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4 Heimkehr

Auf dem Feldweg unterhalb der Weinberge lief ein Mann auf das Dorf zu. Die Stiefel an seinen Füßen schienen zu schwer für seinen schmalen Körper zu sein und doch setzte er entschlossen jeden Schritt vor den anderen, so als ob er sein Ziel kannte.

Nichts als heim, dachte Paul, heim zur Mutter, heim ins Dorf. Mutter hatte ihm über die Feldpost geschrieben, dass sein Bruder Karl gefallen war und sein Vater als vermisst galt, doch er wollte nur nach Hause, einfach nach Hause.

Er wischte sich mit der staubigen Hand über die Stirn und hoffte, dass niemand fragen würde. Das Gewehr drückte schwer auf seinen Schultern, ebenso das Gewicht seines leeren Rucksackes, an dessen Riemen ein Kaffeebecher baumelte. Das Gewehr hatte ihm auf der langen Strecke durch Wald und Wiesen geholfen zu überleben, jetzt würde er es nicht mehr brauchen.

An den Weinstöcken am Wegesrand konnte er schon die ersten Triebe an den Reben erkennen und musste an all die Jahre denken, wie sie als Kinder bei der Weinlese am Abend mit nackten Füßen die Trauben in der Kelter festgestampft hatten und danach den ersten Most kosteten, der über eine äußere Rinne in einen Eimer gelaufen war. Die Arbeit dauerte oft bis spät in die Nacht, doch jedes Mal war es ein Freudenfest.

In seinem Innern erklang die Musik von damals und beschwor Bilder von lachenden Mädchengesichtern herauf. Er versuchte sich vorzustellen, wie Annegret und Liesl wohl jetzt aussehen mochten und musste dabei schmunzeln, als plötzlich zwei Gestalten auf dem Feldweg vor ihm auftauchten und seine Erinnerungen vertrieben.

Er warf sich ins nächste Gebüsch und hielt den Atem an. Er wollte nicht gefunden werden, noch nicht. Einer der beiden Gestalten hielt eine Fahne in den Händen, die im Wind flatterte. Als sie näherkamen, spürte Paul, wie er zu keuchen anfing. Er hatte so viele Male im Krieg den Atem anhalten müssen, so dass sich sein Mund seit einiger Zeit wie von selbst öffnete, wenn er Luft holte. Hoffentlich hören oder sehen sie mich nicht, dachte Paul noch, als sie abrupt vor ihm stehen blieben.

„Komm raus!“, rief der Ältere mit der Fahne in der Hand.

Paul duckte sich noch tiefer, in der Hoffnung, unerkannt zu bleiben, als er erneut die Stimme vernahm.

„Komm raus! Wir tun dir nichts.“

Er befand sich im Nachbarort und er hätte nur noch den Waldhügel überqueren müssen, um zu Hause zu sein. Was sollte er tun? Doch dann sah er durch die Äste hindurch die Holzkrücke des Jüngeren und das missgebildete Bein und beruhigte sich. Mit erhobenen Händen trat er aus seiner Deckung heraus.

Der Ältere streckte ihm die Hand entgegen und sagte:

„Ich bin der Bürgermeister, Grüß Gott, mein Sohn.“

Jetzt erst sah Paul, dass es keine Fahne, sondern ein weißes Betttuch war, das an einer Apfelpflückstange gebunden war.

„Wir gehen den Amis entgegen“, sagte der Bürgermeister, als er Pauls fragenden Blick sah, „damit sie unser Dorf verschonen.“

„… und den Leut‘ nichts tun“, fügte der Jüngere hinzu.

„Wem g’hörst du denn?“, fragte der Ältere weiter.

„I..ch bin au…s Wiemersdorf, d..d..em Luber sein Jüngster“, stotterte Paul.

„Ludwig Kassierer aus Wiemersdorf, stimmt’s?“, wiederholte der Bürgermeister zackig und Paul nickte verlegen.

„Wenn du aus Wiemersdorf bist, dann kennst du meinen Sohn, den Friedrich, Friedrich Tetzlaff, der is’ doch Lehrer bei euch im Dorf.“ Paul nickte erneut und spürte, wie sein Herz zu klopfen begann. Seine Knie zitterten, das Blut sackte ihm in die Beine und ihm wurde schwindelig.

„Bist ja ganz blass“, hörte er den Bürgermeister noch sagen, während er sein Gewehr von der Schulter rutschen ließ, um sich darauf zu stützen.

„Gehst bei unserm Hof vorbei, wenn du vorne die Gasse runterkommst, meine Frau macht dir ’ne Brotzeit, dass d’ wieder zu Kräften kommst. Trink ’nen Schluck Most, damit d’ wieder Farb’ im G’sicht kriegst“, sagte er noch und klopfte Paul dabei auf die Schulter.

„Sagst dem Friedrich Grüß Gott von uns, bin auch froh, dass er wieder g’sund vom Krieg daheim ist.“

„Vergelt’s Gott“, grüßte Paul mit erhobener Hand und lief zügig, wenn auch noch schwankend, so schnell wie möglich den beiden Männern davon.

Er nahm sich fest vor, nicht beim Hof des Bürgermeisters einzukehren. Nichts, aber auch gar nichts mehr wollte er mit diesem Lehrer zu tun haben.

Doch als er die Gasse hinunterkam und die Bürgermeisterin durch das offene Tor mit dem Eierkorb in der Hand über den Hof laufen sah, trieb ihn der Hunger hinein. Er rief ihr zu, dass ihr Mann ihn geschickt habe, da ließ sie alles liegen und stehen und bewirtete ihn, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Als er fertig war, packte sie ihm noch einen Laib Brot, Butter, Eier und ein paar Räucherwürste in den Rucksack, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte.

„Vergelt’s Gott“, bedankte sich Paul verlegen, bevor er aufstand und den Hof verließ.

„Grüß den Friedrich von mir, war so froh, als sie im Radio gebracht haben, dass der Krieg vorbei ist.“

Paul spürte Verwirrung und Erleichterung zugleich in sich aufkommen und als er durchs Tor hinausging, drehte er sich noch einmal zur Bürgermeisterin um. Sie musste seinen verwirrten Blick bemerkt haben, denn sie fügte etwas leiser hinzu:

„Musst net beim Friedrich vorbeischauen, er kommt ja eh’ jeden Sonntag zum Mittagessen, hab nur gemeint, wenn du ihn halt triffst.“

Ich werd ihn nicht treffen, dachte Paul, und wenn’s der Zufall doch will, dann werd ich einen weiten Bogen um ihn machen.

Sein Bruder Karl war der Liebling des Lehrers gewesen, an ihm hatte der seinen Narren gefressen. Da nutzte es auch nichts, dass Paul ein guter Fußballspieler und ein guter Schüler war. Am Anfang wollte sein Bruder ihn nicht mal zu den HJ-Treffen mitlassen, und wenn sie mit der Fahne und uniformiert durchs Dorf marschierten, da trug sein Bruder jedes Mal die Fahne und Paul musste mit den anderen hinterhertrotten.

Wie eifrig er sich auch meldete und Interesse bekundete, der Lehrer schaute immer über ihn hinweg, so als ob er nicht existierte. Er hatte bei einem Diktat dem Bruno noch schnell die Kommas in den Text gemacht, bevor sie ihre Zettel abgeben mussten. Der Lehrer erwischte ihn und als sich Paul entschuldigen wollte, zischte dieser nur höhnisch, während er Paul das Ohr umdrehte, bis dieser vor Schmerz aufschrie.

„Entschuldigung, was heißt hier Entschuldigung – das ist ein Charakterfehler, ein Charakterfehler!“, hallte es bis in die letzte Bank der Schulstube. Paul ging beschämt und gedemütigt auf seinen Platz zurück. Nicht mal Bruno, sein Banknachbar, dem er eine gute Note verschaffen wollte, nahm Notiz von ihm. Der Lehrer hielt alle, vom erhöhten Pult aus, mit seinem stieren Blick im unsichtbaren Würgegriff.

Am Abend hat er’s dann Fritz, dem Ackergaul, im Stall erzählt, während er sein Fell mit Striegel und Bürste reinigte. Bei jedem Strich wiederholte er: „Ich hab keinen Charakterfehler, ich hab keinen Charakterfehlen, ich hab keinen Charakterfehler, …“ und bildete sich dabei ein, dass das Pferd jedes Mal mit dem Kopf nickte, bis der Vater mit der Petroleumlampe auftauchte, um vor der Nachtruhe noch mal nach den Tieren zu sehen. Paul wusste nicht, ob sein Vater ihn gehört hatte.

Paul war mittlerweile im Wald oben am Hügel, angelangt. Er wählte den gleichen Weg, den er immer mit Vater und Karl gegangen war, wenn sie die Verwandten im Nachbarort besucht hatten. Der weiche Waldboden war durchzogen mit Wurzelgeäst. In den Lichtungen konnte man die ersten Blätter der Maiglöckchen sehen und am Wegrand links und rechts die Bäume, in deren Rinde sie ihre Initialen eingeritzt hatten: A+K, L+P und K+P für Karl und Paul.

Paul blieb stehen und fuhr mit dem Finger den Buchstaben K nach. Wo Karl jetzt wohl ist?, dachte er wehmütig. Er spürte, wie eine große Welle der Traurigkeit ihn übermannte und wie eine bleierne Hand in seinem Nacken versuchte, seinen Kopf nach unten zu drücken. Doch Paul warf ihn ruckartig zurück in den Nacken und mit Blick zum Himmel schrie er: „Nein, nein, nein!“

Er weigerte sich vorzustellen, dass Karl tot sei. Er wird, wie ich, von der Kompanie geflohen sein, er war im Lazarett und ist nicht wieder zurückgegangen, die wissen nicht, die können doch gar nicht wissen, wo er ist, dass er noch lebt. Doch dann hätte Karl ein einziges Mal ungehorsam sein müssen, Paul zögerte bei diesem Gedanken, ein einziges Mal in seinem Leben. Und dieser Gedanke machte Paul erneut traurig und ließ seinen Kopf und die Hoffnung zugleich sinken.

Karl war so stolz, wenn er beim Abendbrot nach dem Gebet die Wochensprüche aus der Schule auswendig aufsagte:

„Der Führer weiß und kann alles“, sagte Karl eines Tages plötzlich nach dem Tischgebet.

„Der Hitler ist ein gottloser Mensch!“, entgegnete Vater erbost.

„Nur mit Gewalt kann man das erreichen, was man will“, postulierte Karl weiter.

„Gewalt erzeugt nur wieder Gewalt“, protestierte der Vater aufgebracht. Und erst als die Mutter ihre Hand auf die seine legte, beruhigte er sich.

„Euch wird’s nicht gut gehen, Kinder – wir gehen schweren Zeiten entgegen“, sagte er dann und kündigte mit den Worten „Gesegnete Mahlzeit“ die Schweigezeit während des Essens an.

Der Lehrer hatte den Paul immer übersehen und als der in die höhere Schule gehen wollte um zu studieren, da hat der Lehrer zum Vater „nein“ gesagt, „die jungen Leut sollen daheim im Dorf bleiben, dort wo sie gebraucht werden“. Der Vater war weitsichtiger, er wusste, dass der Hof nicht für beide Söhne reichen würde und deshalb hatte er Paul in der Fabrik eine Schlosserlehre machen lassen, bevor der Krieg begann. Die Mutter und sie alle hatten gedacht, dass Vater nicht mehr an die Front muss, wegen seiner Lungenkrankheit aus dem letzten Krieg. Die Nachricht hatte alle schockiert.

Am Abend des Tages, an dem der Einberufungsbefehl für Vater gekommen war und sie noch ein letztes Mal zusammen die Tiere im Stall striegelten, da sah Paul, dass sein Vater weinte, während er ruhig und gleichmäßig über das Fell der Tierrücken strich.

„Warum musst du denn in den Krieg?“, traute Paul sich nun zu fragen.

Jetzt war ein leichtes schmerzhaftes Lächeln auf dem Gesicht des Vaters im flackernden Schein der Petroleumlampe zu sehen.

„Weil ich einen Charakterfehler habe“, gab er zur Antwort zurück und Paul musste schlucken.

Bei den Weinbergen seines Heimatortes angelangt, lief er den Hang hinunter. Frauen, die in den angrenzenden Gemüsegärten ihre Beete jäteten, kamen ihm entgegengelaufen, als sie ihn erblickten.

„Paul, um Gottes Willen, Paul, bist du’s?“– „Heilige Maria Mutter Gottes, die ersten kommen schon heim.“ – „Gott sei Dank!“

Und dann kamen die Fragen: „Weißt du was vom Erwin?“ – „War der Josef bei dir in der Kompanie?“ – „Hast du was vom Hans gehört?“

Paul musste sie alle enttäuschen, als er sagte, dass viele in Gefangenschaft geraten seien.

„Na ja, um Gottes Willen, es wird scho’ alles gut gehen.“ – „Deine Mutter wird sich freuen, Paul, jetzt muss sie nicht mehr die ganze Arbeit allein machen.“

Paul lief das Dorf Richtung Kirchgasse, wo sein Elternhaus stand, hoch. Der Gedanke, dass er nicht Bauer sein wollte, sondern wieder zurück in die Fabrik gehen wollte, ließ ihn nicht mehr los. Er wollte zu seinem Meister zurück. Der Lehrer mochte ihn nicht, aber sein Meister, der wusste, was in ihm steckte, wusste, dass er tüchtig war.

Martha schweigt

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