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ОглавлениеUns Schwestern verband eine tiefe Liebe. Natürlich hatten wir auch heftige Auseinandersetzungen und Kämpfe, die lautstark und nicht selten mit körperlichem Einsatz ausgetragen wurden. Wir besprachen unsere Erlebnisse miteinander, wir vertrauten einander unsere tiefsten Geheimnisse an, wurden wider Erwarten verraten und verleumdet. Wir waren verfeindet und wieder verbündet, kämpften und schlugen einander, schimpften übereinander, lachten und weinten zusammen. Ständig redeten wir miteinander und übereinander. Vertrautheit und hintergangen zu werden, das gehörte unter uns Schwestern zusammen. Ebenso wie Unterstützung und Konkurrenz, Wettkampf und Teamgeist. Alles durfte bei uns ausgelebt werden. Nur selten mischten sich die Eltern ein.
Ich lernte früh mich durchzusetzen, denn meine Vorrangstellung als Älteste wollte ich mir von niemandem streitig machen lassen, schon gar nicht von Rosi. Sie war ja nur eineinhalb Jahre jünger und forderte mich ständig heraus. Wir waren so gegensätzlich wie Geschwister nur sein können – Schneeweißchen und Rosenrot. Ich war blond, Rosi war dunkelhaarig. Ich war verträumt, sie packte an. Ich war sensibel, sie war resolut. Ich war bedacht, sie war schnell. Ich war schüchtern, sie war laut. Ich war ruhig, sie war wild. Ich war die Langstreckenläuferin, und sie war die Sprinterin.
Rosi seufzt: „Ich muss wirklich eine große Herausforderung für dich gewesen sein. Ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen gehabt, dass ich so mit dir umgegangen bin, später, als ich schon längst erwachsen war, und vor allem in der Zeit, in der wir uns ausgesprochen schlecht verstanden haben.“ Sie hält kurz inne. „Aber heute weiß ich, dass ich kein schlechtes Gewissen zu haben brauche, weil ich das Recht hatte, so zu sein, wie ich war und wie ich bin. Ich war und bin einfach die Wildere und du die Ruhigere. Ich habe mich manchmal als die Hauptfigur in Der Widerspenstigen Zähmung gesehen. Und als Kind habe ich mich tatsächlich mit Rosenrot identifiziert, während du für mich Schneeweißchen warst. Das war mein Lieblingsmärchen damals. Ich war einfach die Mutige und Draufgängerische und du die Zarte und Weibliche.“
Während Rosi das erzählt, fällt mir noch folgende Szene ein und ich kritzle schnell ein paar Notizen in mein Heft: Ich war in der ersten Klasse Volksschule und machte mit Vater Rechenaufgaben. Er forderte mich auf, sie ohne Hilfe meiner Finger im Kopf zu lösen. Rosi war auch dabei, sie saß unter dem Tisch. Sie aber rechnete mit den Fingern und rief immer wieder blitzschnell das Ergebnis von unten hervor.
Rosi trinkt genießerisch von ihrem Bier und sieht mir zu. „Ist dir noch was eingefallen?“
„Ja, kleinen Moment noch. Wenn ich so mit dir rede, kommen immer wieder Episoden aus unserer Kindheit hoch. Eine davon beschreibe ich jetzt gleich.“
Wenn Rosi und ich um die Wette liefen und sie merkte, dass sie nicht gewinnen konnte, blieb sie einfach stehen und sagte: „Ich spiel nicht mehr mit.“ Als ich sie viel später einmal daran erinnerte, meinte sie nur: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du einmal schneller warst als ich.“
Das Gefühl, zu langsam zu sein, bei allem zu lange überlegen zu müssen, prägte mich für mein ganzes Leben. Viele Jahre lang erschienen mir die anderen schneller und klüger als ich. Irgendwann wusste ich: Ich bin ausdauernd, ich weiß, was ich will, und lasse mich nicht so leicht aus dem Konzept bringen. Auch wenn mich andere überholen, bleibe ich beharrlich an meinem Vorhaben dran. „Die Durchzieherin“ – so nannten mich meine Geschwister schon in jungen Jahren.
Rosi bestätigt mir das auch heute wieder: „Ja das bist du – ich bin das nicht. Ich weiß vor lauter Ideen oft gar nicht, wo ich beginnen soll. Ich arbeite oft an mehreren Projekten gleichzeitig, die ich natürlich nicht alle zu Ende bringen kann. Oder ich fange etwas mit Begeisterung an und hör wieder auf, wenn es etwas Neues, Interessantes gibt. Na ja, ein bisschen was habe ich ja auch fertiggebracht – mit zeitlichem Druck von außen. Ohne Druck geht gar nichts bei mir.“
„So haben wir eben alle unsere Strategien entwickelt, um uns behaupten und etwas durchsetzen zu können“, sinniere ich. „Die Kindheit ist wohl immer eine Art Überlebenstraining.“
„Aber das Leben auf einem großen Bauernhof hat trotz strenger Erziehungsregeln auch viel Freiraum für uns bedeutet“, erwidert Rosi.
„Das Einzige, was man bei uns zu Hause nicht durfte, war, eine Schwäche zuzugeben. Dann war man verkauft und verraten, verspottet und verloren. Dass das nicht unproblematisch war, habe ich erst viel später verstanden.“ Rosi nickt. „Ja, eine Schwäche zu zeigen, das war niemals gut. Unser Vater hätte das nicht verstanden, und unsere Mutter hätte uns dafür lächerlich gemacht – so gutherzig sie sonst war. Auch sie hat nur Stärke gezeigt. Sie war ja auch eine starke Frau und unser Vater ein selbstbewusster Mann, der wusste, was er wollte, und der keine Angst kannte. Das hat uns Sicherheit gegeben: Er hat immer einen Weg gewusst.“ Ich nehme meine Ausdrucke wieder zur Hand und lese weiter.
Innerhalb der Familie war man nie allein. Hatte man sich mit einer Schwester zerstritten, was oft genug der Fall war, gab es ja noch andere Schwestern, die für einen da waren. Obwohl unsere Mutter sehr fürsorglich war, wusste sie auch, dass ihre Kraft und ihre Zeit nicht für alle reichten. So war sie immer vor allem für diejenigen da, die ihre Unterstützung, ob emotional oder finanziell, gerade am meisten brauchten. Mutter handelte nach einer höheren Gerechtigkeit. Als Kind fand ich diese Haltung oft ungerecht und wünschte mir, dass sie ihre Fürsorge auf uns alle gleichmäßig verteilt hätte. Heute denke ich: Wie hätte sie das schaffen sollen? Jedes Kind gleich zu behandeln, war ohnehin eine Illusion – auch wenn wir genau das von ihr forderten.
Mutter wollte uns immer jeden Wunsch erfüllen. Dass das finanziell oft nicht möglich war, tat ihr sehr weh. Sie verausgabte sich in vielerlei Hinsicht, um uns glücklich zu machen. Als wir Kinder trotz ihrer Liebe auch unsere Krisen und Probleme hatten, enttäuschte sie das sehr.
„Sie hat viel Geld für uns ausgegeben“, murmelt Rosi nachdenklich. „Als der Zahnarzt in Wien zu ihr gesagt hat: ‚Am besten wären Goldplomben für ihre Kinder‘, da hat sie doch tatsächlich für jede von uns Goldplomben in Auftrag gegeben, ohne das mit unserem Vater zu besprechen. Als Vater dann Monate später die Kontoauszüge gesehen hat, war das ein Streit, den ich bis heute noch in Erinnerung habe. Für sie hat immer nur gegolten: Nur das Beste für die Kinder.“
Rosi schüttelt in Erinnerung daran den Kopf: „Und weißt du eigentlich, dass Mutter zu mir immer wieder gesagt hat: ‚Um dich brauch ich mich nicht zu kümmern. Du schaffst das alles alleine.‘“
„Das zeugt doch von großem Vertrauen in dich“, werfe ich ein.
„Stimmt, und das hat mir auch gefallen, obwohl sie mich etwas weniger finanziell unterstützt hat, weil sie gemeint hat, dass ich das nicht so nötig hätte. Sie hatte ja immer derjenigen Geld gegeben oder was Neues gekauft, von der sie angenommen hat, dass sie das für ihr ‚Glück‘ grad brauchen würde.“
Ich beschließe, das erst einmal so stehen zu lassen.
Als Mutter eines Tages wieder einmal alles zu viel wurde, sie an allem und jedem etwas auszusetzen hatte und jammerte, dass ihre Kinder ihr nie auch nur eine Minute Zeit ließen, warf Rosi vorwurfsvoll ein: „Warum habt ihr dann so viele Kinder in die Welt gesetzt?“ Wir anderen Kinder hielten den Atem an, und auch meine Mutter zog hörbar die Luft ein. Dann holte sie Vater zu Hilfe. Der beantwortete die Frage so: „Setzt euch einmal alle nebeneinander! Bei wem hätten wir aufhören sollen? Von welcher von euch hättet ihr gerne, dass sie nicht da ist?“ – Damit war das Thema schnell erledigt, und Rosi schlug schuldbewusst die Augen nieder.
Rosi schmunzelt, als ich ihr diese Stelle vorlese. „Interessant, dass du dich daran noch so gut erinnerst. Ich habe damals noch zu Mutter gesagt: ‚Zwei Kinder wären doch genug gewesen: die Klara, sie hätte Bäuerin werden können und die Landwirtschaft bekommen, und ich, mich hättet ihr studieren lassen können.‘ Mein größter Wunsch war es immer, zu studieren. Praktische Arbeit hat mich nie interessiert, und Landwirtschaft schon gar nicht. Ich wollte immer nur lesen, etwas Neues lernen, verreisen, die Welt kennenlernen, Sprachen lernen, mit klugen Menschen zusammen sein, spannende Diskussionen führen …“ Rosi blickt versonnen in ihr Glas, dann richtet sie sich auf. „Wie geht es weiter?“
Bei so vielen Kindern war es fast ein Naturgesetz, dass jedes das Gefühl hatte, zu kurz zu kommen. Obwohl Mutter sich so sehr bemühte, schien uns das oft zu wenig zu sein. Wir beobachteten eifersüchtig, ob die anderen Schwestern nicht bevorzugt wurden. Wenn eine von uns etwas bekam, kam sofort die Frage: „Warum hat sie jetzt schon wieder etwas bekommen? Und was krieg’ ich?“ Wir waren – zumindest in den Augen unserer Eltern – gierige und schier unersättliche „Gfraster“.
Im Nachhinein kann ich heute verstehen, dass eine Mutter mit so vielen Kindern nicht allen gerecht werden kann. Ich erinnere mich sogar, dass sie einmal meinen Geburtstag vergessen hat. In gewisser Weise war es verständlich, weil mein Geburtstag in den Hochsommer fällt, wo es auf dem Bauernhof besonders viel Arbeit gibt. An meinem Geburtstag waren alle mit der Ernte beschäftigt. Man vergaß mich, niemand gratulierte mir. Tief enttäuscht und gekränkt verbrachte ich den ganzen Tag in der Hoffnung, irgendjemand würde sich darauf besinnen. Ich malte mir aus, wie es allen von Herzen leidtun würde. Dann wäre ich wieder versöhnt und glücklich. Aber die Stunden vergingen, die heiße Julisonne brannte vom Himmel, es herrschte hektische Stimmung, es gab Probleme mit dem Mähdrescher, die schweren Getreidewägen mussten ins Lagerhaus gefahren werden. Der Einsatz jedes Einzelnen wurde gebraucht. In der Küche brutzelte das Essen, das meine Mutter dann aufs Feld bringen würde. Es wurde von allen, die bei der Ernte mithalfen, im Schatten eines Baumes verzehrt. Der schöne Tag sollte zur Gänze genützt werden. Als die Sonne sich senkte, kehrten alle nach Hause zurück, müde, verschwitzt und staubig. Das Tagwerk war getan, langsam kehrte wieder Ruhe ein.
Von dieser Ernte hing ein Großteil unseres Einkommens ab. Und doch, ich war sieben, es war mein Geburtstag, und meine Familie hatte ihn vergessen. Ich hatte mir keine Geschenke, keine Geburtstagstorte, keine besondere Aufmerksamkeit erwartet, nur dass man mir gratulieren und an mich denken würde. Am Abend, nachdem ich bereits einen ganzen Tag gelitten hatte, fiel es meiner Mutter ein: „Klara, wie haben wir nur deinen Geburtstag vergessen können! Kinder, Vater, kommt alle her, jetzt lassen wir die Klara richtig hochleben!“
Dieses Erlebnis machte mir bewusst, dass es bei so vielen Kindern für jedes Einzelne nicht viel Aufmerksamkeit geben konnte. Ich fasste einen Entschluss: Im nächsten Jahr würde ich selbst dafür Sorge tragen, dass das nicht mehr passieren würde. In unserer Küche hing ein Kalender, in den wichtige Termine eingetragen wurden. Und da schrieb ich hinein: Klara hat in fünf Tagen Geburtstag, Klara hat in vier Tagen Geburtstag! So lernte ich, auf die Erfüllung meiner Wünsche und Sehnsüchte nicht tatenlos zu warten. Das half mir auch später in meinem Leben sehr.