Читать книгу Martha schweigt - Anna Neder von der Goltz - Страница 12
Оглавление3 Antoniusfeuer
Sie haben unsere Welt verbrannt, dachte Martha, als sie in den frühen Morgenstunden, von Unruhe getrieben, die hintere Bergstraße hochlief, von wo aus sie die Flammen zum Himmel auflodern sah. Die Balken knirschten und bogen sich, bis sie barsten und der Dachstuhl in sich zusammenfiel. Laut und scheppernd krachte er durch die Decke des Lagerhauses und zerstörte alles, was unter ihm lag. Dunkler Rauch stieg in den Himmel und weiße Schwaden zogen übers Dorf hinweg. Die Feuerwehr versuchte vergeblich, mit ihrer Pumpe, die durch dicke Schläuche mit dem Dorfweiher verbunden war, die Wucht der Flammen einzudämmen, doch das Feuer verschlang alles.
Seitlich von der Lagerhalle, auf einer Steinmauer zur Straße hin, saßen Menschen auf Säcken und Bündeln. Sie hielten Hanfnetze mit Zwiebeln, Brot und Kartoffeln fest in ihren Händen, doch noch fester hielten sie ihre Kinder, die sie zwischen ihren Leibern und Kleidern versteckten, um sie vor dem Anblick dieses Grauens zu schützen. Sie hatten Decken über die Schultern gelegt, und ihre Körbe, in denen sie das Notdürftige verstaut hatten, lagen verstreut auf ihrem Fluchtweg ins Freie. Sie drängten sich eng zusammen und in ihren Augen, die noch immer erschrocken ins Feuer starrten, spiegelte sich die rote Glut der Flammen.
Früher wurde in der Halle Getreide gelagert, an den Wänden waren Säcke mit Saatgut und Torfballen aufgereiht, Kohlen und Briketts wurden dort an die Dorfbewohner verteilt, und auf der Holzrampe vor dem Lagerhaus stellten die Bauern ihre vollen Milchkannen ab, damit sie von der Molkerei abgeholt werden konnten. Einmal im Monat war auf dem Vorplatz Markt. Es trafen sich dort all jene, die etwas kaufen oder verkaufen wollten oder auch nur nach einem Rat suchten, wo man was bekommen könne.
Als der Krieg begann, behielten die Bauern ihre Waren für sich. Von der Milch schöpften sie die Sahne ab und stampften Butter daraus. Die Milch, die nicht getrunken wurde, stellte man an den warmen Herd, um aus der geronnenen Milch, die sich oben am Tonkrug absetzte, Quark zu machen. Die Masse wurde in ein Tuch eingeschlagen und das restliche Wasser ausgedrückt. Die gelblich trübe Molke gab man den Alten und Kranken zu trinken, schnell hatte man ihre heilende und stärkende Wirkung erkannt. Kohlen und Briketts gab es immer weniger, je länger der Krieg dauerte, umso mehr war man auf das Sammeln von Holz im Wald angewiesen. Das Getreide wurde oft gleich zur Mühle gefahren, man hatte nicht mehr genug, um etwas zu verkaufen. Nur das Saatgut wurde noch lange oben auf dem Speicher des Lagerhauses ausgebreitet, wo es vom Gemeindearbeiter zum Frühjahr hin gebeizt wurde, doch auch diese Menge verringerte sich von Jahr zu Jahr.
Als die ersten Flüchtlinge aus Schlesien kamen, verteilte sie der Bürgermeister auf die einzelnen Höfe. Nachdem einige sich beharrlich geweigert hatten sie aufzunehmen, ließ er Holzwände in der Lagerhalle einziehen, um somit einem Großteil der Zuflucht Suchenden Unterkunft zu gewähren. Es wurden Kanonenöfen und Herde aufgestellt und Säcke mit Stroh und alte Matratzen aus Hanf herbeigeschafft. Verstaubte Holzkisten, die früher mit Kartoffeln oder Hafer gefüllt gewesen waren, dienten als Möbel.
Auf dem Speicher des Lagerhauses hatte sich all das angesammelt, was die Flüchtlinge an Kostbarkeiten auf ihren Leiterwagen mit sich geschleppt hatten, in der Hoffnung, diese gegen etwas Essbares eintauschen zu können.
In Körben, Truhen und Koffern waren Bilder oder auch nur wertvolle Bilderrahmen verstaut, zusammen mit vielen Stoffbahnen aus Baumwolle, Seide und Leinen. Spindeln mit aufgerollten Spitzenborten und Satinbänder lagen dazwischen und Federstolas hingen aus den aufklaffenden Gepäckstücken heraus, an denen die Schlösser aufgesprungen oder gewaltsam geöffnet worden waren. Schwere Kerzenständer aus Messing, in rotem Filz oder wertvollen Pelzkragen eingewickelt, lagen zwischen dicken Büchern mit bunten Drucken und ledernem, goldbesetztem Einband, eng zusammen in hölzernen Kisten geschichtet.
Für Martha, die in dem kleinen katholischen Dorf nur Das Neue Testament und Die heiligen Legenden gekannt hatte, öffneten diese reich bebilderten und mit farbenprächtigen Zierschriften illustrierten Bücher ein Fenster zu einer neuen Welt, jenseits von Dorf, Wald, Wiesen und Feldern, größer, weiter und bunter, eine Welt, die es dort draußen irgendwo geben musste und in Martha das Fernweh weckte.
Martha lief hinunter zu Annegret und Edwin, die sie in der gaffenden Menschenmenge entdeckt hatte. Viele aus dem Ort waren zusammengelaufen und versammelten sich auf der Straße vor dem Lagerhaus. Martha hatte sich oft heimlich mit Annegret und Edwin dort getroffen. Hinten an der Rückwand des Lagerhauses stand immer eine Leiter angelehnt, mit der sie hoch in den Speicher geklettert waren und für Stunden die Dorfwelt vergessen konnten.
Sie und Annegret wickelten sich in bunte Seidenstoffe ein, warfen sich Federstolas oder Pelzchen über die Schultern, legten sich Satinbänder um den Bauch, hängten sich lange Perlenketten und Amulette um den Hals, probierten Hüte mit Blumengestecken oder kleinen Netzschleiern aus, spielten Prinzessin, Königin und feine Dame aus der Stadt zugleich. Das höchste der Gefühle war eine Zigarettenspitze; diese galant in den Mund gesteckt, posierten sie kichernd vor einem goldumrandeten zerbrochenen Spiegel.
Sie setzten Edwin einen Turban auf und warfen ihm ein Tuch mit goldbedruckten Ornamenten über die Schultern und ernannten ihn zum Sultan, zum König des Morgenlandes und Herrscher des Orients. Edwin war genervt von ihrem Gegacker und schälte sich aus der Verkleidung heraus. Meist saß er in der Ecke, blätterte durch die fremden Bücher und konnte seine Augen nicht abwenden von den Bildern eigenartiger Tiere, seltsamer Pflanzen und Menschen aller Hautfarben aus den unterschiedlichen Regionen der Welt.
Martha und Annegret beugten sich manchmal neugierig über seine Schulter, wenn er wieder in die Bildkarten versunken war und die Darstellungen der einzelnen Kontinente Asien, Afrika, Amerika und der Antarktis genau studierte. Die Art der Bekleidung, die Bemalung von Gesichtern oder Körpern, Kopfschmuck, Arm- und Halsreifen, Bronze- oder Tongefäße für Rituale, Waffen für den Kampf oder auch Schriftzeichen und Musikinstrumente sahen sie zum ersten Mal. Auch die Zeichnungen von nackten Menschen, jeder Strich eine Muskelfaser, von außen und von innen, ließen sie lange nicht mehr los.
Martha glaubte sich zu erinnern, dass Edwin das eine oder andere Buch mit nach Hause genommen hatte. Annegret ließ ein Amulett mitgehen und sie eine Brosche. Niemals hätten sie die Schmuckstücke tragen können, ohne dass ihr Geheimnis entdeckt worden wäre. Martha hatte ihres in den Kopfkeil des Bettes eingenäht und so wurde sie abends, bevor sie einschlief, jedes Mal an ihr schuldhaftes Vergehen erinnert und bekam ein schlechtes Gewissen.
Martha, die mittlerweile in der Traube der Menschen stand, die sich neugierig vor dem Brandort eingefunden hatte, hörte jemanden laut „Brandstiftung!“ rufen. Viele Köpfe drehten sich in die Richtung des Rufenden.
„Nein, wer sagt denn so was?“, empörte sich eine ältere Frau, die sich die Hand vor den Mund hielt und fortwährend mit dem Kopf schüttelte: „Die haben doch niemanden etwas weggenommen.“
„Naja, die eine Gör von denen hat neulich die Äpfel vom Bernbauer sein Garten aufgeklaubt“, kam es aus der Runde.
„Also, ich bitt’ euch, des sind doch Kinder, die haben Hunger“, entgegnete die Alte ihnen.
„Ja und wir, sollen wir nichts essen, jetzt wo sie unser Getreide mit dem Mutterkorn vergiftet ham!“, protestierte einer in der Runde. „Aber das wurde doch schon lang nicht mehr im Lagerhaus aufbereitet“, mischte sich ein älterer Bauer ein.
„Doch“, beharrte ein Jüngerer, „das letzte Saatgut haben wir raus geschaufelt, als die Halle den Flüchtlingen zugewiesen wurde, wer weiß, was die da für Krankheiten aus dem Osten oder vom Russ’ mitgebracht haben?“
„Die haben doch selbst nichts zu fressen gehabt, wie sollen die denn da was mit eingeschleppt haben!“, hörte man wieder eine Männerstimme einwenden.
„Die hatten Geld!“, beharrte der Jüngere erneut, „neulich hat mir einer von denen einen Messingkerzenständer angeboten, für einen Laib Brot. Ich weiß nicht, was die dort oben noch auf ihrem Dachboden gebunkert hatten.“
„Von einem Kerzenständer wirst du halt nicht satt, was soll denn des Geschwätz“, mischte sich die ältere Frau nun wieder ein.
„Naja, wer weiß, ob die den net aus der Kirche geklaut haben?“, ereiferte sich der Jüngere weiter.
„Spinnst du denn jetzt ganz und gar?“, fuhr ihn die Alte aufgebracht an.
„Des sind doch Protestanten, die achten doch nicht die Heiligenbilder und des Kreuz in der Kirch, die haben keine Beichte und wissen auch gar net, was a Sünd ist“, triumphierte dieser jetzt laut über die Köpfe der Menge hinweg, wobei einzelne zustimmend nickten.
Die alte Frau schüttelte wieder den Kopf, machte sich den Weg frei durch die Menge, zeigte mit dem Finger auf den Jüngeren und sagte:
„Du warst schon immer ein dummer und gehässiger Bub!“ Dann drehte sie sich um und ging.
„Und des Mutterkorn?“, rief er ihr laut hinterher, „was ist denn mit den Kindern, mit ihren tauben Fingern und Zehen und den roten aufgeplatzten Grinden in ihrem Gesicht?“
„Heilige Maria Mutter Gottes“, brabbelte jemand hinter Martha vor sich hin. Und als Martha sich umdrehte, sah sie, dass die Frau sich bekreuzigte. „Sie haben uns das Antoniusfeuer mitgebracht und jetzt ist es ihnen vom Herrgott zurückgegeben worden, des Antoniusfeuer, das Mutterkorn …“
Der Jüngere, der Sepp hieß, ließ nicht locker und verkündete weiter: „Dem Körner sein Kind kam neulich mit ’ner Behinderung auf die Welt. Zeit seines Lebens wird der net wieder gesund werden. – Des bringt uns diese Brut mit ins Dorf!“
„Beruhig dich, Sepp“, sagte jetzt eine Frau hinter ihm, die ihn am Arm aus der Menge zog und mit sich nach Hause nahm. Es war seine Mutter, die ein wachsames Auge auf ihren Sohn warf, seitdem dieser vom Militärdienst wegen seiner dicken Brillengläser abgelehnt worden war und im Feld nicht seinen Mann hatte stehen können.
Edwin, Annegret und Martha blickten sich irritiert an. Dann drehte Edwin sich wortlos um und ging nach Hause. Annegret packte Martha am Arm und zog sie mit hinauf zur hinteren Bergstraße, von wo aus sie einen weiten Blick über das verkohlte Lagerhaus hatten.
„Der Paul ist wieder da, weißt du’s schon?“, sagte Annegret ganz aufgeregt.
Martha, die ihren Blick noch immer nicht vom Ort des Geschehens abwenden konnte, seufzte tief: „Jetzt haben sie unsere Welt verbrannt.“
„Sei nicht albern“, stieß Annegret sie in die Seite, „des waren doch nur Kindereien.“
„Kommst du mit?“, fragte sie und fasste Martha an der Hand, „wir laufen die Kirchgasse hinunter an Pauls Hof vorbei, vielleicht sehn wir ihn ja.“
Martha ließ ihre Hand los, ihr war nicht nach Rennen zumute und verwirrt fragte sie: „Wer ist denn dieser Paul?“
„Dem Karl sein Bruder, kannst du dich denn nicht mehr erinnern, der war bei uns in der Schule?“
Martha schüttelte den Kopf. Annegret war zwei Jahre älter als sie und es gab nur eine Dorfschulklasse, doch sie konnte sich nicht erinnern.
„Naja, du warst ja damals noch ein Kind, als die zum Krieg eingezogen wurden“, kommentierte sie Marthas Erinnerungslücke.
Martha schaute sie mit großen Augen an. Annegret packte sie an beiden Armen und schüttelte sie.
„Heute Abend auf dem Dorfplatz treffen wir uns an der Waagbank neben dem Backhaus. Kommst du?“, fragte Annegret.
Martha zuckte mit den Schultern.
„Die Liesl hat gesagt, die jungen Burschen kommen auch“, versuchte sie die Freundin zu begeistern.
Martha löste sich aus dem Haltegriff Annegrets, die sich noch einmal umdrehte, bevor sie die Bergstraße mit großen Sprüngen hinunterrannte und ihr zurief: „Also, bis heute Abend!“
Martha lief gern die hintere Bergstraße entlang. Von dort aus konnte sie in die Gärten und Höfe der Häuschen blicken, die am Hang zur Dorfstraße hin gebaut worden waren. Sie sah die Kaninchenställe und die freilaufenden Hühner hinten im Hof, die nach den restlichen Körnern pickten, die Frauen, die Wäsche an die Leine hängten – es war immer jemand zuhause. Am Scheunentor hingen Kaninchenfelle, die auf Holzgestellen zum Trocknen aufgezogen worden waren. Sie musste an ihren Vater denken, der immer Tränen in den Augen hatte, wenn er wieder einen Hasen mit einem Nackenschlag getötet oder einem Huhn mit dem Beil den Kopf abgehackt hatte. Sie vermisste ihn sehr. Mit Mutter allein war alles so dunkel und trostlos im Haus.
Doch als sie wieder an die verbrannte Welt des Lagerhausspeichers dachte, wich ihre Traurigkeit einer Wut, einem Entsetzen darüber, was sich Menschen antun können. Gleichzeitig spürte sie eine beängstigende Unruhe in sich aufkommen, eine Ahnung, ein Gedanke, dass vielleicht noch Schlimmeres passieren könnte.