Читать книгу Die neue Schulmeisterin - Anna Staub - Страница 10
Wenn Sie doch keine Verwendung mehr dafür haben…
ОглавлениеWenige Tage nach Charlys Ankunft hielt auch Mrs. Van Halen Einzug in Green Hollow. Mit einer angemieteten Reisekutsche und einem weiteren offenen Wagen, der den Hausrat der beiden Damen transportierte.
Charlotte erwartete ihre Mutter vor dem Green Hotel und fiel der kleinen, korpulenten Dame mit dem ausladenden Busen um den Hals, sobald sie sich aus der Mietkutsche bemühte.
„Mama! Wie geht es dir? Hast du die Reise gut überstanden? Du wirst so begeistert sein von unserem neuen Haus! Es hat sogar einen kleinen Garten für dich. Es ist natürlich noch ein bisschen zu tun, bevor wir uns richtig eingerichtet haben, aber es wird dir nur gefallen können.“ Doch Mrs. Van Halen stoppte den Redefluss ihres einzigen Kindes mit der üblichen Autorität.
„Mädchen! Lass mich doch erst einmal ankommen. Du ahnst ja nicht, wie erschöpft ich bin. Den ganzen Weg über war mir schlecht. Dieses Geschaukel der Kutsche war überhaupt nicht gut für meinen empfindlichen Magen. Dann das Essen in den Wechselstationen! Das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Und das ewige Sitzen. Mein ganzer Rücken ist hinüber. Ich hoffe nur, dass es hier einen vernünftigen Arzt gibt! Und zu allem Übel musste ich mir dieses viel zu kleine, dreckige Zimmer zum Übernachten auch noch mit so einer unanständigen Person teilen! Sie hat sich die Lippen rot angemalt und einen wirklich mehr als offenherzigen Ausschnitt zur Schau getragen! Aber jetzt lass uns erst einmal etwas essen. Das hier ist das Hotel, nehme ich an?“ Mit einem zufriedenen Ausdruck ließ sie ihren Blick an der Fassade des Green Hotels hinauf wandern. „Ich hoffe, sie haben bei diesem Wetter Eis vorrätig. Ein Eisbecher wäre jetzt genau das Richtige für meine strapazierten Nerven!“
Charlotte lächelte und ersparte es sich, ihre Mutter darauf hinzuweisen, dass sie eben noch über einen verdorbenen Magen geklagt hatte und ein Eisbecher ihrer Gesundheit sicher nicht zuträglich wäre. Seitdem ihr Vater nicht mehr lebte, war das Krank sein die Lebensbeschäftigung ihrer kerngesunden Mutter. Jedes Zipperlein war ein Trost und gleichzeitig Abwechslung in ihrem eintönigen Alltag. Also ließ Miss Charly ihr die Freude, über ihre eingebildeten Leiden zu jammern, wann immer sie wollte.
Nachdem Mrs. Van Halen in ihrer bestimmenden Art einen Tisch im Speisesaal des Green Hotels ausgesucht hatte, musste Miss Charly ihr Rede und Antwort stehen, was sie die letzten Tage getrieben hatte. Glücklicherweise waren die Verbände, mit denen Doc Dave ihre lädierten Hände umwickelt hatte, wieder verschwunden. Mrs. Van Halen mochte ein eigentümlicher Charakter sein, aber ihre Tochter war ihr Ein und Alles. Jede kleine Tollpatschigkeit von Charlotte zog unweigerlich Angstattacken bei der Dame nach sich. Und aus genau diesem Grund ersparte Miss Charly ihr auch die Geschichte von Blacky und der morschen Leiter. Sie beschränkte sich darauf, von der Verwechslung mit ihrem Namen zu berichten, denn ihre Mutter hätte ihr nie geglaubt, dass die ersten Tage in Green Hollow ohne jegliche Zwischenfälle verlaufen waren.
Mrs. Van Halen quartierte sich einstweilen im Green Hotel ein, bis das kleine Häuschen neben dem Friedhof bezugsfertig und eingerichtet war. Nachdem Charly ihrer Mutter das Haus gezeigt hatte, beschlich diese allerdings erst einmal ein mulmiges Gefühl. Ihre Bleibe wäre ja ganz hübsch und auch passend für sie beide, aber neben dem Friedhof? Ein bisschen unheimlich war das schon. Und auch etwas weit ab vom Geschehen, wie Mrs. Van Halen feststellte. Was, wenn sie einen Anfall bekam und der Arzt nicht schnell genug bei ihr war?
Doch Charlotte schaffte es, mit ihrer guten Laune und Zuversicht alle Zweifel ihrer Mutter zu zerstreuen. Die Ruhe neben dem Friedhof sei doch nur gut für ihre strapazierten Nerven und der Weg zu Doktor McAbberty wäre gar nicht weit. Eine Bemerkung, die Mrs. Van Halen stutzig machte und sofort nachfragen ließ, woher ihre Tochter das denn so genau wüsste. Die junge Frau ärgerte insgeheim ihr Mundwerk, das nie stillstand. Aber zu guter Letzt konnte sie ihre Mutter überzeugen, dass sie es nur so genau wusste, da sie die Strecke schon abgegangen wäre. Natürlich nur, damit sie für den Notfall Bescheid wüsste.
Alberta Van Halen gab sich einstweilen mit dieser Erklärung zufrieden und am nächsten Tag machten sich die angemieteten Arbeiter daran, die wenigen Möbel und den Hausrat abzuladen und in das neue Heim der Damen Van Halen zu verfrachten. Charlotte packte mit an, wo sie konnte und schien überall gleichzeitig zu sein, während ihre Mutter sich damit zufriedengab, den Männern und ihrer Tochter anzuweisen, wo was hingehörte.
Bereits am Nachmittag waren die Möbel aufgestellt und Mrs. Van Halen machte sich auf der Rückseite des Hauses gerade daran, den Hof und das Gärtchen zu inspizieren. Charlotte gönnte sich währenddessen auf der Terrasse zwischen Kisten und Kästchen mit allem möglichen Kleinigkeiten eine kurze Pause.
Sie hatte sich in einem altersschwachen Ohrensessel zurückgelehnt, den die Arbeiter vergessen hatten. In dem riesigen Sitzmöbel war die Lehrerin fast unsichtbar und diese Tatsache sorgte dafür, dass sie Zeugin einer ziemlich seltsamen Begebenheit wurde. Zuerst hörte sie Schritte und gleich darauf ein eigentümliches Klimpern, das eigentlich nur von dem Silberbesteck herrühren konnte. Wenige Augenblicke später hörte das Klimpern auf und anschließend war ein Scharren zu hören. Mit einem neugierigen Ausdruck im Gesicht lehnte Charlotte sich nach vorn und sah zu ihrer Überraschung eine hagere Frau im mittleren Alter. Die unbekannte Dame kramte in aller Seelenruhe zwischen den Habseligkeiten der Van Halens herum. Momentan zerrte sie ein Gemälde mit einem Weiher in der Abenddämmerung ins Licht, um es besser betrachten zu können.
Miss Charly war entweder zu naiv oder zu gutherzig, um auf die Idee zu kommen, dass die fremde Person sie bestehlen wollte, aber irgendwie hielt sie es für angebracht ihre Anwesenheit kundzutun.
Mit einem Räuspern stand sie auf und sofort fuhr die fremde Frau herum, die jetzt zwei kleine Bilder mit Blumenstillleben in der Hand hielt. Sie lächelte freundlichen und ohne das geringste Schuldbewusstsein. „Ah, Sie müssen unsere neue Schulmeisterin sein, die den armen Malbeth in so viel Verwirrung gestürzt hat. Ich freue mich Sie kennenzulernen, Miss Van Halen. Ich bin Bess Aldridge und wir sind quasi Nachbarn. Mein Mann und ich wohnen noch ein kleines Stück die Straße hinunter stadtauswärts. Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt und da dachte ich, ich schau mal bei Ihnen vorbei und mache einen kleinen Willkommensbesuch.“
Charlotte war zwar immer noch nicht ganz klar, warum Mrs. Aldridge in ihren Besitztümern kramte, aber einstweilen begrüßte sie die neue Nachbarin und bedankte sich für das blitzsaubere Haus. Nur um gleich darauf eine Entschuldigung anzuhängen, dass sie ihr keine Erfrischungen anbieten könnte, da man noch nicht komplett eingerichtet wäre. „Aber wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, dann würde ich meine Mutter suchen gehen. Ich bin mir sicher, sie würde Sie gerne kennenlernen. Sie ist hinter dem Haus, um festzustellen, ob es irgendwo einen passenden Platz für ihre Blumen gibt und…“
„Ach Kindchen, machen Sie sich keine Mühe. Ich will Sie auch nicht weiter stören. Ich sehe ja, dass Sie noch viel zu tun haben. Aber wollen Sie wirklich diese beiden Bilder hier in Ihren Salon hängen?“ Mit einem missbilligenden Kopfschütteln hielt Bess Aldridge die beiden Stillleben mit den Blumen hoch. Charlotte kam nicht dazu die Frage zu bejahen, da redete ihre Besucherin schon weiter. „Also wenn Sie das Bild mit dem Weiher auch in den Salon hängen wollen, dann würde ich Ihnen dringend davon abraten. Das passt doch irgendwie nicht zusammen, finden Sie nicht auch?“ Charlotte nickte etwas verwirrt von diesem Wortschwall und dann ging es auch schon weiter. „Ich dagegen habe ein großes Gemälde in ganz ähnlicher Art in meinem Salon hängen. Die beiden Bildchen hier würden es gut ergänzen. Sie sagten doch eben, dass Sie die beiden hier sowieso nicht aufhängen wollen. Wenn Sie doch keine Verwendung mehr für sie haben, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich die Bildchen mitnehme? Ich meine, bevor Sie sie wegwerfen… Das wäre doch ein Jammer, da hänge ich sie lieber bei mir auf. Sie können natürlich jederzeit bei mir vorbeischauen, wenn Sie Sehnsucht danach haben. Also ich muss schon sagen, Sie sind wirklich eine nette junge Frau!“ Damit waren Bess Aldridge und die beiden Stillleben von der Veranda des kleinen Häuschens verschwunden und ließen eine ziemlich verwirrte Charlotte zurück.
Es kostete die junge Frau am Abend einige Mühe ihrer Mutter zu erklären, wo die beiden kleinen Bilder mit den Stillleben abgeblieben waren. Alberta Van Halen war, wie zu erwarten, nicht allzu begeistert über das Verschwinden ihres Wandschmucks und auch nicht bereit klein beizugeben. Miss Charly durfte sich eine halbe Stunde lang anhören, dass man doch nicht einfach fremden Leuten seine halbe Einrichtung überließ. Sie, Alberta, würde das morgen schon regeln.
Als Mrs. Van Halen am nächsten Tag von ihrer Expedition zur Rettung der Stillleben zurückkehrte, stand sie allerdings mit leeren Händen vor ihrer Tochter. „Mein liebes Kind“, begann sie, „ich weiß zwar nicht genau wieso, aber nachdem Mrs. Aldridge etwa fünf Sätze gesagt hatte, erschien es mir doch sehr vernünftig ihr die Bilder zu überlassen. Ich weiß gar nicht, wie sie mich so schnell wieder aus ihrem Haus hinauskomplimentiert hat, bevor ich meine sieben Sinne wieder beisammen hatte.“ Mrs. Alberta sah etwas verwirrt aus und Charlotte musste lachen. Es war wohl das erste Mal, dass ihre Mutter eine Meisterin gefunden hatte, bei der sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte.
Am Nachmittag machte Miss Charly sich auf den Weg, um in Plockton's Warehouse ein paar Besorgungen zu machen. Als sie den Laden mit einem fröhlichen Lächeln und einem Korb im Arm betrat, wurde sie von einem etwa neunjährigen Mädchen mit goldblonden Haaren empfangen. Irgendwie kam ihr die Kleine bekannt vor, aber sie wusste nicht so recht woher. Die beiden Damen an der Theke kannte sie dagegen mit Sicherheit nicht.
„Guten Tag, Miss Van Halen“, grüßte das Mädchen artig und mit einem kleinen Knicks, der Charlotte sehr belustigte. „Es freut mich, Sie wiederzusehen. Können Sie sich noch an mich erinnern?“
„Doch, ich kann mich an dich erinnern“, antwortete die Lehrerin und beugte sich zu der kleinen Dame hinunter. „Ich weiß leider nur nicht mehr, wo wir uns kennengelernt haben. Und deinen Namen habe ich wohl leider auch vergessen.“ Es kostete Charlotte einige Mühe an dieser Stelle abzubrechen und nicht weiter Vermutungen darüber anzustellen, wo sie das kleine Mädchen schon gesehen haben könnte.
„Nein, haben Sie nicht. Ich war so unhöflich und hab mich damals gar nicht vorgestellt“, stellte die Kleine altklug fest. „Ich bin Harriet Plockton und wir haben uns gesehen, als Sie hier angekommen sind und alle dachten, Sie müssten eigentlich ein Mann sein.“
Charlotte brach bei dieser Formulierung in ein lautes Lachen aus, was ihr nun die Aufmerksamkeit der zwei Frauen sicherte, die bis eben miteinander geredet hatten. Die Dame hinter dem Tresen sah etwas peinlich berührt aus. „Harriet, was hast du jetzt schon wieder angestellt? Sie müssen entschuldigen, Miss…?“
Doch Harriet ließ sich von ihrer Mutter nicht aus der Ruhe bringen und genoss ihren Wissensvorsprung voll und ganz. „Ma, Miss Finney, darf ich euch Miss Van Halen, unsere neue Schulmeisterin vorstellen?“
Charlotte warf ihrer zukünftigen Schülerin noch einen amüsierten Blick zu, dann ging sie auf die beiden Damen an der Ladentheke zu und streckte ihnen die Hand entgegen. „Guten Tag, es freut mich Sie kennenzulernen, Mrs. Plockton. Ich nehme an, dass Miss Harriet eine meiner zukünftigen Schülerinnen ist? Sie scheint ja eine gute Erziehung zu genießen. Ich bin selten so formvollendet von einer Schülerin vorgestellt worden. Ich bin gespannt, ob meine anderen…“ Etwas peinlich berührt hielt Miss Charly in ihrem Redeschwall inne, als ihr einfiel, dass sie Mrs. Plockton vielleicht etwas Zeit geben sollte, um auf ihre erste Frage zu antworten.
Nachdem Liz Plockton die Frage bejaht hatte und auch die ominöse Miss Finney mit ihrem richtigen Namen vorstellte, konnte Charlotte ihrem gutgelaunten Redefluss endlich freien Lauf lassen. „Ich glaube, Mrs. McAbberty hat ihren Namen einmal erwähnt, Mrs. Sullivan. Stimmt es, dass Sie hier angeschossen worden und einem Mann das Leben gerettet haben? Das hört sich beeindruckend an. Wie in einem Roman! Ich hoffe, Sie sind damals nicht ernsthaft verletzt worden?“
Finney sah bei dieser Rede etwas verdutzt drein, und noch bevor sie antworten konnte, hatte die zukünftige Lehrerin schon wieder das Wort ergriffen. „Oh je, war das jetzt indiskret von mir? Ich hätte vielleicht nicht danach fragen sollen, wo wir uns doch gerade erst kennengelernt haben. Es tut mir wirklich leid. Ignorieren Sie mich einfach!“, entschuldigte Miss Van Halen sich mit hochrotem Kopf und Mrs. Sullivan kam nicht umhin zu lachen. „Nein, es ist schon in Ordnung. Ich war nur etwas überrascht, dass Ihnen diese Geschichte auch schon zu Ohren gekommen ist. Mir ist damals nicht allzu viel passiert. Es war lediglich eine kleine Wunde am Arm. Kaum der Rede wert.“
Charly lachte erleichtert auf, sobald sie merkte, dass sie mit ihrer unverblümten Frage nicht in Ungnade gefallen war und Mrs. Sullivan revanchierte sich gleich darauf mit einer Geschichte über ihre zukünftigen Schützlinge und eine Sonntagsschulstunde, die sie einmal gehalten hatte. Die beiden jungen Frauen standen einige Zeit beieinander und schwatzten, während Liz Plockton andere Kunden bediente.
Finney berichtete von ihrer Zeit als Krankenschwester bei Doc Dave und musste insgeheim lächeln. Charlotte Van Halen schien eine nette, junge Frau zu sein, aber ihr etwas unkontrolliertes Geplapper ließ darauf schließen, dass sie mit ihrer Vermutung, dass die zukünftige Lehrerin eine Chaotin reinsten Wassers war, Recht hatte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie der stille Bill und diese Frohnatur einander kennengelernt hatten. Als es für Finney Zeit wurde, wieder zu gehen, lud sie Miss Van Halen aus einem Impuls heraus zu einem Abendessen ein. Sie wusste noch zu gut, wie es war hier fremd zu sein und die neue Lehrerin hatte nicht den unschätzbaren Vorteil, von Mrs. Trudi unter die Fittiche genommen zu werden.
„Es würde mich wirklich freuen, Mrs. Sullivan! Allerdings beginnt nächste Woche die Schule und ich werde am Anfang sehr eingebunden sein. Ich will nicht unhöflich wirken und würde wirklich gern vorbeikommen und auch Ihren Mann kennenlernen, aber…“ Charlotte sah etwas hilflos aus. Sie mochte die kleine, zierliche Frau vor sich und es konnte nie schaden ein paar neue Freundschaften zu knüpfen, aber sie glaubte kaum, in der nächsten Woche Zeit zu haben. Aber war es nicht furchtbar unhöflich die erste Einladung gleich abzulehnen? Sie wollte nicht, dass Mrs. Sullivan dachte, sie hätte kein Interesse an einem Abendessen bei ihr.
„Das kann ich verstehen. Warum sagen wir nicht einfach in zwei Wochen? An einem Freitag? Mein Mann wird Sie abholen. Ich nehme an, dass Sie keine eigene Kutsche haben?“
Charlotte stimmte begeistert zu und so trennten sich die beiden Frauen vor Plockton's Warehouse, um ihrer Wege zu gehen. Als Miss Charly zu Hause ankam, musste sie allerdings feststellen, dass sie sich gleich noch einmal auf den Weg machen musste. Über ihre Begeisterung eine neue Bekanntschaft geschlossen zu haben, hatte sie ihre Besorgungen vergessen!