Читать книгу Die neue Schulmeisterin - Anna Staub - Страница 12

Die kriegt doch alleine nichts hin…

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Bill Sullivan glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er war gestern nach Clarksville geritten, um ein paar Rinder für seinen Vater zu verkaufen und jetzt, auf dem Rückweg, ritt er tatsächlich in diese verrückte Lehrerin hinein, die mit ihren Haaren in einem Brombeergestrüpp festhing. Hätte er diese Wendung in einem seiner Bücher gelesen, dann hätte er wohl bemängelt, dass das doch ein allzu unwahrscheinlicher Zufall war.

„Guten Tag, Mr. Sullivan!“, grüßte ihn die neue Schulmeisterin jetzt mit einem reichlich schiefen Lächeln, anscheinend wenigstens um den Anschein von Würde bemüht. Er erwiderte ihren Gruß lediglich, indem er kurz seinen Cowboy-Hut lüftete, dann stieg er umgehend von seinem Pferd und band es an einen der Apfelbäume, die sich hier mit den Brombeeren um die Vorherrschaft stritten.

„Hallo Mr. Bill!“, begrüßte ihn jetzt auch Jimmy gutgelaunt und berichtete gleich ungefragt, wie es zu dieser außergewöhnlichen Situation gekommen war. „Miss Van Halen hat mit uns Verstecken jespielt und ich hab ihr das beste Versteck gezeigt“, grinste er und fügte dann etwas leiser hinzu: „Die kriegt doch alleene nichts hin.“

Ja, das konnte sich der blonde Sullivan nur allzu gut vorstellen. Ohne ein Wort zu verlieren, ging er auf die im wahrsten Sinne des Wortes gefesselte Schulmeisterin zu und begann vorsichtig ihre blonden Haare aus den widerspenstigen Ranken zu lösen. Jimmy indes spurtete los, um den anderen zu sagen, dass Miss Van Halen gleich zurückkommen würde.

Charlottes Gesicht hatte inzwischen einen so tiefen Rotton angenommen, dass es problemlos mit einer der überreifen Himbeeren konkurrieren konnte. Bill und seine Frau mussten sich ja im Geheimen herrlich über ihre ungeschickte Art amüsieren, ging es ihr durch den Kopf.

„Sie müssen mich für eine ziemlich seltsame Person halten“, versuchte Miss Charly sich schließlich zerknirscht zu rechtfertigen.

„Weil Sie sich schon wieder in eine Situation manövriert haben, aus der Sie sich selbst nicht befreien können oder weil Sie mit Ihren Schülern während des Unterrichts Verstecken spielen?“, war die trockene Gegenfrage, während Bill etwas ungestüm an einer der Ranken riss, um wenigstens eine der Haarsträhnen zu befreien. Was zur Folge hatte, dass Miss Van Halen mit einem Schmerzenslaut gegen ihn strauchelte. „Verzeihung“, sagte er entschuldigend und ging von da ab vorsichtiger zu Werke.

„Nein, nein. Es ist ja meine eigene Schuld. Sie haben völlig Recht. Vielleicht sollte ich nicht mit den Kindern Verstecken spielen. Aber wissen Sie, ich habe mir gedacht, dass wir so viel schneller Freunde werden, wenn wir Spaß miteinander haben. Ich hätte die Kinder heute Morgen mit Rechenaufgaben und Rechtschreibübungen quälen können, aber ihren Wissensstand kann ich auch morgen noch prüfen. Die Gelegenheit für einen guten ersten Eindruck, die hat man nur einmal. Ich möchte, dass sich die Kinder bei mir wohlfühlen, dann lernen sie umso besser. So ging es mir immer. Ich hatte bei Lehrern, die ich nicht leiden mochte, immer furchtbar schlechte Noten. Und da habe ich mir gedacht, dass ich den ersten Tag dazu nutze, um die Freundschaft der Kinder zu gewinnen.“ Charlotte hielt mit ihrem Wortschwall plötzlich inne und versuchte über die Schulter zu Bill zu spähen, der hinter ihr stand und vollauf mit den Brombeerranken beschäftigt war. „Halten Sie das für sehr verrückt?“

„Nein, ich finde, es hört sich eigentlich vernünftig an.“ Der schweigsame Sullivan konnte selbst nicht richtig glauben, dass er das zu einer erwachsenen Frau sagte, die beim Verstecken spielen mit ihren Haaren im Brombeergestrüpp hängengeblieben war.

„Wirklich?“, fragte Charlotte erfreut und hätte sich im gleichen Augenblick dafür ohrfeigen können, dass ihr die Meinung eines verheirateten Mannes so wichtig war. Vor allem eines verheirateten Mannes, den sie vorher gerade einmal in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Und es war ja nicht so, dass sie bei diesem ersten Treffen so viel miteinander geredet und übereinander erfahren hatten. „Naja, es freut mich jedenfalls, dass Sie so denken. Es ist immer gut, nicht alleine mit seiner Meinung dazustehen. Natürlich sollte man sich auch nicht von seiner Meinung abbringen lassen, nur weil andere sie nicht teilen. Also wenn man selbst von der Richtigkeit einer Annahme überzeugt ist.“

Die Lehrerin verlor sich schon wieder in ihren ausschweifenden Überlegungen, doch Bill war eigentlich ganz froh über ihren Redefluss. Er bewahrte ihn davor, sich fragen zu müssen, warum er es nicht als unangenehm empfand, die Haare einer fremden Frau aus einem Gestrüpp befreien zu müssen. Und wieso er sich dabei so viel Zeit ließ.

Doch schließlich hatte er alle Ranken aus den blonden Locken gezogen und Miss Van Halen war wieder in der Lage ihren Kopf zu bewegen.

„Ich muss mich schon wieder bei Ihnen bedanken.“ Vorsichtig griff Charlotte nach ihrer zerstörten Frisur, die nun einen verfilzten Wust an ihrem Hinterkopf bildete. „Oh je…“, murmelte sie. „Sehe ich sehr schlimm aus?“

Bill musste feststellen, dass sie in seinen Augen überhaupt nicht schlimm aussah und das gefiel ihm nicht im Geringsten. Er fragte sich ernsthaft, seit wann es ihn interessierte, wie fremde Frauen aussahen.

„Mein Vater sagt immer: Einen schönen Menschen entstellt nichts“, versuchte er sich schließlich reichlich ungeschickt aus der Affäre zu ziehen, was allerdings Miss Charlotte zu einem breiten Lächeln veranlasste. „Finden Sie mich denn schön?“, platzte sie heraus, nur um sich bei Bills entsetztem Blick die Hände vor den Mund zu schlagen. „Entschuldigen Sie! Das war… war wirklich dumm von mir! Jetzt können sie natürlich nichts anderes als ja sagen, wenn sie nicht unhöflich sein wollen. Ich rede einfach zu viel. Es tut mir wirklich leid. Vergessen Sie mich einfach“, stammelte Charly. „Ich meine… vergessen Sie, was ich gesagt habe. Ich… muss nach den Kindern sehen. Vielen Dank noch einmal für Ihre Hilfe.“ Und mit hochrotem Kopf machte Charlotte auf dem Absatz kehrt, um sich wieder ihren Schülern zu widmen.

Bill Sullivan starrte ihr noch eine Weile nach und fragte sich, was eigentlich der Unterschied zwischen jeder anderen Frau in Green Hollow und dieser seltsamen Person war. Er hätte Miss Van Halens Rat sie doch einfach zu vergessen gerne befolgt, aber irgendwie schwante ihm, dass das so nicht funktionieren würde. Jede andere Frau konnte er vergessen, sobald sie aus seinem Blickfeld verschwand, aber dieser Unglücksrabe stolperte mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder in seine Gedanken. Ungeachtet der Tatsache, dass er sie nicht kannte und diese seltsame Begegnung mitgerechnet erst zwei Mal in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Normalerweise war in seinem Kopf nur Platz für eine Frau. Und zwar seine eigene. Josephine.

Mit einem leisen Fluch schwang er sich wieder auf sein Pferd und setzte seinen Heimweg fort.


Charlotte hatte ihre Schüler inzwischen mit hochrotem Kopf erst einmal zum Mittagessen nach Hause geschickt und sich dann auch auf den Weg gemacht. Mit ihrem momentanen Kopfputz konnte sie ja wohl kaum unterrichten.

Glücklicherweise war ihre Mutter nicht zu Hause, als sie durch die Tür stürzte, und so blieben ihr neugierige Fragen vorerst erspart. Sie hätte wahrscheinlich gar nicht vernünftig darauf antworten können, so durcheinander, wie sie momentan war.

Was war nur mit ihr los? Es hatte schon einige Männer gegeben, die sich für sie interessiert hatten, aber keiner von ihnen, hatte sie länger beschäftigt, als ihre kurzen Besuche andauerten. Und ehrlich gesagt war ihr deren Nähe auch immer ein wenig unangenehm gewesen, wenn die besagten Herren an sie heranrückten, oder versuchten ihre Hand zu halten. Oder, Gott bewahre, die wenigen Dreisten, die tatsächlich versucht hatten, sich einen Kuss zu stehlen. Nein, sie alle hatten eine gewisse Abwehr in ihr hervorgerufen.

In Bill Sullivans Nähe dagegen hatte sie sich geradezu wohl gefühlt. Woran konnte das nur liegen?

Miss Charly war sich nicht ganz sicher. Woran sie allerdings nicht zweifelte, war die Tatsache, dass solche Gefühle einem verheirateten Mann gegenüber völlig unangebracht waren. Noch dazu, wo er so ganz offensichtlich kein Interesse an ihr hatte und ihr nur aus Höflichkeit half. Nicht, dass es die Sache besser gemacht hätte, wenn ein verheirateter Mann sich für sie interessieren würde. Nein, das wäre ja noch schlimmer, stellte Charlotte schließlich verwirrt und mit einem leicht schlechten Gewissen fest. Aber an Bill Sullivans Desinteresse war ja auch nicht zu zweifeln. Es kamen mit Mühe und Not drei Sätze zusammen, die er während dieser ganzen peinlichen Situation an sie gerichtet hatte.

Mit fahrigen Bewegungen versuchte die junge Frau die verfilzten Knäule aus ihren Haaren zu bürsten, war aber nicht ganz erfolgreich. Erst als sie eine Schere zu Hilfe nahm und die schlimmsten Flusen herausschnitt, wurde es besser.

Am Nachmittag beschränkte sich die neue Schulmeisterin auf gesittete und althergebrachte Beschäftigungen im Unterricht wie Rechtschreibkontrollen und Rechenaufgaben. Zu ihrer Erleichterung verhielten ihre Schüler sich auch still und kamen all ihren Aufgaben ohne Probleme nach.

In einem seltenen Anfall von schlechter Laune sagte Miss Van Halen sich, dass die Kinder wahrscheinlich Mitleid mit ihr und ihrer Unfähigkeit hatten und deswegen keinen Ärger machten.

Was allerdings nicht der Fall war. Wie ihr der kleine Frank Brunsberger nach seinem ersten Schultag vor Augen führte.

Ihre Schüler hatten kaum das Klassenzimmer verlassen, als Charlotte ihren Kopf auf dem Lehrerpult ablegte. Es war einer der sehr seltenen Momente in ihrem Leben, wo ihr alles zu viel wurde. Für einen Augenblick kämpfte sie mit den Tränen, als ihr der Gedanke kam, dass sie der trampeligste Mensch auf der ganzen Welt sein musste. Doch unvermutet riss die Stimme des kleinen Frank Brunsberger sie aus ihren Gedanken und zwang sie aufzusehen.

„Miss, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich heute Nacht bestimmt nicht wieder ko… mir übergebe. Das hab ich nur gemacht, weil ich Angst vor Sie hatte, aber morgen komm ich gerne zu Sie in den Unterricht!“

Mehr brauchte es nicht, um Charly wieder zum Lachen zu bringen und sie ersparte es sich für diesmal, den kleinen Kerl zu verbessern. Wenigstens die Kinder schienen sich von ihrer tollpatschigen Art nicht abgestoßen zu fühlen. Und deswegen war sie ja nach Green Hollow gekommen. Um zu unterrichten, nicht um bei Männern einen guten Eindruck zu machen.

Auch die nächsten Tage in der Schule verliefen ähnlich gut und der Plan der Lehrerin die Kinder zu ihren Freunden zu machen, schien aufzugehen. Die ersten Tage waren jedoch nur eine Art Schonfrist gewesen, denn noch am Freitag machte Davy Slane seinem Ruf alle Ehre.

Er hatte sich eine ein paar Spinnen gefangen, in eine kleine Holzschachtel gesperrt und diese auf dem Pult der Frau Lehrerin platziert. Als Miss Van Halen am Freitagmorgen gutgelaunt das Klassenzimmer betrat und ihre Bücher auf dem Pult ablegte, zog Davy an einer Schnur, die mit der Klappe des Kästchens verbunden war, und ermöglichte so seinen Spinnen den Weg ins Freie. Den die armen Tiere natürlich auch eiligst suchten. Und zwar quer über das Pult der Lehrerin und dann in einer wilden Jagd durchs Klassenzimmer. Der blonde Tunichtgut hatte einige wirklich repräsentative Exemplare eingefangen, die jetzt für eine Kreischtirade der Mädchen sorgten, die sich teils heulend, teils schimpfend auf ihre Pulte retteten. Die Jungen dagegen machten sich begeistert daran, die Tiere mit ihren Schiefertafeln zu erlegen.

Auch Charlotte war im ersten Moment erschreckt zurückgewichen, doch eigentlich hegte sie keine Abscheu gegen Spinnen oder sonstige Insekten. Nach dem ersten Schreckmoment hatte sie auch sofort den Übeltäter ausgemacht. Davy Slane saß als Einziger seelenruhig auf seinem Platz und beobachtete das Spektakel mit einem breiten Grinsen.

Miss Charly griff zu einer erfolgreichen Methode, die ihr erster Schullehrer immer benutzt hatte, um Ruhe in die Klasse zu bringen. Sie zog einfach ihre Fingernägel über die Tafel und das kratzende Geräusch bescherte nicht nur ihr eine Gänsehaut, sondern sorgte auch dafür, dass ihre Schüler augenblicklich in ihren derzeitigen Tätigkeiten innehielten.

Charlotte ließ die Spinnen Spinnen sein und beschränkte sich auf eine wortreiche Strafpredigt, dass man Tiere, egal welche, nicht für solche Arten von Streichen zu missbrauchen hatte und sie schon gar nicht in dunkle Kisten sperren sollte. Sie würden sich ebenso fürchten wie die Menschen. Und nachdem die Lehrerin einmal in Fahrt gekommen war, dauerte ihre Strafpredigt den halben Vormittag. Am Ende waren sogar die hysterischen Mädchen wieder freiwillig von ihren Pulten geklettert und hatten ganz gesittet auf ihren Stühlen Platz genommen. Die überlebenden Spinnen waren inzwischen nach draußen geflüchtet und der Unterricht nahm seinen gewöhnlichen Gang.

Erst als am Nachmittag alle gegangen waren, zitierte Miss Charly den Missetäter zu sich. Nach ihrer endlosen Predigt war sogar Davy Slane versucht nie wieder einen Streich innerhalb der Schulmauern zu spielen, nur um diesem endlosen Wortschwall zu entgehen.

Miss Van Halen hatte im Geiste den ganzen Vormittag nach einer passenden Strafe für den Übeltäter gesucht, denn ein einfaches Nachsitzen erschien ihr nicht angemessen. Doch beim Mittagessen, als ihre Mutter meinte, der Wandschrank im Flur bräuchte neue Regalbretter, war ihr eine grandiose Idee gekommen.

„Ich habe mir etwas überlegt, Davy. In der Bibel heißt es Auge um Auge und Zahn um Zahn. Du hast die armen Spinnen in eine enge kleine Schachtel gesperrt und deswegen möchte ich, dass du ein Gefühl dafür bekommst, wie es ist, eingesperrt zu sein. Ab mit dir in den Schrank.“

Der blonde Junge schaute seine Lehrerin verblüfft an und erst, nachdem sie zwei Mal wiederholt hatte, dass sie es ernst meinte, leistete er Folge. Eigentlich hatte er damit gerechnet irgendetwas abschreiben zu müssen oder im schlimmsten Fall ein paar Schläge zu bekommen, aber das war etwas ganz Neues.

Und Miss Van Halen scherzte nicht. Sie ließ Davy wirklich in den Schrank steigen und sperrte die Türen ab. Sie war sich zwar nicht ganz sicher, ob ihre Erziehungsmaßnahme überhaupt einen Sinn hatte, da Davy ja wusste, dass ihm in dem Schrank nichts passieren konnte, aber sie erlaubte sich, ihm nach zehn Minuten einen kleinen Denkzettel zu verpassen. Sie nahm ihre Bücher, schloss die Läden der Fenster und ebenso die Tür, die hinaus führte. Der kleine Witzbold musste denken, dass er nun allein im Klassenzimmer sei.

Dass ihr Plan Erfolg hatte, zeigte sich gleich darauf. Ein klägliches „Miss? Miss Van Halen? Ich will hier raus! Sind Sie gegangen?“ erklang. Charlotte ließ ihren Schüler daraufhin augenblicklich aus dem Schrank, der in der Tat etwas verwundert schien, dass sie ihn doch nicht allein gelassen hatte.

„Na Davy, wie hat es sich angefühlt, nicht zu wissen, was als Nächstes passiert und ob du wieder aus dem Schrank herauskommst?“, fragte sie strenger, als ihr eigentlich zu Mute war, während der verängstigte Junge aus dem Schrank krabbelte.

„Nicht gut. Ich hatte Angst“, murmelte er peinlich berührt und senkte den Kopf.

„Siehst du, und genauso ging es den Spinnen heute Morgen. Vielleicht denkst du das nächste Mal daran, wie du dich bei so etwas fühlen würdest.“

Davy nickte schuldbewusst und packte seine Bücher zusammen, doch irgendwie hatte Charlotte nicht das Gefühl, dass das der letzte Ärger war, den Davy Slane gemacht hatte.

Ein Gutes hatte dieser Schultag allerdings gehabt. Sie hatte sich nicht einmal fragen können, was Bill Sullivan nach diesen peinlichen Zwischenfällen in der letzten Woche von ihr halten musste.





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