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Vorwort

von Finn Holitzka & Samuel Kramer

Stell dir vor, du bist jemandem gerade erst begegnet, und doch fühlst du dich bereits zu Hause. Es gibt dampfende Tassen mit goldenen Scheiben frischen Ingwers. Draußen stürzt die Welt am Fenster vorbei, drinnen gibt es ­Krümel von Keksen aus Hafer. Sie kleben süß in den Ecken von ­Gesprächen. Dann wird es heimelig. Wenn man Anna lesen hört, stellt sich auch so ein Gefühl der Nähe ein. Man fühlt sich dabei wie zu Hause. Und könnte dann meinen, dass es an ihrer Stimme liegt, dass es ihre ruhige und liebevolle Art zu sprechen sei, die einen an ihre Charaktere bindet und in die Geschichten zieht. Das ist aber nur zum Teil richtig. Ja, Anna kann sehr schön vortragen. Aber es ist vor allem ihre Perspektive, die ruhig und liebevoll mit ihren eigenen Charakteren umgeht. Ihre Wörter erzeugen Nähe, noch bevor sie ausgesprochen sind. Ihre Sätze sind bedacht, aber sie haben keine Angst vor Gefühlen.

Manche Menschen legen bei der Begrüßung die Arme um deine Schulterpartie. Andere Menschen umarmen. Wenn du gerade Anna getroffen hast, kann es sein, dass letzteres passiert. Hallo, fragt sie dann. Sie sagt es nie bloß, sie fragt es immer ein bisschen: ganz behutsam, als würde sie ein Babytier, das man sich unbedingt mit einem zarten Flaum vorstellen muss, in die hohle Hand heben, bedacht darauf, es nicht zu erschrecken. Hallo? Man darf davon ausgehen, dass Anna in diesem Moment spürt, wie es dir geht. Manche ­Menschen warten, bis sie mit Reden dran sind. Andere Menschen hören zu. Es ist dieses lebhafte und echte Interesse, dieser empathische Eifer, der auch aus ihren Figuren und ihren Welten spricht. Es ist eine große Fähigkeit, den anderen in seinem Anderssein zu akzeptieren. Und der Versuch, ihn oder sie zu verstehen, ist unglaublich wichtig. Dazu muss man gar nicht auf die aktuelle politische Situation verweisen und auf die Gräben, die mit Brücken versehen werden wollen. Begegnungen zu ermöglichen, ist eine (politisch) bedeutsame und (literarisch) anspruchsvolle Aufgabe, der sich Annas Texte stellen. Und die sie bravourös meistern. Es sind Miniaturen, die den Alltag neu vermessen.

Ihr steht dann zum Beispiel im Matratzen Concord im Industriegebiet einer mittelmäßigen deutschen Großstadt. Du hast beiläufig zwischen Ingwerteeschlücken erwähnt, dass du schlecht schläfst in letzter Zeit. Und weil Anna zufällig mit ihrem kastenförmigen Gebrauchtwagen da ist, der ein Renault oder Ford sein könnte, fahrt ihr eine Matratze für dich kaufen. Wie jetzt? Ja, jetzt – na klar, steig ein. Auf den Matratzen im Angebot sind durchsichtige Plastikbezüge für die Schuhe, damit man nichts schmutzig macht. Ihr liegt dann Probe auf den teuersten Matratzen, es ist als wäre man der Stiel einer Zuckerwatte, und kauft dann die günstigste. Mit den richtigen Menschen wird das Alltägliche besonders: Ein Nachmittag mit Anna ist das Gegenteil eines durchsichtigen Plastikbezugs. Eine Begegnung bringt immer etwas Neues hervor, sonst war es nur ein Aufeinandertreffen. Annas Erzählungen feiern solche Momente, in denen Neues entsteht. Das kann etwas ganz Kleines sein. Deshalb benutzt Anna oft kleine Wörter, ihre Geschichten inszenieren den Zauber des Alltäglichen ohne Pyrotechnik und Knalleffekte. Gerade deshalb erlauben wir uns, von ihnen mitgerissen zu werden. Eine gewisse Sorte guter Texte macht, dass es egal wird, was sich zuvor in der sogenannten «Wirklichkeit» abgespielt hat. Es ist dann nicht mehr wichtig, ob eine Geschichte erfunden oder nachempfunden wurde. Eine gute Geschichte ist immer genau so wirklich passiert – wenn man sie hört oder liest. Weil ihr Sound in der Luft liegt, weil der Sog ihrer Sprache dich in die hohle Hand hebt, weil der Geist ihrer Geschichten spürt, wie es dir geht. Dürfen wir vorstellen: Anna Teufel.

Finn Holitzka (*95) und Samuel Kramer (*96) sind Poetry Slammer, Autoren und Moderatoren. Gemeinsam sind sie das Poesiekollektiv «Kassiber in Leuchtschrift».

Schimmer

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