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Eins

Ortsaufnahmen

In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, beantwortete man die Frage, wer man sei, nicht mit dem eigenen Namen; man wurde ohnehin nicht danach gefragt, sondern wem man gehöre. «Wem gheiersch du?», fragten die Alten, und die Jungen fragten nicht, das waren wir. Oft denke ich daran zurück; an die alte Hebamme, die ein Haus weiter wohnte und die ich um ihr Kopftuch beneidete, das sie stets trug, da man sie daran erkannte. Ich wollte auch erkannt werden und wurde immer wieder gefragt.

Die Gegend, in der das Dorf lag, war die schwäbische Hochalb. Später erfuhr ich, es hieße Oberschwaben. Ich lernte nie Hochdeutsch und bezeichnete alle, die es konnten, als eingebildet und arrogant. Ich glaubte lange, dass Radioaktivität bedeutet, dass man stirbt, wenn das Radio angeschaltet wird und dass Kinder mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom sehr dringend Aufmerksamkeit brauchen. Ich glaubte so lange an Gott, bis Deutschland bei der WM 2006 gegen Italien verlor, obwohl ich zuvor stundenlang für einen Sieg gebetet hatte. Heute glaube ich weder an Hochdeutsch, noch an Gott, noch an Fußball.

Das Haus, in dem wir wohnten, wurde während unserer Kindheit zum Teil abgerissen und wieder neu aufgebaut. Es war das Haus eines Ziehonkels meines Vaters, der sich kurz vor meiner Geburt im oberen Stockwerk mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen hatte. Es wurde das Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter erschlug regelmäßig vollgesogene Mücken an den Wänden, und manchmal stellte ich mir vor, die Flecken stammten vom Gehirn des Onkels. Ich konnte mir seinen Namen nie merken.

Das Zimmer, in dem ich lebte, war das kleinste des Hauses, Treppe hoch und letzte rechts. Ich besaß dunkelblaue Vorhänge und Lampen, die wie Wolken aussahen. Ich puzzelte. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, musste ich noch vor dem Mittagessen ein kleines Puzzle legen; anders gelang es mir nicht, den Schultag zu verarbeiten. Es wird in meinem Leben nie etwas Schlimmeres geben als ein fehlendes Puzzleteil.

Meine Schwester wurde ein Jahr und vier Monate vor mir geboren. Eine uralte Videoaufnahme, die kurz nach meiner Geburt aufgenommen wurde, zeigt meine Schwester, wie sie aufgeregt und begeistert an meinem Babybett steht und sich später vor übersprudelnder Kinderliebe auf mich legt. Als sie weggehoben wurde, schrie ich sehr laut. Bis heute weiß ich nicht, ob ich schrie, weil sie mich erstickte, oder weil ich wollte, dass sie bei mir blieb.

Der Winter, der jedes Jahr sehr früh begann, kühlte Füße und Gemüter. Manchmal sanken die Temperaturen auf -30 °C. Die Kälte biss. Ich wurde schwach und meine Haut schuppig. Bei Erkältungen rieben wir uns Schmotz unter die Nase, Schmotz, eine dicke und klebrige gelbe Ringelblumensalbe, Schmotz für die Haut, Hautschmotz, das sich manchmal mit Rotz vermischte und tropfte und als gelblicher Schleim im Taschentuch versickerte. Wir waren vier Personen und brauchten viel davon.


Schimmer

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