Читать книгу Beherzt - Anna Maurer - Страница 5

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Seit 35 Jahren wohne ich mitten im Zentrum von Wien. Hier bin ich zu Hause, in diesem stattlichen Altbau mit den Stuckverzierungen im Treppenhaus und dem Ausblick auf die kleine Gasse mit den imposanten Bürgerhäusern aus der Gründerzeit. Wenn ich die Tür zu meiner Wohnung öffne, tue ich das mit einem weiten, freien Gefühl in der Brust. Jedes Möbelstück, jedes Bild, jeder Teppich, jede Vase und jeder Kratzer im Parkettboden meiner Wohnung erzählt mir eine Geschichte aus meinem siebzigjährigen Leben.

Gerade ist es besonders behaglich in meinem Wohnzimmer. Die Nachmittagssonne schickt schräge Strahlen durchs Fenster, auf meinem Couchtisch liegt der dicke Papierstapel mit meinen Notizen und auf der Couch die kuschelige Wolldecke. Diese Notizen waren während der vergangenen Wochen mein ständiger Begleiter. Aus einem spontanen Impuls heraus habe ich begonnen, die Geschichte meines Lebens niederzuschreiben. Zuerst nur einzelne Episoden, dann sind viele Gedanken und Erinnerungen dazugekommen, glückliche und schmerzhafte. Gleich werde ich mich wieder darin vertiefen, weiterschreiben, streichen und ergänzen.

Eine WhatsApp-Nachricht leuchtet auf meinem Telefon auf: „Eben angekommen. Bin in dreißig Minuten da.“ Meine Schwester Rosi kommt früher als erwartet. Sie wohnt in der Nähe von München im Herzen einer kleinen Stadt an einem See. So wollte sie das immer schon: mittendrin im Trubel und – das Allerwichtigste – mit mehreren Cafés zur Auswahl. Wo immer sie hinkommt, sucht sie sich zuallererst ein nettes Kaffeehaus, das sind vermutlich ihre Wiener Wurzeln. Als sie hier zur Schule ging und studierte, war sie täglich mindestens einmal im Kaffeehaus, und so hält sie es auch dort.

Rosi wird übers Wochenende bleiben. Sie wohnt bei mir, wie immer, wenn sie nach Wien kommt. Das sind die raren Gelegenheiten, wo wir Zeit füreinander haben, wo nur wir beide die Köpfe zusammenstecken und niemand sonst aus unserer großen Familie dabei ist. Es klingelt, sie ist da. Wir umarmen einander herzlich, Rosi stellt ihren Koffer im Gästezimmer ab, und dann mache ich erst einmal zwei Flaschen Bier in der Küche auf. Händereibend kommt Rosi zu mir in die Küche. „Ah, ein Bierchen – genau das Richtige jetzt“, freut sie sich. Wir mustern einander. „Gut siehst du aus“, sagt sie schließlich. „Du aber auch“, gebe ich zurück. Kaum zu glauben, dass nun auch Rosi die Sechzig schon deutlich überschritten hat. Sie sieht so jugendlich-frisch aus mit den dunklen, schulterlangen Haaren und den großen, lebhaften Augen in dem schmalen Gesicht.

Während ich noch schnell in der Küche ein paar Dinge wegräume, schlendert Rosi mit dem Glas in der Hand ins Wohnzimmer. Sie sieht mein Manuskript auf dem Tisch liegen, nimmt es in die Hand und fängt an zu blättern – ohne mich erst lange zu fragen. Ich schmunzle. So war es immer schon – für Privatsphäre war bei sieben Geschwistern einfach kein Platz. Vor ein paar Jahren hätte ich Rosis Verhalten wahrscheinlich noch als übergriffig empfunden, doch in den letzten Monaten habe ich mich so intensiv mit meinem Leben auseinandergesetzt, dass ich deuten kann, was es ist: ein Ergebnis unserer jahrzehntelangen Vertrautheit.

„Was hast du denn da geschrieben?“, fragt Rosi neugierig.

„Über mein Leben“, lautet meine lapidare Antwort.

„Und – komm ich auch vor?“, bohrt Rosi weiter.

„Erwähnt wirst du schon, wie alle anderen Schwestern auch“, versuche ich erst abzuwiegeln.

„So, so, ist das alles?“

„Ja schon, was hast du gedacht?“

„Wenn du willst, dass ich es lese, dann will ich auch meine Kommentare dazu abgeben“, meint Rosi unverblümt und bestimmt, wie es eben ihre Art ist.

Ich denke kurz nach. Will ich, dass Rosi dieses Manuskript meines Lebens liest, bevor ich es fertiggestellt habe? Doch dann stimme ich schulterzuckend zu. „Okay, dann versuchen wir es einfach.“ Damit beginnt ein langer, unvergesslicher Abend. Ich fange an zu lesen.

Beherzt

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