wohnzimmer das Fenster aufgemacht, damit mich die Leute, die draußen vorbeigingen, hören konnten. Sie sollten wissen, dass in unserem Haus etwas los war, dass da Musik gemacht wurde.“
„Wirklich? Ich hätte das nie gemacht, ich hatte nie das Gefühl, gut genug zu spielen. Aber das war mir damals auch nicht wichtig. Was ich aber gewusst habe, war, dass ich definitiv etwas anderes als ein Leben auf dem Bauernhof wollte.“
Wie es damals üblich war, ging ich nach der Volksschule in die Hauptschule. Unser Vater hatte Pläne für mich: Ich sollte danach eine landwirtschaftliche Fachschule in Niederösterreich besuchen. Ich wollte jedoch nach Wien. Ich kämpfte und weinte, erfolglos. Vater war unerbittlich. Dann passierte etwas Wunderbares: Zwei Tage vor Schulanfang spielte Vater mit der Blasmusik auf einem Begräbnis. Dort traf er zufällig meine Lehrerin, die sich nach mir erkundigte. Als sie von der landwirtschaftlichen Fachschule erfuhr, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: „Nein, Herr Berger, dieses Kind muss unbedingt Matura machen, und am besten ein musisch-pädagogisches Realgymnasium. Klara wäre gut geeignet als Lehrerin.“
Ich habe keine Ahnung, weshalb Vater davon so beeindruckt war. Aber er kam nach Hause, erzählte Mutter davon, und diese rief wiederum ihre Schwester an, die Lehrerin in Wien war. Sie sollte für mich eine Schule finden. Es gab nur noch eine einzige Schule mit einem Internatsplatz, Sankt Ursula in Mauer. Dort durfte ich auch hin. Ich konnte mein Glück kaum fassen!
„Das war auch für mich ein Riesenglück“, meint Rosi. „Ich war nicht die Kämpferin. Es musste immer alles leicht gehen, sonst habe ich es nicht gemacht. Als ich vierzehn war, hat mich Mutter gefragt, ob ich auch nach Sankt Ursula wollte. Als ich ja gesagt habe, hat sie mich angemeldet. Vater hat nicht protestiert, also bin ich ins Internat gekommen. Es war wunderbar dort, diese Ruhe, dieser Frieden, keiner hat geschrien, man hat nicht körperlich arbeiten müssen.“ Rosis Blick wird schwärmerisch. „Das Wochenende haben wir dann daheim verbracht. Weißt du noch, am liebsten wären wir übers Wochenende auch im Internat geblieben. Zwei Jahre lang habe ich dich beneidet. Wir anderen Schwestern haben es so ungerecht gefunden, dass Mutter dir – obwohl du es sowieso besser gehabt hast als wir – sogar Päckchen mit Süßigkeiten und anderen Leckereien ins Internat geschickt hat. Wenn du am Wochenende daheim warst und wir gestritten haben, dann habe ich schon mal zu dir gesagt, dass ich froh bin, wenn du wieder im Internat bist. In Wahrheit habe ich dich sehr darum beneidet.“
In diesen Tagen fragte ich mich oft, wer mir dabei geholfen hatte, mein Leben in die von mir so sehnlichst gewünschte Bahn zu lenken. Mein Lieblingslied in dieser Zeit hatte den klingenden Titel Wenn der Herr-gott net will, nutzt es gar nix. Ich war christlich aufgewachsen, unser Leben war von Kirchenfesten geprägt gewesen. Das gab mir einen festen Rahmen und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ich fühlte mich darin aufgehoben und geschützt. Damals entstand bei mir das Grundgefühl, mein Leben beruhigt in Gottes Hand legen zu können. Gott war für mich der Lenker meines Lebens.
Das Gefühl, dass es ein höheres Wesen oder eine höhere Macht tatsächlich gab, begann in meiner Kindheit. Damals fiel mir auf, dass ich viele Wünsche hatte, für deren Verwirklichung es jedoch auch Unterstützung von außen brauchte. Allein konnte ich die Dinge nicht bewirken, wenn jedoch das Schicksal auf meiner Seite war, dann würden sie sich erfüllen. Das wurde damals zu meiner Lebensphilosophie.
Mit meinem heutigen Verständnis würde ich es vielleicht so beschreiben: Möglicherweise weiß die Seele um ihren Weg, und Wünsche und Sehnsüchte werden in unserem Herzen festgeschrieben, und es liegt an uns, die Chancen des Lebens zu ergreifen oder nicht. Ich meine – und da schließe ich mich all den großen Denkern und Philosophen vieler Jahrhunderte an –, dass es in unserem Innersten, in jedem von uns, einen Wesenskern gibt, der über das hinausgeht, was wir für unser Leben halten. Etwas über Zeit und Raum hinaus, auch wenn das schwer vorstellbar ist. Durch diesen Kern sind wir „mit dem universellen Sein verbunden“, wie das der große C. G. Jung, einer der Begründer der Psychoanalyse, ausdrückt. Dieser Kern unterstützt uns dabei, unser Leben zu verwirklichen. Unser Schicksal kann uns dabei behilflich sein, unsere individuelle Lebensaufgabe herauszufinden. Dann müssen wir nur vertrauen und uns ganz auf das Leben einlassen. Auch wenn es in schwierigen Situationen herausfordernd ist, vertrauensvoll Ja zu unseren Lebensaufgaben zu sagen.
Rosi macht eine wegwerfende Handbewegung. „Also da habe ich eine völlig andere Einstellung!“
„Ich weiß“, gebe ich zurück.
„Ich habe – um ins Internat zu kommen – nicht an etwas Überirdisches gedacht und auch nicht daran geglaubt, dass mir da ein Gott helfen könnte. Ich habe gewusst, dass Mutter es mir möglich macht. Ich wollte nichts wie weg von Dormus, weg von zu Hause, nach Wien, in die Großstadt, in eine andere Umgebung, in eine andere Gesellschaft, weg vom bäuerlichen Leben! Dass ich das Gymnasium schaffe, war mir sowieso klar. Sehr fleißig war ich nicht in der Schule, aber eins habe ich immer gewusst: Durchfallen darf ich auf keinen Fall. Diese Schmach wollte ich nicht erleben, in eine Klasse zu kommen, in der alle ein Jahr jünger waren als ich. Also habe ich immer so viel gelernt, dass ich es ohne Risiko geschafft habe.“