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5.

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Im September 1964 brachten mich meine Eltern mit dem Auto ins Internat. Unsere Mutter hatte ihr Ziel erreicht: Sie wünschte sich, dass wir es besser haben sollten als sie und dass wir draußen in der Welt Erfolg haben sollten. Zugleich hatte sie auch Angst, denn sie spürte, dass dieser Weg mich von ihr entfernen würde.

Mein Vater, der nur so schwer davon zu überzeugen gewesen war, uns auf eine höhere Schule zu schicken, scherzte und lachte gleich nach unserer Ankunft mit den Nonnen im Internat, wie es eben seine Art war. Ich war glücklich, aber auch aufgeregt und etwas eingeschüchtert. Ich fühlte mich fremd in diesem großzügigen Bau der Sechzigerjahre. Man führte uns vom Empfang durch die Gruppenräume, den gepflegten Garten, durch die vielen Stockwerke und die langen Gänge mit den Zimmern. Zwei Jahre lang sollte ich in einem Vier-Bett Zimmer schlafen und ab der dritten Klasse in einem Einzelzimmer. Ein Zimmer nur für mich, so klein und funktionell eingerichtet es auch sein mochte – allein der Gedanke ließ mich strahlen. Zu Hause hatte ich an Privatsphäre lediglich ein Kästchen zum Zusperren, das ich mir selbst gekauft hatte. Dort lagen mein Tagebuch und die Liebesbriefe, die ich erhalten hatte. Es hatte nicht lange gedauert, bis das Kästchen aufgebrochen worden war. Meine Schwester Johanna schrieb die Liebesbriefe ab und tat so, als hätte sie sie bekommen. So viel zum Thema Privatsphäre. Selbst meine Kleider hatte ich immer herborgen müssen. Wenn Mutter mir etwas gekauft hatte, sagte sie stets: „Das gehört auch Rosi.“ Ich hatte nie etwas nur für mich, und das frustrierte mich jahrelang.

„Und ich habe nichts Neues bekommen, weil das oft nur dir zustand. Da habe ich mich schon manchmal benachteiligt gefühlt, denn ich wollte ja auch neue Kleider“, wirft Rosi ein. Wir blicken einander verständnisvoll an, dann ergreift Rosi wieder das Wort. „Das Internat in Wien war für mich allerdings einfacher als für dich, weil du schon da warst. Ich bin zwei Jahre später dazugekommen und war einfach nur froh, von daheim weggekommen zu sein. Ich bin recht selbstbewusst aufgetreten, als ich zum ersten Mal durch das Tor des Internats geschritten bin. Es hat mir gefallen. Es war ein neuer Anfang. Ich weiß noch, dass ein Mädchen auf mich zugekommen ist und mich gefragt hat, ob ich intern oder extern sei. Ich habe keine Ahnung gehabt, was das heißt, wollte mir aber keine Blöße geben und habe behauptet, ich sei extern. Ich habe gehofft, dass das stimmte. Leider nein!“ Wir müssen beide lachen. „Mir hat das Internat auch so gutgetan. Ich bin richtig aufgelebt“, lässt Rosi ihren Erinnerungen freien Lauf. „Es hat mir unglaublichen Spaß gemacht, nicht angepasst zu sein. Schon am zweiten Tag im Internat ist es zu einer Auseinandersetzung in unserer Gruppe gekommen, und wir sind wie wild im Studierraum herumgelaufen. War aber für mich alles nur Spaß. Ich habe mir einen Stuhl gegriffen, um die Mädchen, die mir nachgelaufen sind, von mir fernzuhalten, dann habe ich ihn auf den Boden geworfen und er ist kaputt-gegangen. Das war ziemlich peinlich, und ich bin damals schon als ‚Wilde‘ aufgefallen.“

„Ja, ich kann mich vage daran erinnern“, schmunzle ich.

Im Internat sollten Rosi und ich ein wesentlich freieres Leben kennenlernen, als wir es von zu Hause gewohnt waren. Ich war ein schüchternes und verträumtes Mädchen vom Land und mit einem Mal unter vielen Töchtern aus gutem Hause – ich staunte nicht wenig darüber, wie selbstbewusst und frei meine Schulkolleginnen sich durch ihr Leben bewegten und dass die Lehrkräfte und die Betreuerinnen im Internat das akzeptierten. Ich lebte mich jedoch schnell ein. Vor allem genoss ich die Großstadt mit ihren vielen Möglichkeiten. Dabei war Wien damals im Vergleich zu heute richtig gemütlich. Nur wenige Autos waren unterwegs, der öffentliche Verkehr war überschaubar, nur Straßenbahnen und die Stadtbahn standen als öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung.

In der Schule kam ich gut mit, und ich verstand mich gut mit meinen Schulkolleginnen. Einmal in der Woche durften wir in die Innenstadt fahren oder ins Kino gehen. Einer der ersten Filme, den wir uns ansahen, war My Fair Lady. Wir waren hingerissen von Audrey Hepburn als Eliza Doolittle. Nach der Vorstellung auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle sangen wir übermütig: Es grünt so grün. Wir gingen Arm in Arm. Ein bisschen erkannte ich mich auch selbst in Eliza Doolittle. Sie stammte wie ich aus einfachen Verhältnissen und war plötzlich in einer ihr gänzlich unbekannten Welt gelandet. Wie sie lernte auch ich schnell, mich anders auszudrücken. Die bäuerliche Sprache, wie ich sie bis dahin kannte, war bildhaft, derb und einfach. Die Sprache in der Schule war konkreter, reicher an Worten und differenzierter. Schwierigkeiten bereitete mir damals lediglich der Wechsel von einer Sprachwelt in die andere. Wenn ich vom Internat nach Hause kam und Hochdeutsch sprach, war Vater zutiefst erbost. „Bei uns reden wir immer noch Dialekt!“, herrschte er mich dann an.

Insgesamt waren meine Kindheit und meine Jugend voller Widersprüche. Am widersprüchlichsten von allem war das Verhältnis zu meinem Vater. Ich liebte ihn und bewunderte sein selbstbewusstes Auftreten, die Art, wie er Menschen zum Lachen brachte und den Unterhalter gab. Deutlich spürbar war, dass er auch uns, seine Kinderschar, liebte, zumindest auf seine Weise. Gleichzeitig war er äußerst streng mit uns und reagierte cholerisch.

Kurz vor Weihnachten besuchte ich zum ersten Mal die Oper und hörte La Bohème. Ich trug mein einziges elegantes Kleid, und noch heute kann ich mich an das feierliche Gefühl erinnern, als ich die Feststiege der Wiener Staatsoper unter dem beeindruckenden Deckengewölbe mit den polierten Stufen hinaufschritt. Es ging recht weit hinauf, denn die günstigsten Karten gab es für die Stehplätze auf der Galerie. Von oben eröffnete sich mir ein faszinierender Blick auf rund zweitausend festlich gekleidete Leute, die den Zuschauerraum füllten. Ich konnte es kaum glauben: für einen Abend ein ganzes Orchester, ein Chor, ein Ballett und Sängerinnen und Sänger, die mit ihren Stimmen diesen prunkvollen, riesigen Saal füllen konnten. Dann öffnete sich der Vorhang: Ich tauchte ein in eine völlig andere Welt und war in der Seele zutiefst berührt vom Gesang, der Geschichte, dem Weihnachtsabend im winterlichen Paris, den vier armen Künstlern, von Mimi … Noch heute verursachen mir die wunderbaren Liebesduette Gänsehaut. Die Oper wurde von nun an zu einem Highlight in meinem Leben, das Opernfieber hatte mich gepackt!

Auf Rosis Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. „Also so hast du deinen ersten Opernabend erlebt! Ich habe da ganz andere Eindrücke mitgenommen. Ich bin damals auch gerne in die Oper gegangen. Das erste Mal habe ich aber nicht so überraschend erlebt. Es war wie selbstverständlich für mich, dass ein Opernhaus prunkvoll sein muss.

Sie richtet sich auf. „Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Als wir kleine Kinder waren – du vielleicht sechs und ich vier –, da hat Mutter uns ein Ausmalbuch gekauft, so eines, wo man mit dem Buntstift drübermalt und es kommt ein Überraschungsbild zum Vorschein. Jede von uns hat so ein Büchlein bekommen. Du hast es so bewundernd betrachtet, dass ich sofort der Meinung war, dass du das bessere hattest. Ich wollte deines. Du hast mit mir getauscht. Nun hast du aber auch das andere wieder mit solcher Hingabe betrachtet, dass ich fest davon überzeugt war, du hättest wieder das bessere. Sofort habe ich den Tausch bereut.“ Rosi macht eine kurze Pause. „Und nun, wo du die Geschichte mit dem Opernhaus erzählst, geht mir ein Licht auf: Es wird mir grad klar, dass du alles, was neu für dich war, so bewundert hast, dass ich gedacht habe, das sei etwas ganz Besonderes!“ Rosi muss laut lachen.

Meine Schulzeit in Sankt Ursula in Wien war nur für ein Jahr vorgesehen. Dann sollte ich in eine wesentlich günstigere Schule nach Wiener Neustadt wechseln. Als meine Mutter das am Ende des Schuljahres der Internatsleiterin erzählte, reagierte diese entsetzt: „Aber wir haben die Klara doch alle so gerne! Was ist denn der Grund für den Wechsel?“ Meine Mutter knetete verlegen ihre Hände: „Wissen Sie, wir haben sieben Kinder. Wir können uns eine so teure Schule einfach nicht leisten, und die Schule in Wiener Neustadt kostet nur die Hälfte.“ Die Internatsleiterin sprach daraufhin mit der Schwester Oberin und kam kurz darauf mit der freudigen Nachricht zurück: „Klara kann um das halbe Schulgeld bis zur Matura bleiben.“ Wieder einmal stand ich fassungslos und überglücklich vor einem Wunder.

Als Rosi zwei Jahre später auf den Vorschlag meiner Mutter zu den gleichen Konditionen in das Internat kam, war ich nicht gerade erfreut darüber. Das Internat war der erste Platz für mich, den ich nur für mich gehabt hatte, ganz ohne den Rattenschwanz meiner vielen Geschwister. Rosi erlebte ich als meine Konkurrentin, und so führten wir auch hier unsere Auseinandersetzungen und Kämpfe fort.

Rosi verdreht die Augen. „Mir war das so peinlich, dass wir uns das Internat nicht leisten konnten. Warum hatten wir nicht genügend Geld? Ich wollte nicht, dass das irgendjemand wusste. Geld, das hat man einfach, da redet man nicht drüber.“

„Ich weiß genau, was dich damals bewegt hat, mir ist es ähnlich gegangen. Für mich war es auch nicht einfach, mitzubekommen, wie andere Menschen lebten, wie viel Geld sie zur Verfügung hatten, wie sie Urlaube machten …

Rosi widerspricht mir: „Nein, das meine ich nicht. Ich habe da nicht auf andere geschaut. Es hat mir nichts ausgemacht, dass manche andere im Internat mehr hatten. Ich wollte bloß, dass niemand wusste, dass wir uns die Kosten fürs Internat nicht leisten konnten. Wir waren ja gar nicht so arm, es waren einfach nur so viele Kinder, die alle dasselbe haben wollten. Die meisten im Internat hatten doch nur ein oder zwei Kinder.“

„Im Internat und in der Schule haben wir doch Uniform getragen, dunkelblauer Faltenrock und Weste, wochentags eine hellblaue Bluse und feiertags eine weiße Bluse mit Krawatte“, ergänze ich. Wenn wir ausgegangen sind, habe ich gesehen, wie hübsch andere Mädchen gekleidet waren, und wollte auch mithalten. Ich habe damit begonnen, Nachhilfestunden zu geben, um mir auch etwas leisten zu können. Als ich eines Tages in einem hellblauen Kostüm mit passendem Schlapphut aus einem noblen Geschäft den Gruppenraum betreten habe und alle begeistert waren, hast du dich sofort zu Wort gemeldet und gesagt: ‚Aber das gehört mir auch!‘“

„Tja, so haben wir es von Mutter gelernt: Was die eine besitzt, gehört auch der anderen“, ergänzt Rosi lachend.

Ich nehme den Papierstapel wieder zur Hand. „Jetzt kommt noch einiges über unsere Beziehung.“

Was Rosis und meine Beziehung damals anging, habe ich die Vermutung, dass wir das zwiespältige Verhältnis fortsetzten, das unsere Mutter zu ihrer Schwester Luise gehabt hatte. Sie waren enge Vertraute und dann wiederum Konkurrentinnen, wenn es darum ging, wer von ihnen das bessere Leben verdient hätte.

Mutter erzählte uns einmal, dass ihre Urgroßeltern recht wohlhabend gewesen waren. Ihrem Sohn hatten sie verboten, unsere Großmutter zu heiraten, als diese bereits mit Luise schwanger war, weil die Familie nur einen kleinen Bauernhof hatte und dazu noch zwölf Kinder. Erst als Großmutter mit dem zweiten Kind schwanger war und ihre Mutter bereit war, ein Stück Land als Mitgift einzubringen, stimmten die Urgroßeltern einer Hochzeit zu. Zeitlebens hatte unsere Urgroßmutter wegen ihrer Hartherzigkeit ein schlechtes Gewissen, und deshalb ermöglichte sie Luise ein Studium in Wien an der Lehrerbildungsanstalt. Unsere Mutter wollte ebenfalls Lehrerin werden, aber ihre Mutter erlaubte es ihr nicht.

Rosi richtet sich abrupt auf. „Und deshalb war es Mutter so wichtig, dass ich immer dieselbe Ausbildung bekommen habe wie du! Ich als Zweitgeborene sollte nicht benachteiligt werden wie sie damals!“ So sehe ich das auch. „Das Konkurrenzverhalten zu ihrer Schwester hat ja nie aufgehört. Tante Luise hat in Wien gewohnt und dort ein städtisches Leben geführt. Darum hat sie unsere Mutter immer beneidet. Unsere Mutter wiederum hat einen tatkräftigen, selbstbewussten Mann an ihrer Seite gehabt, darum hat Tante Luise sie beneidet. Ihr eigener Mann – auch ein Lehrer – war in ihren Augen schwach. Dass sie in einem Konkurrenzverhältnis zueinander gestanden sind, haben sie jedoch nie angesprochen, geschweige denn aufgearbeitet.“

„Wenigstens das ist bei uns anders.“ Ich warte darauf, dass Rosi weiterspricht, es dauert jedoch eine Weile, bis sie fortfährt. „Unsere Beziehung hat sich, wenn auch erst viel, viel später, grundlegend verändert. Mutter hat uns auseinandergebracht – nicht absichtlich, sondern wegen ihrer eigenen Geschichte. Sie hat ihr Verhältnis zu ihrer Schwester in uns hineinprojiziert. Mit dem Tod von Mutter ist meine belastete Einstellung dir gegenüber schlagartig abgefallen. Ich habe meine Mutter verloren, dafür aber eine Freundin gewonnen.“

Tränen der Rührung steigen mir in die Augen. Rosi hat recht: Heute sind wir innig miteinander verbunden. „Kannst du dich noch an diesen verrückten Brief erinnern, den ich dir damals im Internat geschrieben habe?“, fragt meine Schwester. „Wir haben uns damals nicht verstanden. Ich habe gespürt, dass du mich ablehntest, und so habe ich dir eines Tages in etwa Folgendes geschrieben: ‚Liebe Klara, nachdem es dir ein Problem ist, dass ich im selben Internat bin wie du, schlage ich dir Folgendes vor: Wir können ja so tun, als ob wir einander nicht kennen würden. Wenn du mir auf dem Weg im Internat begegnest, dann schau einfach weg und ignoriere mich. Wir tun so, als wären wir einander fremd.‘ Du hast mir nie geantwortet. Ich weiß auch nicht mehr, ob wir es so ausgelebt haben. Aber wir hatten im Jahr drauf nicht mehr so viele Berührungspunkte, weil du ja bereits das Einzelzimmer bekommen hast. Nur in der Klavierstunde haben wir uns regelmäßig getroffen, wenn wir vierhändig spielten.“ Rosi ist nun nicht mehr zu bremsen. „Und dann war da noch Schwester Benedikta. Sie hat sich so wunderbar ärgern lassen. Das hat mir Spaß gemacht. Ich glaube, weil sie gar so streng war. Ich habe sie einfach nicht ernst nehmen können. Bei jeder Nonne habe ich mich damals gefragt, weshalb sie Nonne geworden ist, weshalb sie nicht geheiratet und eine Familie gegründet hat. Ich glaube nicht, dass zumindest manche von ihnen das nicht auch gewollt hätten. Und damit war jeglicher Respekt den Nonnen gegenüber weg. Für mich war es in diesen Jahren vor allem wichtig, Spaß zu haben, das Leben voll auszukosten und Aufmerksamkeit zu erregen. So habe ich endlich eine zentrale Stellung einnehmen können. Mit Brav-Sein gelingt das nicht. Gleichzeitig habe ich auch vorsichtig sein müssen, denn wenn ich es zu wild getrieben hätte, dann wäre Vater womöglich auf die Idee gekommen, mich wieder aus dem Internat rauszunehmen.“

„Was für ein Spagat“, bemerke ich.

„Oh ja, den sicher auszuführen, war eine permanente Herausforderung“, erinnert sich Rosi, „aber gleichzeitig wäre mir ein Leben ohne Herausforderungen sowieso langweilig gewesen.“ Wir nehmen beide einen Schluck von unserem Bier, dann lese ich weiter.

Gerne erinnere ich mich noch daran, dass ich meine Freundin Lilly und ihre Familie in den Urlaub nach Italien begleiten durfte. Lillys Eltern waren sogar zu uns nach Hause gekommen, um meine Eltern zu fragen, ob ich mit dürfte. Sie würden auch alle Kosten übernehmen. Unsere Eltern stimmten zu, was mich sehr überraschte. Mit Sicherheit spielte eine Rolle, dass ich seit meiner Kindheit an Bronchitis litt und unser Hausarzt einen Aufenthalt am Meer empfohlen hatte.

Drei Wochen Italien! Meer, Strand, Palmen … All diese Bilder schwirrten in meinem Kopf herum, als wir im eleganten Mercedes der Familie in den Süden fuhren. Eine Reise, die viele Stunden dauerte, denn Autobahnen gab es damals so gut wie keine. Kaum in Jesolo angekommen, stürmten Lilly und ich an den Strand. Als ich dann das Meer sah – zum ersten Mal in meinem Leben –, war ich einfach nur überwältigt von seiner Größe und Weite, von der unendlich scheinenden Wasserfläche und davon, wie Meer und Horizont miteinander verschmolzen. Hier konnte ich atmen und meinen Geist fliegen lassen!

Die nächsten Tage erschienen mir wie im Traum. Ich atmete den Duft der Pinien, staunte über das salzige Meerwasser, darüber, wie schnell sich meine Haut bräunte und wie blond meine Haare in der italienischen Sonne wurden. Wir hatten unbegrenzt Zeit, sahen müßig dem Schaukeln der Boote auf dem Wasser zu, konnten einfach nur faulenzen oder in Ruhe lesen – etwas, das ich von zu Hause nicht kannte, weil Lesen und Lernen als Freizeitbeschäftigungen verpönt waren. Dann waren da noch die schicken italienischen Kleider, das Einkaufen und Handeln auf dem Markt, das Essen – ich war rundherum glücklich.

Am zweiten Abend verkündete Lillys Vater: „Heute gehen wir Pizza essen!“

„Was ist das denn?“, flüsterte ich Lilly zu.

Sie blickte mich erstaunt an. „Du kennst Pizza nicht? Na, du wirst sehen, das wird dir schmecken.“ Und das tat es dann auch. Was für ein Unterschied zu der bäuerlichen Küche, die ich von zu Hause gewohnt war. Selbst Muscheln kostete ich in diesem Urlaub das erste Mal in meinem Leben, allerdings musste ich mich dazu ein wenig überwinden.

Lillys Eltern waren überaus großzügig. Alles, was sie ihrer Tochter kauften, bekam auch ich. So erstand Lillys Mutter am Markt für uns Mädchen jeweils einen Bikini. Meiner war rot mit weißen Punkten. Als ich ihn am nächsten Tag am Strand stolz vorführte, fühlte ich mich sehr erwachsen und sehr attraktiv. Ein bisschen wie Audrey Hepburn. Am Abend flanierten wir in unseren neuen Röcken – ebenfalls ein Geschenk von Lillys Eltern – an der Strandpromenade, ein köstliches italienisches Eis essend, begleitet von den Rufen junger Italiener, die mit ihren Vespas die Promenade auf und ab rasten.

Dieser Urlaub sollte nicht nur für mich, sondern auch für meine Schwestern etwas anstoßen. Auch sie profitierten davon und durften deshalb ein Jahr später die Ferien mit der Jugendgruppe in Italien verbringen.

Die drei Wochen Italienurlaub vergingen wie im Flug. Zu Hause holte mich die Realität rasch wieder auf den Boden. Den Rest der Ferien verbrachte ich bei meiner Familie auf dem Hof. Dort gab es Arbeit von früh bis abends, auf dem Feld oder im Haus. Jede Minute sehnte ich mich nach dem Internat am Ende der Ferien.

Trotz allem erlebten wir auch viele schöne Momente, wenn wir alle zusammenkamen. Dennoch, Rosi und ich hatten im Internat zusammen mit unseren neuen Freundinnen ein besseres Leben kennengelernt, als wir es von zu Hause gewohnt waren. Unzufriedenheit schlich sich ein, und Vater warf Mutter vor, dass sie daran schuld sei: „Du wolltest ja unbedingt, dass die Mädchen auf die höhere Schule gehen. Jetzt schau sie dir an, die undankbaren Gfraster.“

Es wurden immer weniger Leute im Haus, die uns bei der Arbeit unterstützten. Großmutter war nun schon älter und half nicht mehr mit, und unsere geliebte Hella arbeitete nur noch halbtags. So blieb Mutter mit der ganzen Hausarbeit allein. Zwar hatte sie jetzt alle möglichen Maschinen, die sie entlasten sollten, doch trug sie die gesamte Verantwortung für das Geschehen im Haus und für die Kinder. Die Verhältnisse waren angespannt, Vater wollte weitere Felder kaufen, um seine Landwirtschaft zu vergrößern, Kredite mussten aufgenommen werden – all das machte Mutter nervös. Vater war risikobereiter. Um einen Wald zu kaufen, nahm er Schulden auf. Allerdings verkaufte er ihn später wieder, weil er nicht wirtschaftlich war und Mutter sich ständig über die Schulden beschwerte.

Vater gab uns sehr strenge Verhaltensregeln vor. Natürlich wollten wir nicht auf alles verzichten, was er verurteilte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätten wir uns nicht schminken dürfen, Nagellack oder Schuhe mit Absätzen waren verboten. Wir sollten möglichst nicht ausgehen und wenn, dann zu einer christlichen Zeit, wie er das nannte, heimkommen, keinen Alkohol trinken und schon gar nicht rauchen. Selbstverständlich waren körperliche Kontakte zu Burschen strikt verboten. Immer wieder ließ er durchblicken, dass er von Frauen wenig hielt. Töchter kosteten nur Geld und brächten nichts ein, man hätte auch besser den Frauen das Wahlrecht nicht gegeben. Wir waren tief gekränkt von diesen Demütigungen und lehnten Vater mehr und mehr ab. Also taten wir, was uns unumgänglich schien: Wir belogen ihn.

Rosi dreht gedankenverloren ihr Glas. „Deine ersten Stöckelschuhe, die du dir mit vierzehn Jahren gekauft hast, hat er demonstrativ in den Ofen geworfen. Noch bevor die Holzscheite angezündet worden sind, haben wir die Schuhe heimlich wieder rausgeholt.“

„Ja, damals hat es viele Konflikte mit Vater gegeben“, stimme ich Rosi zu. „Heute ist mir klar, dass er damals wohl unter einem enormen Druck gestanden ist, was seine Bedeutung in der Familie und nach außen anbelangte. Was er hauptsächlich gesehen hat, war, dass wir Geld von ihm wollten für Ausgaben, die er nicht finanzieren wollte. Er hat hart und viel gearbeitet und hat sich dennoch wirtschaftlich nicht in dem Ausmaß vergrößern können, wie er das gerne getan hätte.“

Rosi fährt fort. „Deshalb war es für dich immer so wichtig, so schnell wie möglich finanziell unabhängig zu werden. Ich habe das gar nicht angestrebt. Das wäre mir zu anstrengend gewesen. Ich wollte es bequemer haben. Ich wollte nicht so schnell arbeiten und mein eigenes Geld verdienen müssen, ich wollte studieren, ich wollte das Leben genießen“, bekennt sie freimütig.

„Ja, das ist auch so ein Punkt, in dem wir uns sehr unterscheiden. Ich habe eine rasche finanzielle Unabhängigkeit angestrebt, damit ich mich diesem erniedrigenden Diktat des Vaters nicht mehr beugen musste. Der Streit um das Geld war ein Dauerthema, und so ist mir mehr und mehr die Lust daran vergangen, nach Hause zu fahren. Und wie du weißt, hat es Jahre gedauert, bis ich mich mit Vater und den Verhältnissen zu Hause wieder ausgesöhnt habe und wieder von Herzen gerne auf den elterlichen Hof gekommen bin.“

„Ja, du warst da konsequent.“ Rosi gähnt. „Ganz schön anstrengend, so in die Vergangenheit einzutauchen. Ich glaube, ich könnte eine kleine Stärkung vertragen.“

„Mozzarella mit Tomaten und ein Knoblauchbaguette dazu?“

„Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen!“

Wir verziehen uns in meine kleine Küche, Rosi schneidet die Tomaten, ich besorge den Rest. Nachdem wir uns mit unserem Salat an meinem Küchentisch niedergelassen haben, fragt Rosi: „Wie geht es eigentlich deinen Enkelkindern? Halten dich die vier immer noch so auf Trab?“

Ich lache auf. „Oh ja, das kann man wohl sagen!“ Ich denke sogleich an einen Ausflug vor ein paar Tagen. „Neulich habe ich sie ins Kino eingeladen, und danach sind wir durch den Stadtpark geschlendert. Das heißt, ich wäre gerne geschlendert, aber ich habe alle Hände voll damit zu tun gehabt, die vier im Blick zu behalten. Sie sind auf buchstäblich jedem Baum und jeder Bank herumgeturnt, haben Räder auf den Wegen geschlagen, haben Fangen gespielt … Es war wie Action-Kino nach dem Kino, sage ich dir.“

Rosi schmunzelt vergnügt. „Omas Nerven waren wohl etwas beansprucht …“

„Ja, das waren sie, aber gleichzeitig finde ich es toll, dass die Kinder so kreativ mit ihrer Umgebung umgehen.“

„Das imponiert dir“, stellt Rosi fest.

Ich nicke. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sara hat sich schon vorher gewünscht, in das Restaurant zu gehen, wo es diese besonderen Kartoffel-Chips gibt. Auf dem Weg dorthin habe ich die Kinder ermahnt: ‚Wenn wir jetzt dort essen gehen, dann dürft ihr dort nicht herumturnen. Das ist ein Restaurant, und die Leute wollen dort in Ruhe essen.‘ Und was sagt meine originelle elfjährige Sara daraufhin? „Oh, du hast wohl Angst um deinen guten Ruf. Den wirst du bald nicht mehr haben.‘“

Rosi prustet los. „Erwischt! Deine Enkelin schaut anscheinend schon hinter die Fassade.“

„Ja, die vier bringen ganz schön Schwung in mein Leben.“

Unser Bier haben Rosi und ich schon längst ausgetrunken, und so schenke ich uns beiden ein großzügiges Glas Wein ein. „Stärkungsmittel, damit wir die nächsten hundert Seiten durchstehen“, sage ich mit einem Augenzwinkern.

Rosi grinst. „Na dann, weiter im Text!“

„Jetzt kommt ein trauriges Kapitel.“

Rosi weiß sofort, worum es geht. „Unser Bruder …“

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