Читать книгу Martha schweigt - Anna Neder von der Goltz - Страница 10

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1 Träume 1945

In den Fenstern der Bergstraße Nummer acht brannte noch Licht bis tief in die Nacht. Man musste siebenundfünfzig Stufen zum Haus hochsteigen. Martha zählte jedes Mal die Treppenstufen und nahm immer zwei gleichzeitig. Ihre Mutter klagte über das wackelige Holzgeländer und befürchtete, dass ihre porösen Knie und das Geländer irgendwann gleichzeitig einbrechen könnten.

Die Haustür hing schief in den Angeln, so dass der Wind an den Ecken hindurchwehen konnte. Die Holzfarbe an den Fensterläden blätterte ab und der Lehmputz bröckelte von den Wänden und legte die Stützbalken frei, so dass sie schutzlos Sturm und Regen ausgeliefert waren.

Das kleine baufällige Haus wartete vergeblich auf den Mann, der dies alles reparieren, wiederherrichten würde, denn der Krieg hatte ihn vor langer Zeit verschluckt.

Edwin, einer der beiden Nachbarjungen, trug das Brennholz hinauf. Sein Vater hatte sich beim letzten Fronturlaub in der Scheune erhängt und nun verdienten sich die beiden Jungen durch Holzsammeln etwas dazu. Marthas Mutter nähte für Edwins Mutter und die Söhne und bekam Milch, Kartoffeln und manchmal auch Kohl dafür.

„Meinst du, der Vater kommt wieder heim?“, fragte Mutter jeden Abend, während sie den Lampenschirm bis zur Tischplatte hinunterzog, um beim Stopfen besser sehen zu können. Martha blieb ihr jedes Mal die Antwort schuldig.

Bis spät in die Nacht saßen die beiden Frauen am Küchentisch. Sie hatten zuvor einen Topf Milch auf dem Herd erhitzt, in den die Mutter Honig hineinrührte, bevor sie ihre Stopfsachen aus der Tischschublade holte und anfing, mit dicker Wolle und Stopfnadel die Löcher zu schließen. Martha war über Papierbögen gebeugt, die sie für ein Schnittmuster auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Sie wollte das Fräulein in der Schule beeindrucken und musste die ganze Zeit daran denken, welche Augen es machen würde, wenn sie ihr die Plisseefalten, die sie gelegt und geheftet hatte, zeigen würde.

Aus den alten Mänteln und Jacken ihres Vaters hatte sie schon Flanellröcke genäht und aus dem restlichen Vorhangstoff Sommerkleider für sich und die Mutter.

Die Mutter strickte, meist aus aufgetrennter Wolle, für die Leute im Dorf. Und im Rhythmus der Stricknadeln, mit denen sie den Faden führte, fing sie an, Geschichten von früher zu erzählen: Vom Schorsch, der so jung verunglückt war, vom Ferdinand mit dem Klumpfuß, von der Erna, die auf die höhere Schule geschickt worden war, von der Antonia …

„Mama, ich will auch auf die höhere Schule gehen“, unterbrach Martha den Erzählstrom ihrer Mutter.

„Was du dir net einbildest“, sagte die Mutter, als sie von ihrer Handarbeit hochschaute, „da muss man doch g’scheit sein?“

„Ich bin g’scheit“, antwortete Martha trotzig, „das Fräulein lässt mich oft mit den jüngeren Kindern rechnen und lesen und fragt, ob ich den großen Mädchen an der Nähmaschine helfen kann.“

Die Augen der Mutter wirkten müde, als sie zu ihrer Tochter aufsah.

„Martha, treib dir die Flausen aus dem Kopf, wer soll denn die Arbeit daheim machen?“

Sie bauten Gemüse im Garten an und jeden Herbst legten sie gestampftes Sauerkraut und Soleier in große Tontöpfe ein, kochten aus Fallobst Apfelmus und aus Himbeeren und Walderdbeeren Marmelade. Die Kräuterkunde für die Dorfschulklasse fand oft in ihrem Garten und im nahegelegenen Wald statt, wo Martha die Exkursion für die Schulkinder leiten durfte.

„Mutter, ich bin die Beste in der Schule, ich kann alles aus dem Heimatkundeheft auswendig aufsagen:

Der rote und der weiße Main

fließen westlich von Kulmbach zusammen.

Bald ist Lichtenfels erreicht,

rechts auf steiler Höhe steht Schloss Banz, …“

„Still, Martha, sei still“, unterbrach die Mutter sie. „Bete lieber ein Gegrüßet seist du Maria oder ein Vater unser, damit der Herrgott seine Hand über unser Haus hält.“

„Das ist doch kein Haus, Mutter, das ist eine Bruchbude!“, entgegnete Martha ihr zornig.

„Versündige dich nicht, Kind“, ermahnte die Mutter sie.

„Wenn ich Lehrerin wäre, könnten wir im Schulhaus wohnen, Mama, wär das nicht schön?“

Doch die Mutter hatte den Kopf schon wieder über ihre Handarbeit gebeugt.

Am nächsten Morgen konnte Martha es kaum erwarten, in die Schule zu kommen, denn heute würde sie dem Fräulein ihr Plissee- Kleid zeigen. Sie holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen, klemmte ihr Kleid, das sie in Packpapier eingewickelt hatte, auf dem Gepäckträger fest und fuhr mit ihrem Schulranzen auf dem Rücken los.

Während der ganzen Fahrt musste sie an ihre Plisseefalten denken, die sie dieses Mal oben im Brustteil eingenäht hatte, damit ihr Busen größer wirken würde. Mit einem weißen Spitzenkragen darauf wollte sie es zu ihrem Vorstellungsgespräch in der Hauswirtschaftsschule anziehen und hoffte, dass man fragen würde, ob sie das Kleid selbst genäht hatte.

Sie lehnte ihr Rad an die alte Buntsandsteinmauer des Schulhauses, kein Schüler saß mehr auf der Treppe. Bin ich zu spät?, dachte sie erschrocken, und da niemand im Flur zu sehen war, fing sie an zu rennen. Als sie an der offenen Klassentüre stand, sah sie den Lehrer am Fenster stehen – er war aus dem Krieg heimgekehrt.

Alle Kinder saßen schon auf ihren Plätzen und eine seltsame Stille lag wie ein bleierner Nebel über dem Raum.

„Guten Morgen, Herr Lehrer“, grüßte Martha vorsichtig, und als keine Antwort kam, ging sie verängstigt auf ihren Platz.

„Aufstehen!“, befahl der Lehrer, nachdem die Schulglocke geläutet hatte. Anton schlug beim Aufstehen seine beiden Schuhe fest aneinander und streckte reflexartig seine Hand zum Hitlergruß nach vorne.

Der Lehrer, der zwei Stufen erhöht auf dem Pult stand, ignorierte ihn und ließ ein lautes Grüß Gott über die Köpfe der Dorfschulkinder erschallen.

„Grüß Gott, Herr Lehrer“, kam es im Chor zurück.

Beim Morgengebet waren alle Blicke auf das Kreuz gerichtet, das über dem Lehrer hing, dort, wo vorher das Hitlerbild gehangen hatte und von dem nur noch die vergilbten Ränder übriggeblieben waren. Martha fragte sich mit Bangen, wo denn das Fräulein geblieben sei.

„Setzen“, ordnete der Lehrer an und schickte Martha sogleich mit den jüngeren Kindern zum Rechnen in den hinteren Teil des Klassenzimmers. Während die Kleinen versuchten durch Abzählen einzelner Finger ihre Rechenaufgaben zu lösen, war Martha in Gedanken bei dem Fräulein. Auch wenn sie zwischendurch die Kinder daran erinnerte, doch immer zwei, drei oder fünf Perlen gleichzeitig am Abakus weiterzuschieben, damit sie die Lösung schneller finden würden, konnte sie die Gedanken nicht loslassen.

Als der Lehrer die Überschrift Unser Getreide an die Tafel schrieb und Edwin bat, die Ähren von Weizen, Roggen, Hafer und Gerste an die Tafel zu zeichnen, merkte Martha, dass sie das alles nicht interessierte.

Erst nach dem Schlussgebet, zu dem sie sich mühsam erhoben hatte, spürte Martha wieder Leben in sich aufkommen, als der Lehrer bekannt gab, dass das Fräulein morgen zu Hauswirtschaft und Handarbeit kommen werde, während er die Buben in Handwerken und Technischem Zeichnen unterrichten werde.

Ihr „Auf Wiedersehen, Herr Lehrer“ klang wie ein Freudenruf.

Martha sprang die letzten Steinstufen vor dem Schulhaus hinunter. Sie wollte Edwin einholen, der in der gleichen Bankreihe saß wie sie, nur der Gang, der Jungen und Mädchen im Schulzimmer trennte, lag zwischen ihnen, auch er wollte auf die höhere Schule gehen. Edwin wollte Arzt werden und konnte jetzt schon alles auf Latein aufsagen, was er durch seinen Ministrantendienst in der Kirche mitbekommen hatte und wofür ihn Martha bewunderte.

„Edwin“, rief sie ganz außer Atmen, als sie am Schultor angelangt war, wo sie ihn zusammen mit Anton einholte. „Gehst du nächstes Jahr in die Oberschule?“

„Wieso, wer will des denn wissen?“, fragte Edwin misstrauisch.

„Meine Mutter“, log Martha, „sie lässt fragen, ob sie Hemden vom Vater für dich umnähen soll?“

„Weiß nicht“, murmelte Edwin verlegen.

„Ach, da is’ jemand hinter unserem zukünftigen Doktor her“, spöttelte Anton, und Martha spürte, wie sie rot anlief.

„Ich brauch keinen Herrn Doktor, ich will selbst Lehrerin werden!“, gab Martha trotzig als Antwort zurück.

„Oh, da will jemand was Besseres werden“, reizte Anton sie weiter.

„Lehrerin willst du werden?“, mischte sich Edwin jetzt ein, „wieso denn?“

„Es ist nur die Hauswirtschaftsschule, ich kann im Schwesternhaus wohnen und am Samstag fahr ich mit meinem Fahrrad heim zur Mutter und am Sonntag wieder zurück“, sagte Martha fast atemlos.

„Na, wenn da mal der Herr Lehrer nicht auf den Tisch haut“, stieß Anton hervor und als Martha Edwin verwirrt ansah, erklärte der:

„Paul war auch gescheit, und trotzdem hat der Lehrer ihn nicht auf die höhere Schule gelassen. Die Tüchtigen sollen daheim im Dorf bleiben, soll er gesagt haben.“

Jeder wusste, dass es Widerrede beim Lehrer nicht geben durfte.

Auf der Fahrt nach Hause trat Martha so fest in die Pedale, wie sie es nie zuvor getan hatte. Sie musste ihrem Zorn und ihrer Wut über das Gehörte freien Lauf lassen. Und als sie durch die Gartentür zum Haus hochlief, schwor sie mit festem Blick zum Himmel, dass sie sich niemals für ihr Vorhaben schämen würde.

Martha schweigt

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