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Kapitel 3

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Wir werden nicht abstürzen. Flugzeuge sind sicherer als Autos. Reuben versuchte es mit positiven Affirmationen, während Toby nach dem Frühstück einige Checks durchführte. Das Frühstück war genau so gewesen, wie Toby es beworben hatte, mit weichen Brötchen, würziger Bratensoße und starkem Kaffee. Dank der vielen Geschäftsessen um Mittag und Abend herum war Reuben normalerweise jemand, für den Frühstück optional war. Lieber konzentrierte er sich auf seinen Kaffee und darauf, Arbeit zu erledigen, bevor der Tag zu verrückt wurde. Allerdings musste er zugeben, dass er sich besser fühlte – etwas an der Kombination aus Essen und frischer Luft hatte ihm nach dem stressigen Flug neues Leben eingehaucht. Außerdem hatte es ihn geerdet, kurz mit dem Büro zu sprechen, sodass er sich an diesem seltsamen Ort weniger entwurzelt fühlte und vom nächsten Punkt auf ihrem Programm abgelenkt war.

Aber jetzt, da er wieder im Flugzeug saß, überwältigte ihn die Nervosität erneut. Er wendete eine Beruhigungsstrategie an, die er seit der Highschool nicht mehr gebraucht hatte, da er in jeder normalen Situation auch so mehr als genug Selbstsicherheit aufbringen konnte. Seltsam war auch, dass er zwar in letzter Zeit nicht oft an seine Mutter gedacht hatte, sich aber heute an ihren Rat erinnerte, dass eine positive Einstellung einen Unterschied machte.

»So, fertig«, sagte Toby über das Headset. »Diese nächste Teilstrecke führt uns über den südöstlichen Teil der Halbinsel direkt ins Herz des Kenai-Fjords-Nationalparks. Ich kreise ein paarmal darüber, damit du einige hoffentlich beeindruckende Luftansichten bekommst, vor allem von der Gegend um die Harris Bay, dann fliegen wir zur Spitze der Halbinsel und wieder zurück, um zu Mittag zu essen und das Gebiet um Halibut Cove zu erkunden.«

»Klingt gut.« Seit Toby angeboten hatte, ihn nach Anchorage zurückzubringen oder die Reise über Land fortzusetzen, versuchte Reuben, geselliger zu sein. Er war dankbar für das Angebot, brauchte jedoch keine Sonderbehandlung. Inzwischen war es eine Sache des Stolzes für ihn, diese Reise mit intakter Würde zu überstehen, und er weigerte sich, nach nur einem kurzen Flug schon klein beizugeben. Er würde die Reise überstehen und seine Freunde und Natalie und sogar seinen Begleiter eines Besseren belehren.

Diesmal war er auf das holprige Gefühl vorbereitet, als Toby über den See steuerte und an Geschwindigkeit gewann, bis sie in der Luft waren. Anders als die geschmeidigen kommerziellen Flüge ähnelte die Erfahrung in einem kleinen Flugzeug eher einer Achterbahn. Sein Frühstück blieb Gott sei Dank, wo es war, und er zwang sich, die Augen offen zu halten, allerdings eher aus dem Drang heraus, sich nicht in ein nervöses Wrack zu verwandeln, als aus dem Wunsch nach Sightseeing. Aber zu seiner Überraschung war die Aussicht mehr als genug, um ihn von unangenehmen Gedanken abzulenken. Unter ihnen wich die Seenregion hoch aufragenden Bergen und kurvenreichen Flüssen.

Über das Headset wies Toby ihn auf die Stadt Seward und andere interessante Landschaftsmerkmale hin, aber es war der Kontrast zwischen den Bergen und dem Wasser, der Reuben richtig fesselte. Er war schon einmal über die Rockies geflogen, aber das war in einer Höhe von sechstausend Metern oder so gewesen, und sein einziger direkter Kontakt mit Bergen waren die Catskills gewesen, aber die waren verglichen mit diesem zerklüfteten Terrain eher grüne Hügel.

»Geht's dir besser?«, fragte Toby freundlich und Reuben verspürte unwillkürlich Dankbarkeit, weil es ihm wirklich wichtig zu sein schien, ob Reuben sich elend fühlte oder nicht.

»Ja. Danke.« Und er konnte zugeben, dass er im Restaurant unter anderem auch auf sein Handy gesehen hatte, um nicht den gut aussehenden Reiseführer anzustarren – einen Trick, den er schon früher angewendet hatte, um nicht mehr von sich zu verraten, als er wollte. Denn Toby war so attraktiv mit seinen tiefgründigen, dunklen Augen, den gemeißelten Gesichtszügen und dem schlanken Körper und je mehr Zeit er mit ihm verbrachte, desto mehr fiel Reuben seinem Charme zum Opfer, ohne es zu wollen. Er musste sich daran erinnern, dass Erregung ebenso wenig willkommen war wie Luftkrankheit.

»Wir wenden uns jetzt Harris Bay zu. Du solltest gute Sicht auf das Gletscherfeld haben.«

Feld stellte sich als eine irreführende Bezeichnung heraus, da es sich eher um wogende Flüsse aus Schnee und Gletscher handelte. Die gesamte Region erinnerte Reuben an eine riesige Schüssel, einzig die Wände bestanden aus Granit, mit hängenden Gletschern gesäumt und unglaublich hoch. Es war wie etwas aus einem Film und zum ersten Mal verstand er, warum Craig unbedingt hatte hierherkommen wollen. Die Landschaft war anders als alles, was er je zuvor gesehen hatte, und er hatte sich selten so klein und unbedeutend gefühlt wie jetzt, als er mit dieser unermesslich weiten Landschaft konfrontiert war. Er war es eher gewohnt, sich wie das Zahnrad mitten in einer Maschine zu fühlen, um das sich alles andere drehte. Diese Empfindungen, geschrumpft und verglichen mit Äonen des Eises nur ein winziger Augenblick in der Zeit zu sein, waren mehr als ein wenig beunruhigend, aber gleichzeitig auch fesselnd.

Er lauschte zwar Tobys Anmerkungen, war aber doch erstaunt, als er merkte, dass sie über einer kleinen Bucht kreisten, in der bereits andere Flugzeuge angedockt waren. Nach einer weiteren kurzen Wanderung, diesmal zu einem Aussichtspunkt über die weitläufige Bucht, gab es zum Mittagessen eine Auswahl an verschiedenen Meeresfrüchten und sie plauderten locker über das, was sie gesehen hatten und was als Nächstes anstand.

»Willst du versuchen, Bären oder andere Wildtiere zu beobachten, wenn wir in Katmai landen? Ich kenne einen guten, sicheren Weg, der ziemlich gemütlich ist, aber hervorragende Chancen auf Tiersichtungen bietet«, meinte Toby ermutigend, ohne ihn jedoch zu drängen. »Die andere Option ist, dass du dich früh in der Hütte einquartierst, aber da es so lange hell bleibt, ziehen die meisten Leute die Wanderung und dann ein spätes Abendessen vor.«

»Die Wanderung klingt gut. Und du musst dich nicht wegen mir zurückhalten – nimm einen Weg, den du magst.« Er zwang sich zu einem optimistischen Tonfall, denn er wollte Toby nicht in dem Glauben lassen, dass er einfache Optionen brauchte wie ein Achtjähriger. Derselbe Teil von ihm, der es seinen Zweiflern zeigen wollte, wollte Toby beeindrucken, aber bei diesem Verlangen spielte auch Angeberei vor dem attraktiven Kerl eine Rolle und das hatte Reuben seit Jahren nicht mehr erlebt.

»Hey, es ist dein Urlaub.« Toby schenkte ihm ein träges Lächeln, bei dem sich Reuben innerlich Jahrzehnte jünger fühlte. »Aber klar, ich zeige dir einige meiner liebsten Aussichtspunkte. Es ist kein kurzer Flug, also haben wir mehr als genug Zeit, um die Gegend zu erkunden.«

Reuben gefiel das, vor allem, da die nächste Teilstrecke zum größten Teil über Wasser führte und weniger Landschaft zur Ablenkung bot. Allerdings kommentierte Toby alles freundlich, wenn auch knisternd, lenkte seine Aufmerksamkeit auf kleine Flecken im Wasser, die sich als Wale herausstellten, und erzählte von der Geschichte des Katmai-Nationalparks und des Reservats mit seinen Lavafeldern, der einzigartigen Landschaft und den Seen und Flüssen der Region. Als sie auf dem See landeten, hatte er Reuben fast von der Idee überzeugt, dass Fliegenfischen am nächsten Morgen nicht die schlechteste Beschäftigung wäre. Offenbar konnte man in der Hütte die Ausrüstung dafür ausleihen und Tobys Enthusiasmus war ansteckend.

»Jetzt wünschte ich wirklich, Craig und Leticia wären mitgekommen«, scherzte Reuben, als sie hielten und bevor Toby die Gelegenheit hatte, herauszuspringen. »Leticia mit einer Angel wäre ein interessanter Anblick.«

»Darauf wette ich.« Toby wartete, bis er die Klappen geöffnet hatte, bevor er wieder sprach. »Warte nur bis zum Abendessen – damit wirst du auch angeben wollen. Dieser Stopp gehört zu denen mit dem besten Essen der ganzen Reise, deshalb haben wir auch zwei Nächte hier. Ich lasse sie wissen, dass du Weintrinker bist, damit die Köchin ein paar gute Sorten vorbereitet, die zum Essen passen.«

»Na, das klingt wundervoll. Aber zuerst wandern wir?« Reuben war zwar nicht gerade eifrig, aber er musste zugeben, dass er immer tiefer in den Rhythmus der Reise sank und sich weniger unbehaglich fühlte als am Anfang.

»Ja. Sie bringen unser Gepäck mit dem Quad zu den Hütten hinauf und unsere Wanderung führt uns rechtzeitig zum Abendessen zur Haupthütte zurück. Es sollten nicht allzu viele Gäste dort sein, da es eine ziemlich exklusive Unterkunft ist.« Toby stellte ihre Taschen auf den Steg, als gerade eine junge Frau in einem der kompakten motorradähnlichen Fahrzeuge mit dicken Reifen heranfuhr, an das ein kleiner Anhänger gekoppelt war.

»Hey, Toby.« Sie schenkte ihm und auch Reuben ein breites Lächeln. »Wir haben deinen Kunden in Hütte Vier untergebracht, neben der Sauna, und du hast dieselbe wie immer. Kommt nicht zu spät zum Abendessen!«

»Werden wir nicht.« Toby schenkte ihr ein Grinsen, bei dem ihre Wangen rosa anliefen, bevor er sich zu Reuben wandte. »Deine Hütte hat Strom und Heizung und diese Sauna ist es auf jeden Fall wert, sie nach dem Essen auszuprobieren.«

»Normalerweise bin ich kein großer Fan von Schwitzen in der Freizeit.« Zu spät erkannte Reuben, wie das klang, und Tobys ausgelassenes Kichern verriet, dass er den versehentlichen Witz verstanden hatte.

»Na, das ist zu schade.« Tobys Ton hätte als kokett bezeichnet werden können, wenn sie in einer Bar gewesen wären, aber hier draußen schien er einfach ein weiterer Aspekt seines natürlichen Charmes zu sein. »Der Wanderweg ist in diese Richtung.«

Die Hütte lag in einer Art Tal, einer Landzunge, die in den See hineinragte, also führte die Wanderung über ziemlich ebenes Gelände, war jedoch alles andere als langweilig, denn es gab mehrere Aussichtspunkte sowohl auf das Wasser als auch auf die Waldgebiete. Sie sahen keine Bären, aber doch einige Elche in der Ferne. Als sie zum Abendessen die Hütte erreichten, war Reuben am Verhungern, was er seit der Highschool und seinen Tagen als Basketballspieler im College nicht mehr gewesen war.

Toby hatte beim Essen nicht zu viel versprochen – das Menü begann mit Spargel in Blätterteig und wurde dann nur noch besser. Toby freundete sich natürlich mit den anderen Gästen an und schien die Angellehrer zu kennen. Sie saßen alle an einem riesigen Tisch, der zu lockerem Plaudern und zum Verweilen beim Essen einlud.

Alles war angenehm, bis eine Frau in einer roten Schürze herauskam und sich neben Toby kniete. »Annie hat mir gesagt, dass einer deiner Gäste Geburtstag hat. Ist es dieser oder einer von denen, die abgesagt haben?«

»Kommt drauf an.« Toby zwinkerte. »Was hast du vorbereitet?« Zu Reuben sagte er: »Ich habe vergessen, nach dem Geburtstagskind zu fragen. Bist du es?«

Es wäre außergewöhnlich leicht gewesen zu lügen und Reuben würde sich seine Schwächen gerne eingestehen, aber Lügen gehörte nicht dazu. »Ja. Meiner ist übermorgen. Ihr müsst euch keine Umstände machen, egal, was Craig vereinbart hat.«

»Hey, hey. Nicht so schnell. Vielleicht gibt es Torte oder Kuchen.« Als Toby sich vorbeugte, glitzerten seine Augen. »Marta macht unglaubliche Kuchen.«

»Danke.« Die Köchin zupfte an ihrer Schürze. »Aber da die Beerensaison erst im Spätsommer und Frühherbst ist, gibt es heute keinen Kuchen. Stattdessen habe ich eine Bitterschokoladentorte gebacken und mit meinen selbst eingelegten Moltebeeren garniert. Wir müssen nicht singen, aber ich habe einen köstlichen Portwein zum Dessert, wenn Sie daran interessiert sind.«

Da er Toby nicht enttäuschen wollte, der sich aufrichtig auf die Leckerei zu freuen schien, nickte Reuben. »Das klingt gut. Nur ein kleines Stück für mich.«

»Beim Portwein passe ich, aber Schokoladentorte klingt wunderbar.« Toby grinste und wartete, bis die Köchin in die Küche zurückgekehrt war, bevor er weitersprach. »Irgendwelche besonderen Wünsche für deinen Geburtstag, die deine Freunde vielleicht nicht eingeplant haben? Und sag nicht schnelles Internet.«

»Dazu würde ich nicht Nein sagen.« Wenn er mit Toby scherzte, fühlte sich seine Brust wie ein Heißluftballon an – warm und leicht zugleich und mehr als nur ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. »Aber im Ernst, mach dir keine Umstände.«

»Das sind keine Umstände. Und wenn dein Freund auf den nächsten Stopps noch mehr Kuchen für dich arrangiert hat, bin ich ganz dafür, diese Spende zu teilen.«

»Eine Naschkatze, hm?«

»Und wie.« Ein weiteres schnelles Lächeln, das ihn am ganzen Körper wärmte. Und verdammt, Reuben lächelte unwillkürlich zurück. Er war vielleicht viel zu alt für hoffnungslose Schwärmereien, aber sein Körper schien entschlossen, laut zu widersprechen. Diese Schreie seiner eingerosteten Libido zu ignorieren, könnte ebenso herausfordernd sein wie das Terrain.

***

Die frühe Forellensaison im Juni machte Toby immer glücklich, fast so glücklich wie die Königslachssaison, und er war froh, dass er Reuben zu frühmorgendlichem Angeln überredet hatte. Es gab nur weniges im Leben, das besser war als Martas Zimtschnecken und freche junge Forellen, die sich leicht von den Anfängern einfangen ließen. Es war eine weitere Gelegenheit für ihn, anzugeben, denn er war stolz auf seine Fähigkeit, Neulinge einzuweisen. Aber warum er ausgerechnet vor Reuben angeben wollte, war eine Frage, die wohl besser unbeantwortet blieb. Und es half auch nicht gerade, dass er Reuben anfassen musste, um ihm die beste Haltung zum Angeln zu zeigen, und dabei dicht genug neben ihm stand, um sein Kräutershampoo zu riechen – zweifellos irgendetwas Teures mit einer sauberen, frischen Note.

Es war eine großartige Jahreszeit zum Angeln mit Trockenfliegen und es dauerte nicht lange, bis Reuben seinen ersten Erfolg feierte.

»Na, sieh mal einer an! Ich schätze, ich würde hier draußen doch nicht verhungern.« Reuben schenkte ihm ein schiefes Grinsen, das ihn weit zugänglicher aussehen ließ.

»Heute lassen wir sie wieder frei, da unser Abendessen schon fertig sein wird, aber ja, da hast du einen guten erwischt.« Toby half ihm, den Fisch vom Haken zu lassen, damit er glücklich davonschwimmen und zu den anderen Jungforellen zurückkehren konnte, die den Fluss bevölkerten.

»Ich muss gestehen, das hier gefällt mir mehr als Fliegen. Was mich ehrlich gesagt ziemlich überrascht.«

»Pass bloß auf. Ehe du dichs versiehst, könntest du tatsächlich Spaß haben.« Toby mochte es viel mehr, als er sollte, Reuben aufzuziehen.

»Man kann nie wissen, vielleicht will ich das ja.« Reubens Ton war ebenso neckend wie Tobys, was ihn ein wenig aufhorchen ließ. Flirteten sie gerade? Toby wusste fast immer, wann jemand Interesse hatte, aber etwas an Reuben war schwer zu lesen. Vielleicht war es seine glatte Kultiviertheit, wenn er tatsächlich in seinem Element war. Wie gestern Abend beim Essen, als er die Namen der Weine mühelos richtig ausgesprochen und mit einer Sicherheit, aus der jahrelange Erfahrung sprach, über ihre verschiedenen Eigenschaften geredet hatte. Und ein entspannterer Reuben, wie er es an diesem Morgen gewesen war, war viel attraktiver als einer, der vom Fliegen mürrisch und grummelig war.

Reuben atmete tief durch und hob den Kopf, um die Sonne scheinbar auf einer tieferen Zellebene zu absorbieren, und sofort wollte Toby derjenige sein, der diesen Ausdruck, der ihn so sehr entspannte, auf sein Gesicht zauberte.

»Mann, ich wünschte, Amelia könnte das sehen.« Erneut lächelte Reuben gelöst. Und damit wurde Tobys wachsende Anziehung von Eiswasser überschüttet. Reuben trug keinen Ring, aber das musste nicht immer etwas bedeuten.

»Amelia? Deine Frau?«

»Nein. Meine Tochter. Ihre Mutter und ich haben eine… komplizierte Beziehung. Wir haben uns vor fünf Jahren scheiden lassen, aber wir arbeiten noch zusammen.«

»Ich bin sicher, du bist ein besserer Dad, als du glaubst.« Toby hielt das Gespräch am Laufen, um seine Erleichterung darüber zu überspielen, dass Amelia nicht seine Partnerin war. »Es gibt genug Kinder, die Scheidungen problemlos überstehen.«

»Ich weiß nie, was ich zu ihr sagen soll.« Reuben studierte das Wasser, während er seine Angel ruhelos auf eine Art bewegte, die ihm keinen zweiten Fisch einbringen würde. »Sie ist jetzt vierzehn und es ist schlimmer geworden, nicht besser. Im Herbst geht sie auf eine Highschool mit Internat und… Ach, du musst das alles nicht hören.«

»Klar doch.« Toby war es gewöhnt, dass Kunden bei ihm ihr Herz ausschütteten. Etwas daran, dass sie weit von ihrem Alltag entfernt und auf engem Raum waren, ließ sie vergessen, dass Toby kein langjähriger Freund oder Therapeut war. Im Laufe der Jahre hatte er mehr als ein paar Geheimnisse gehört und wenn er ehrlich war, hatte er nichts dagegen, dass die Leute ihm Dinge anvertrauten. Das machte es interessant und er hörte sich gerne die Geschichten anderer Menschen an. Normalerweise erzählte er im Gegenzug nichts von sich, aber etwas an Reubens ernsthaftem Kummer lockerte seine eigenen Worte. »Ich habe jüngere Schwestern. Teenager sind schwierig. Mach dich deswegen nicht fertig.«

»Ja. Ich weiß. Alle sagen, dass Teenager schwierig sind, und das verstehe ich. Aber sie ist mehr oder weniger die einzige Familie, die ich noch habe, und es stört mich, dass wir uns nicht mehr nahestehen.«

»Ah. Du hast nicht wieder geheiratet?« Ja, das musste Toby streng genommen nicht wissen, aber er konnte seine Neugier einfach nicht unterdrücken.

»Über den Winter bin ich mit einem netten Kerl ausgegangen, der Berater bei einem Energieunternehmen ist, aber das hat nicht sehr lange gehalten.«

»Oh, du bist bi?« Wenn er so an die Blicke dachte, die sie gelegentlich getauscht hatten, war Toby gar nicht überrascht. Und er sollte sich wirklich, wirklich nicht darüber freuen, als würde ihm das Wissen persönlich etwas nützen. Trotz seiner Vorliebe für zwanglose Begegnungen war er niemand, der sozusagen auf dem Land der Firma jagte – er flirtete vielleicht, aber letztendlich gab er sich doch Mühe, professionell zu bleiben. Allerdings musste er an sich halten, um ein Grinsen zu unterdrücken, denn verdammt, Reuben forderte all diese Prinzipien heraus.

»Als ich jünger war, dachte ich, ich wäre vielleicht schwul, habe mich aber nie geoutet und bin gelegentlich mit Frauen ausgegangen. Dann habe ich Natalie kennengelernt. Anfangs waren wir richtig gute Freunde und hatten danach ein paar glückliche gemeinsame Jahre. Als wir uns getrennt hatten, habe ich zum ersten Mal begonnen, mich offen mit Männern zu treffen. Und ich plappere schon wieder vor mich hin. Tut mir leid. Wie auch immer, ich schätze, bisexuell ist das beste Etikett für mich, obwohl ich mich die meiste Zeit von Männern angezogen fühle.«

»Scheiß auf Etiketten, Mann. Egal, ob gut oder nicht. Die Leute sind nicht dazu bestimmt, in Kategorien gedrängt zu werden. Ich passe bestimmt in keine. Aber ich bin das Gegenteil von dir.« Ups. Toby hatte sich wieder vergessen und mehr geteilt als geplant.

»Ich war vor allem mit Frauen zusammen, hatte aber ab und zu Geschichten mit Kerlen und auch mit nichtbinären Personen.« Da er bereits so viel gesagt hatte, konnte er ebenso gut weitermachen. »Wenn Leute fragen, sage ich normalerweise bi, aber im Ernst, diese Labels sind beschissen.«

Er fügte nicht hinzu, dass die Frage nicht besonders oft aufkam. Seine Familie und engsten Freunde wussten davon. Wenn er an jemandem interessiert war, ging er normalerweise auch auf die Person zu, aber da die meisten seiner Begegnungen so locker waren, musste er nicht unbedingt tiefer über seine sexuelle Identität nachdenken.

»Ist es schwierig, hier draußen offen damit zu sein?«

»Ich weiß nicht.« Jetzt war Toby derjenige, der wegsah. Verdammt. Das war der Grund, warum er sein Privatleben normalerweise für sich behielt. Derart tiefgehende Selbstbetrachtung war etwas, das er nicht besonders oft tat. Und er war nicht ganz sicher, ob es ihm gefiel, wie leicht es war, sich Reuben zu öffnen und ihm mitzuteilen. »Ich kann nicht für andere sprechen. Aber ich bin einfach kein guter Lügner, war es noch nie. Wenn Leute ein Problem damit haben, dass ich mich von allen Geschlechtern angezogen fühle, dann können sie sich ins Knie ficken.«

»Amen.«

»Ich meine, klar, ich habe über die Jahre hinweg einige ignorante Kommentare zu hören bekommen und meine Familie hat eher gemischt reagiert, was die Akzeptanz betrifft, aber ich habe gesehen, wie es an jemandem nagt, sich nicht frei ausleben zu können. Ich habe die Entscheidung getroffen, mich nicht dafür zu entschuldigen, wer ich bin oder wen ich ficke, und bisher hat das für mich funktioniert.«

»Das respektiere ich.« Reuben nickte. »Ich wünschte, ich wäre in deinem Alter so mutig gewesen…«

»Hör auf, so zu tun, als wärst du uralt. Schon klar, du bist älter als ich, aber du musst doch wissen, dass du diese Silberbär-Ausstrahlung hast.« Das eisige Wasser musste in seine Wathose gesickert sein und seine Gehirnzellen eingefroren haben, sonst hätte er Silberbär niemals laut ausgesprochen.

»Ich habe was?« Reuben wirbelte herum und schlug damit Wellen um sie. Fuck. Toby würde das wirklich erklären müssen.

»Du weißt schon. Viele Männer in deinem Alter werden als Silberfüchse bezeichnet. Aber du bist irgendwie größer und breiter als ein Fuchs…« Konnte er sich eine noch tiefere Grube graben? »Aber… äh… trotzdem heiß. Verstehst du?«

»Aha.« In Reubens Stimme lag ein Ernst, der Toby innerlich beben ließ. »Wenn ich Zeit für Dating-Apps hätte – was ich nicht habe –, sollte ich das in mein Profil schreiben. Silberbär. Wie ein Fuchs, aber größer und heißer. Glaubst du, dafür würde ich Klicks bekommen?«

»Weiß nicht. Vielleicht, wenn du eine Aufnahme davon hochlädst, wie du Weinnamen aussprichst.« Tobys Zunge schien ein Eigenleben entwickelt zu haben.

»Das ist also heiß? Syrah, Malbec, Aligote, Vranec, Aidani…« Reuben klang nicht übermäßig flirtend, aber auch nicht komplett distanziert. Sie hatten definitiv neues Territorium betreten, abseits von dem abstrakteren Gespräch über sexuelle Identität und hin zu etwas, das persönlicher war. Und gefährlicher, aber verdammt, Toby konnte nicht aufhören. Dieses viel zu persönliche Gespräch fühlte sich viel besser an, als es sollte.

»Angeber. Aber im Ernst? Du hast noch nie eine Dating-App benutzt?«

»Ich habe Besseres zu tun, als zu entscheiden, ob ich nach rechts wischen will oder nicht. Außerdem bin ich eher für serielle Monogamie. Ich mag Beziehungen. Ich bin zwar lausig darin, aber One-Night-Stands haben mich nie besonders gereizt.«

»Wirklich? Auch da bin ich das genaue Gegenteil. Beziehungen sind nichts für mich.« Besser, wenn er das gleich klarstellte. Wenn er schon ehrlich aus seinem Leben erzählte, dann konnte er genauso gut auch diesen Teil zugeben. Und es war ja nicht so, als hätte Reuben ihn gebeten, etwas anzufangen, oder als wollte er auch nur etwas anfangen, und Toby sollte es absolut besser wissen als das. Trotzdem fand er, dass er es ihnen beiden schuldig war, klar und deutlich darzulegen, was für ein Mensch er nicht war.

»Das ist zu schade. Wetten, du änderst irgendwann deine Meinung.« Reubens Lächeln war warm und sein Ton freundlich, fast flirtend, aber etwas daran reizte Toby.

»Wetten, ich tue das nicht.« Und weil es immer eine schlechte Idee war, einen Kunden anzufahren, fügte er dann etwas fröhlicher hinzu: »Bereit für einen Snack? Es gibt noch eine Küche, die ich nachher mit dir ausprobieren will, die dir bestimmt gefallen wird.«

Sie sollten besser auf trockenen Boden und zu sicheren Gesprächsthemen zurückkehren, bevor Toby das Verlangen bekam, sich noch mehr mitzuteilen. Er hatte schon viele Kunden gehabt, die er in unterschiedlicher Hinsicht gemocht hatte, daher war er nicht sicher, was Reuben an sich hatte, das ihm gründlich unter die Haut ging. Aber er tat es eindeutig und das konnte wohl kaum etwas Gutes bedeuten.

Frozen Hearts: Arctic Wild

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