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1.
ОглавлениеUnsere Mutter erzählte oft, dass der Tag, an dem ich geboren wurde, einer der heißesten Julitage im Jahr 1950 war. Die Luft flimmerte vor Hitze, alle stöhnten, dennoch musste die Arbeit auf dem Feld getan werden. „Für uns Bauern gibt’s keine Ferien“, sagte Vater oft, und so waren er und sein Bruder auch an diesem Tag unermüdlich im Einsatz, um auf unserem Bauernhof die Ernte einzubringen. Mehrere Flaschen mit kaltem Tee standen unter einem Baum am Rand des Feldes, und sie griffen regelmäßig danach, um den brennenden Durst zu löschen.
Meine Mutter saß im Haus in der geräumigen Küche. Sie schälte einen Berg Kartoffeln, als die Wehen einsetzten. „Die mach’ ich jetzt noch fertig“, dachte sie, doch als sie aufstehen wollte, war da ein plötzlicher heftiger Schmerz, der sie aufschreien und in die Knie gehen ließ. Meine Großmutter eilte in die Küche. Sie brummte nur ungehalten: „Ganz ruhig, so schnell kommt das Kinderl nicht. Ich lauf’ zum Winkler Franz, dass er dich mit seinem Rettungsauto ins Krankenhaus nach Wien bringt.“ Franz Winkler war einer unserer Nachbarn, dessen Auto in unserem Ort ganz offiziell als Krankenwagen im Einsatz war. Wenig später fuhr er mit seinem schon etwas in die Jahre gekommenen Wagen vor, und meine Mutter stieg stöhnend vor Schmerzen ein.
Es war eine unkomplizierte Geburt. Um halb vier Uhr morgens des nächsten Tages während eines heftigen Gewitters tat ich meinen ersten Schrei. Mein Vater war stundenlang durch Haus und Hof geschritten und hatte unseren Knecht Franz und Großmutter und unsere gute Küchenseele mit sinnlosen Aufträgen herumgescheucht. Endlich läutete das Telefon. Damals konnte man von Wien nicht direkt in unser Dorf telefonieren, und das Telefonamt war nur zwischen sechs Uhr in der Früh und neunzehn Uhr am Abend besetzt. Wir gehörten zu den wenigen Familien im Ort, die ein eigenes Telefon besaßen. Die Post-beamtin beglückwünschte meinen Vater: „Herr Berger, gratuliere, Sie sind vor ein paar Stunden Vater geworden!“ Er bestürmte sie mit den Worten: „Ist’s ein Bub?“
„Ein Mäderl ist es“, flötete sie, „und die Hebamme sagt, es ist gesund und munter.“
Der ersehnte Stammhalter war es also noch nicht, aber es war ja noch Zeit. „Das nächste Mal wird’s bestimmt ein Bub“, tröstete ihn auch mein Großvater.
„Bereits eineinhalb Jahre später bist dann du gekommen …“, wende ich mich an Rosi, die aufmerksam zugehört hat.
„Dass du so genau Bescheid weißt über deine Geburt“, wundert sich Rosi. „Schade, ich habe Mutter nie danach gefragt, wie es war, als ich geboren worden bin. Nun kann es mir keiner mehr erzählen. Jedenfalls war es im Winter. Auffallend ist es ja, dass alle Kinder nach dir im Winter zur Welt gekommen sind. Das war wohl Familienplanung, damit nicht wieder mitten unter der Ernte so etwas passiert.“ Rosi verzieht ihre Mundwinkel zu einem zweideutigen Lächeln und sagt: „Ich hätte ja auch ein Bub werden sollen. Aber ich war immer gern ein Mädchen und später eine Frau. Als Bub hätte ich die Landwirtschaft übernehmen müssen, kein begehrenswertes Ziel für mich. Stell dir vor, ich wäre tatsächlich ein Bub geworden – unsere Familie würde ganz anders aussehen. Dann wären wir wahrscheinlich nur drei oder vier Kinder und nicht sieben geworden“, meint sie nachdenklich.
Und so setzte sich die Reihe der Mädchen fort. Nach Rosi kam Martha, dann Katharina, danach Johanna und zuletzt Veronika. Mutter erzählte, als sie das sechste Mädchen zur Welt gebracht hatte, hätte ihr die Hebamme in ihrer bekannt rauen, aber herzlichen Art das Kind mit den Worten gereicht: „Es is scho wieda a Madl! Soll ma s’ glei datränken?“ Darauf unsere Mutter: „Nein, gem S’ ma s’ her!“ Und zum Kind gewandt: „Du kannst doch nichts dafür, dass du ein Mäderl bist!“ Sie nahm Veronika in den Arm, und die lächelte sie an. Mutter bemerkte gerührt, dass sie beim Lächeln ein Grübchen in der Wange hatte. So liebte sie auch noch ihre sechste Tochter von Herzen und hoffte trotzdem inständig auf einen Sohn.
Als schon niemand mehr daran glaubte, kam Sebastian zur Welt. Mein Vater war überglücklich. Unsere Mutter hatte nie so viele Kinder haben wollen, höchstens ein oder zwei. Und sie hatte auch nie einen Bauern heiraten wollen. Als junge Frau hatte sie einige Monate in Zürich verbracht, wo sie das Leben der „Herrschaften“ kennengelernt hatte. Wie oft hatte sie uns von dem gutbürgerlichen Leben erzählt und davon, wie vornehm dort alles war! Hier hatte sie sich am richtigen Ort gefühlt. In der Obhut zweier älterer Damen hatte sie ein wenig Französisch gelernt und unter der Regie von Maximilian Schell, dem großen Schauspieler und Regisseur, eine kleine Nebenrolle als Wienerin gespielt.
Einmal hatte Maximilian Schell sie nach Hause begleitet, gerade als der erste Schnee fiel. Eine Schneeflocke in seiner Hand betrachtend, hatte er zu ihr gesagt: „So weiß wie diese Schneeflocke soll die Seele eines Mädchens sein.“ Das hatte sie sehr beeindruckt. Eine Handleserin hatte ihr damals sieben Kinder prophezeit. Anscheinend kann man seinem Schicksal nicht entkommen.
„Das von der Handleserin habe ich nicht gewusst. Ob das stimmt?“, wirft Rosi ein. „Erinnerst du dich, dass Mutter immer wissen wollte, welches Stück das damals war?“ Ich nicke. „Nachdem ich einige Jahre als Filmjournalistin gearbeitet habe, bin ich eines Tages Maximilian Schell begegnet. Ich habe die Gelegenheit genutzt und ihn gefragt, ob er sich an unsere Mutter erinnern könne. Sie war damals 17 Jahre alt gewesen, er hatte in Zürich ein Wiener Mädchen gesucht, das eine kleine Rolle in dem von ihm inszenierten Stück spielen sollte, und dafür unsere Mutter ausgewählt. Schell hat sich sofort erinnert und auch gleich gewusst, um welches Stück es sich gehandelt hat. Ich war beeindruckt.“
„Das hast du mir noch gar nicht erzählt!“
„Kann schon sein, aber lies weiter!“
Die erste Begegnung unserer Eltern war filmreif. Beide fuhren mit dem Fahrrad auf einem schmalen Feldweg in unserer Gegend aufeinander zu, und jeder wartete vergeblich darauf, dass der andere ausweichen würde. Es kam unweigerlich zum Zusammenstoß.
Dazu hat Rosi ihre eigene Theorie: „Klar, er ist Steinbock, sie Widder, da gibt keiner nach. Ich finde, sie hat recht gehabt, er hätte ausweichen sollen – so eine schöne Frau! Sicherlich ist er ihr ganz bewusst reingefahren, um mit ihr in Kontakt zu kommen. Ansonsten wären sie höflich aneinander vorbeigefahren, und sie hätten einander nie kennengelernt.“
Etwas später, im Sommer 1949, verliebten sie sich ineinander, und im Jänner wurde geheiratet, denn ich war schon unterwegs. All die Pläne meiner Mutter spielten ab diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Ein anderer Lebensabschnitt hatte begonnen für sie.
„Sie war wohl ganz schön verliebt in ihn gewesen“, kommentiert Rosi. „Vater hat mir einmal ganz stolz erzählt, dass sie ihm sogar sein Motorrad mit Speiseöl geputzt hat, damit es besonders glänzt. Also grad Mutter, die ja auch nicht wirklich gerne gearbeitet hat. Ausgerechnet in einer Bauernfamilie ist sie ‚gelandet‘. Sie hat sich doch geschworen, sie würde nie einen Bauern heiraten. Vater hat ihr alles Mögliche versprochen, sonst wäre sie diese Verbindung vermutlich nicht eingegangen. Sie wollte raus aus diesem Milieu, in dem sie auch selber aufgewachsen ist …“ Rosi und ich, wir können das beide nachvollziehen. „Ich muss sagen, ich wäre auch lieber in einem anderen Haus aufgewachsen … Eine Diplomatenfamile wäre mir recht gewesen, viel reisen, die Eltern studiert und mit vielen geistigen Interessen“, träumt Rosi laut vor sich hin. Kurz hängen wir beide unseren Erinnerungen nach, dann vertiefen wir uns wieder in meine Aufzeichnungen.
Unsere Eltern liebten einander anfangs sicherlich. Unser Vater hatte schließlich auch sehr nette Seiten. Er hatte unserer Mutter versprochen, sie zu verwöhnen. Sie würde nicht viel arbeiten müssen, es würde ihr immer gut gehen. Doch jetzt, wo sie da war, hätte sie sich das Leben doch anders vorgestellt, eben ein bisschen luxuriöser. Das Haus wurde bald zu klein für die wachsende Familie. Immer öfter beklagte sich Mutter, dass sie hier zu ärmlich wohnen müsse. „Du hast mir vor der Ehe anderes versprochen“, hielt sie unserem Vater immer wieder vor.
1960 wurde das alte ebenerdige Haus abgerissen, nur die zwei vorderen Zimmer mit der klassizistischen Fassade blieben stehen. Ein neues, einstöckiges Haus entstand, mit großzügigen Räumen. Nun hatten wir endlich auch ein Wohnzimmer. Das Familienleben spielte sich dennoch nach wie vor in der großen Küche ab. Hier nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, hier las der Vater am Abend die Zeitung, die Mutter hörte Radio, während wir Kinder Hausaufgaben machten, miteinander spielten oder lasen. Wenn wir zu laut wurden, scheuchte uns Vater in unsere Zimmer. „Kann ich nicht einmal in Ruhe die Zeitung lesen!“ Aber Ruhe war in so einer großen Familie ein seltener Zustand.
„Ich erinnere mich auch noch an den alten Ofen in der Küche, als wir kleine Kinder waren. Er war das Zentrum damals, der Ofen. Er hat nicht nur die Küche gewärmt, er hat auch eine gute Atmosphäre in unserer Wohnküche geschaffen, auf ihm ist das Essen zubereitet worden. Der gute alte Ofen … Schade, dass es so was nicht mehr gibt“, bedauert Rosi. „Wir waren schon eine sehr traditionelle Familie, aber für einen Bauern war unser Vater außergewöhnlich, wenn man ihn mit vielen anderen Bauern vergleicht. Er war gesellig und hat gerne Führungsrollen übernommen.“ Rosi sieht nachdenklich auf ihre Hände: „Im Vergleich zu manch anderen im Ort sind wir richtig mondän aufgewachsen. Wien war ja auch in der Nähe. Weißt du noch, wie Vater uns bei seinen Erledigungen in die ‚Großstadt‘ mitgenommen und uns die Sehenswürdigkeiten erklärt hat? Trotz seiner bäuerlichen Vorlieben war er sowohl kunst- als auch filminteressiert, wenn auch alles eingeschränkt konservativ. „Ja, so war er“, stimme ich Rosi zu, „politisch aktiv, interessiert und gleichzeitig zutiefst in den herrschenden Konventionen verhaftet.“
Wir hatten ein großes Kinderzimmer für die jüngeren Schwestern im ersten Stock neben dem Elternschlafzimmer, um die Ecke ein Kabinett, das für Sebastian vorgesehen war. Wir drei älteren Mädchen waren privilegiert, wir durften im Erdgeschoss schlafen, etwas weiter weg von den Eltern. Außerdem wurde unser Zimmer neu eingerichtet, inklusive einer modernen Spiegelkommode, auf die wir sehr stolz waren. Jeden Abend vor dem Zu-Bett-Gehen wünschte Vater jeder von uns Gute Nacht, und wir Kinder antworteten im Chor: „Schlof guat, Vata!“
„Die Spielgelkommode war so schick!“, erinnert sich Rosi und fährt fort: „Neben der Küche war das Arbeitszimmer von Vater, das wir kaum zu betreten gewagt haben. Es war für uns wie ein Heiligtum, es gehörte nur Vater. Und er war so ordentlich.“
„Ja, sein Schreibtisch war immer aufgeräumt.“
„Wenn ich da an meinen Schreibtisch denke, ich bin da eine richtige Chaotin dagegen. Er kannte jeden seiner Stifte. Wenn jemand sich von ihm mal heimlich etwas ‚ausgeliehen‘ hatte, dann gab es sofort Ärger.“ Rosi hebt entschuldigend die Hände: „Jetzt habe ich dich schon wieder unterbrochen.“
Unser Haus war großzügig gebaut, alle Zimmer waren geräumig. Wir hatten eine große Speisekammer und sogar eine Veranda – der reine Luxus! Im Obergeschoss gab es eine Terrasse, die kaum genutzt wurde. Sie war der ideale Ort, an dem wir uns in Jugendjahren zum „heimlichen“ Rauchen trafen. Im Hof befanden sich die Stallungen.
Vater hatte einen großen Stall für die Kühe gebaut. Als jedoch der Milchpreis verfiel, stellte er auf Mastschweine um. Bis zu 120 Schweine drängten sich damals in unserem Stall. Selbst einen Teil des Hofes funktionierte Vater zum Freiluftstall um, damit die Schweine einen größeren Auslauf hatten. Ausmisten und Ställe Reinigen, das war eine der meistgehassten Aufgaben von uns Kindern. Wir verabscheuten den Gestank des dampfenden heißen Mists.
Regelmäßig schlachtete unser Vater ein Schwein, um die Familie mit Fleisch zu versorgen. Auch beim Schlachten mussten wir zu unserem Leidwesen häufig mit anpacken. Doch es faszinierte uns, mit welcher Hingabe und Freude unser Vater diese Arbeit verrichtete. Er holte aus dem geschlachteten, hängenden Schwein die Innereien heraus, voller Konzentration und Sorgfalt. Er produzierte Würste, die wir später mit Senf und Kren genüsslich verspeisten. Weniger begeistert waren wir von der Blutwurst, der Blunzen und der Blunzensuppe. Das Schlimmste waren der unmittelbar nach dem Schlachten gereichte Blutsterz und das Stichfleisch. So gab es bei uns oft vom Schwein zu essen. Nur freitags standen Zwetschkenknödel oder Krautfleckerl, Buchteln mit Vanillesauce oder gebackener Kabeljau auf dem Speiseplan …
„… oder auch Linsen mit Knödeln“, wirft Rosi ein. „Das haben wir damals gehasst, heute liebe ich dieses Gericht und mache es auch öfter. Die Zwetschkenknödel waren köstlich! Unsere Mutter konnte wirklich besonders gut kochen. Das hat sogar unser Vater zugegeben.“
„Obwohl sonst wenig Lob über seine Lippen kam …“
„Was das Schlachten anbelangt: Ich habe ihm gerne beim Ausnehmen der Innereien zugeschaut“, meint Rosi. „Er hätte auch Chirurg werden können. Mit welcher Sorgfalt und Liebe er das gemacht hat … Es war fast meditativ, ihm dabei zuzusehen.“
Ich nicke. Ich erinnere mich noch gut daran, mit welcher Freude er die Würste gemacht hat, Metzger wäre auch ein Beruf gewesen für ihn. Seine Würste schmeckten fantastisch. „Da waren noch keine Antibiotika und so viel Gift enthalten wie heute. Er war eindeutig der praktische Typ“, stellt Rosi fest. „Wenn ich heute über den Weihnachtsmarkt schlendere und an so einer Wurst nicht vorbeigehen kann, ohne sie zu kaufen, dann sage ich mir: Das war die Kultur meiner Kindheit.“
„Dann hat Vater in den Sechzigerjahren ja auch noch die Buschenschank eröffnet, weil wir doch den großen Keller, guten Wein und das Selbstgeschlachtete hatten“, erinnere ich Rosi. „Die Mutter hat in der Küche das Essen vorbereitet, und wir haben die Gäste bedient, die im Hof an den langen Holztischen gesessen sind – und bei schlechtem Wetter im Keller.“
„Und Immer wieder sind Freunde von uns auf ein Glas Wein vorbeigekommen, vor allem die Burschen, die gerne im Mäderlhaus vorbeigeschaut haben“, grinst Rosi.
„Möglicherweise haben wir bei dem einen oder anderen vergessen abzukassieren …“ Ich zwinkere ihr verschwörerisch zu. „Jedenfalls hat Vater irgendwann gemeint, dass sich das Geschäft mit dem Heurigen nicht mehr lohnen würde, und den Betrieb wieder eingestellt. „Ja, das Bedienen hat uns Spaß gemacht“, lacht Rosi. „Eindeutig die angenehmste Arbeit, die wir machen mussten. Endlich eine Tätigkeit, bei der man schön gekleidet sein konnte, bei der man nicht schmutzig wurde! Und das Gesellige, das haben wir alle vom Vater geerbt, unsere Mutter war ja da eher etwas zurückhaltend. Nur, so lustig wie unser Vater war keine von uns, am ehesten noch Katharina.“ Sie bedeutet mir weiterzulesen.