Читать книгу Nichts als die Wahrheit - Anne Chaplet - Страница 10
4
ОглавлениеFrankfurt am Main
»Ich seh’ da keinen weiteren Ermittlungsbedarf.« Karen Stark schwenkte die Aktentasche vor und zurück und marschierte noch ein bißchen schneller. Ein bißchen zu schnell für den Kollegen Wenzel, der neben ihr herging und, wie sie nicht ohne Befriedigung feststellte, langsam in Atemnot geriet.
»Ich bitte Sie, sich das noch einmal zu überlegen, Frau Kollegin«, sagte Staatsanwalt Manfred Wenzel mit sanfter Stimme. Karen drehte sich überrascht zu ihm hin. So kannte sie ihn gar nicht. So – friedfertig. So – demütig? Sie runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich an keinen einzigen Fall, über den sie sich im Laufe der letzten drei Jahre nicht bis aufs Messer gestritten hätten. Und an kein einziges Mal, an dem die verkörperte Arroganz neben ihr um etwas gebeten hätte.
»Ein Mann springt vom Glockenturm einer Kirche, schlägt unten auf und ist tot. Alles deutet auf Selbstmord hin – wo ist da das Problem?« Ihre Schritte hallten durch den engen Flur des Gerichtsgebäudes. Karen schaute auf die Armbanduhr. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie es noch zum Maison Déco, dem Laden mit den französischen Stoffen. Ein Rosenmuster hatte es ihr angetan, ein luftiges, blumiges Etwas, sündhaft teuer, aber genau das Richtige für ihre Schlafzimmerfenster. Oder vielleicht – ein bißchen zu kitschig? Ein bißchen zu romantisch für eine – na ja, gereifte Persönlichkeit? Karen straffte die Schultern und reckte das Kinn.
»Ich kann an einen Freitod einfach nicht glauben.« Wenzel hatte Beharrlichkeit in der Stimme. Sie guckte ihn wieder von der Seite an. Und den entsprechenden Ausdruck im Gesicht. Das konnte dauern. »Es gibt keinen Abschiedsbrief und auch keine anderen nachvollziehbaren Gründe. Der Mann hatte keine finanziellen Sorgen, wies keine Anzeichen von Depression auf...«
»Und der Artikel im ›Journal‹?« Demzufolge war Bunge einer dieser widerlichen Kerle gewesen, die es gern sahen, wenn Kinder sich nackt vor der Kamera prostituierten. Wenn ich auf so was stünde, würde ich ernsthaft über Selbstmord nachdenken, dachte Karen.
»Glauben Sie etwa, was in der Zeitung steht, Frau Kollegin?«
Immer seltener, zugegeben. Aber... »Ich bin mir nicht sicher...«, begann sie zögernd.
»Aber ich!« Die Heftigkeit, mit der er sie unterbrach, erstaunte sie noch mehr.
»Intuition, Herr Kollege?« Sie legte leise Ironie in die Stimme. Normalerweise war er es, der sich über ihre ›Intuition‹ mokierte, wenn sie sich von etwas überzeugt gab, das sie nicht wissen konnte.
»Erfahrung.« Manfred Wenzel spuckte das Wort förmlich aus.
»Alles erfunden und erlogen also?« Sie ging langsamer, damit Wenzel rechtzeitig bei der Tür sein konnte, um sie ihr aufzuhalten.
»Oder von irgend jemandem gezielt gestreut.« Wenzel hatte sich wieder gefaßt, neigte den Kopf mit dem blassen Gesicht unter den kurzgeschnittenen dunklen Locken und öffnete mit Schwung die Tür zum nächsten Gang, in dem sich ihr Büro befand. Karen rauschte hindurch und nickte dankend zurück. Dann ging sie langsamer. Vielleicht sollte sie auf ihn eingehen, statt ihm dauernd zu widersprechen. Dann könnte sie es wenigstens noch zum Laden mit der traumhaften Bettwäsche schaffen, auf die sie vor zwei Wochen ein Auge geworfen hatte.
»Also gut«, sagte sie, öffnete die Tür zu ihrem Büro, stellte die Aktentasche auf einen der vielen Kataloge, die ihren Schreibtisch bedeckten und wedelte mit der Hand in Richtung Besuchersessel. »Was war es, wenn es kein Selbstmord war? Hat die Autopsie Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung ergeben?«
Sie hob den Prospekt mit den Badewannen im nostalgischen Stil von ihrem Sessel und setzte sich ebenfalls. Sie konnte sich nicht entscheiden zwischen zwei Modellen. Das eine hatte Löwenfüße, das andere.
»... nur eine einzige Anomalie erkennbar.« Wenzel schaute sie erwartungsvoll an. Sie hatte nicht zugehört.
»Also war er krank?« Jetzt sah er sie an, als ob sie nicht ganz bei sich wäre. War sie ja auch nicht. Sie war in Gedanken bei der Renovierung ihrer Wohnung, ein Spiel, das sie seit Wochen völlig ausfüllte. Am Montag kam hoffentlich das neue Bett. Am Dienstag...
»Wie ich bereits sagte, Frau Kollegin« – Wenzel hatte die schlanken Hände mit den langen Fingern zu einem Zelt zusammengelegt, über das hinweg er sie strafend ansah. Sie nickte ihm um Entschuldigung bittend zu. »Der Mann war für sein Alter völlig gesund.«
»Aber die Anomalie.« Karen guckte wieder auf die Armbanduhr. »Sie haben von einer Anomalie gesprochen.«
»Na ja...« Ihr Gegenüber machte eine Pause, die ihr reichlich theatralisch vorkam. Sie pochte mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte.
»Und?« fragte sie. Nun komm schon, Wenzel...
»Das Herz.« Wenzel guckte, als ob er ihr nicht zutraute, auch eines zu haben. »Das Herz wies Muskelrisse und unzählige Blutungen auf.«
»Und?«
»Solche Verletzungen lassen darauf schließen, daß der Mann vor seinem Tod unter erheblichem Streß stand. Es ist aus der Literatur allgemein bekannt, daß extreme Angstzustände das Gehirn dazu veranlassen können, die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin über die Nervenbahnen direkt ins Innere des Herzens abzugeben. Dadurch öffnen sich schlagartig die Ionenkanäle auf den Muskelzellen des Herzens, und die Zellen werden von Kalziumionen überschwemmt.«
Wenzel hockte wie ein melancholischer Bussard auf der Vorderkante seines Sessels und hatte die rechte Hand erhoben, als ob er seine Thesen an allen fünf Fingern abzählen wollte. Karen seufzte innerlich auf. Der Kollege bildete sich etwas darauf ein, aus den Autopsieberichten mehr herauslesen zu können als andere – mehr vor allem als die Gerichtsmedizinerin, mit der ihn ein ähnlich herzliches Verhältnis verband wie mit ihr.
»Man nimmt nun an, daß sich die Herzmuskelzellen unter diesem Ansturm so verkrampfen können, daß es das Herz zerreißt. Bei Opfern von Raubüberfällen, von Geiselnahmen oder Vergewaltigungen waren viele Fasern der Herzmuskeln regelrecht durchgerissen.«
Karen hob, aufgabebereit, beide Hände. »Und was lehrt uns das?«
Wenzel zuckte bedeutungsvoll die Schultern.
Karen sah ihn mit gerunzelten Augenbrauen an. »Hat ein Selbstmörder keinen Streß, bevor er springt?«
»Schon, aber...« Wenzel wiegte zweifelnd den Kopf.
Karen fächelte sich mit dem Prospekt des prominentesten Kücheneinrichters von Frankfurt Luft zu. Dann blickte sie wieder auf die Uhr und legte das bunte Blatt resigniert beiseite. Für heute konnte sie den Gedanken an einen Beutezug durch Frankfurts Einrichtungshäuser streichen. Warum alle Welt vom antiquierten deutschen Ladenschlußgesetz schwärmte, war ihr ein Rätsel. Verbrecher und Staatsanwälte hielten sich schließlich auch nicht an einen verordneten Feierabend.
»Das reicht mir alles nicht«, sagte sie. »Was haben Sie noch?« Wenzel hob die schmalen Schultern unter der schwarzen Robe, ließ sie wieder fallen und schwieg.
»Kommen Sie, Herr Kollege. Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
Wenzel guckte aus dem Fenster und sagte schließlich: »Bunge war ein wichtiger Mann.«
»War mir bislang noch nicht aufgefallen.«
»Bei Ihnen zählen wohl auch nur die, deren Geschwätz man jeden Tag in der ›Tagesschau‹ serviert bekommt.« Er verzog den Mund zu einem schmalen Strich. »Echte Macht ist unauffällig.«
»Zugegeben. Und weiter.« Karen kontrollierte den roten Lack auf ihren Fingernägeln.
»Alexander Bunge war Vorsitzender der Baukommission des Ältestenrates im Bundestag und für die Bauvorhaben des Bundes in Berlin zuständig gewesen. Das entsprechende Bauvolumen, über das diese Kommission zu entscheiden hat, ist gigantisch.« Wenzel klopfte bei jedem Einzelposten mit der Hand auf die Armlehne: »Umbau des Reichstags. Neubau der Abgeordnetenbüros. Neubau von Abgeordnetenwohnungen. Umbau und Neubau...«
»Ich versteh’ schon. Und deshalb...?«
Wenzel schüttelte den Kopf. »Das ist erst der Anfang. Hinzu kommen Umbau und Neubau sämtlicher Regierungsgebäude, das neue Bundeskanzleramt, die Landesvertretungen...«
»Also Geld. Bestechung. Korruption. Das übliche.«
»Vielleicht. Bunge hat sich vor allem in der Auseinandersetzung mit den Berliner Behörden profiliert, die das eine oder andere Filetstück im Regierungsviertel lieber einem internationalen Investor mit Gold an den Füßen zugeschustert hätten. Berlin geht in die Knie, wenn es ums Geld geht. Gucken Sie sich nur den Potsdamer Platz an, diese städtebauliche Todsünde.« Wenzel machte ein Gesicht wie ein geborener Städtebaukritiker.
Karen grinste unwillkürlich. Sie hatte sich den Potsdamer Platz zwar noch nicht angeguckt, aber sie war zumindestens bereit einzuräumen, daß man nicht überall Fachwerkhäuser hinstellen konnte.
»Bunge war ihnen im Weg. Sein Tod...«
»Mord?« Karen ließ Wenzel ihre Skepsis spüren. »Die Berliner?«
»Nein.« Wenzel seufzte auf, als ob er es mit einer unbelehrbaren Schülerin zu tun hätte. »Besser gesagt: wahrscheinlich nein. Aber ein unbestechlicher Mann ist schon manchem Großinvestor ein Dorn im Auge gewesen. Gut möglich, daß man dort glaubte, mit einem anderen an seiner Stelle könne man leichter ins Geschäft kommen.«
»Also hat man ihn unter Druck gesetzt?«
Wenzel hob die Schultern.
»Womit? Und wie?«
Er ließ sie wieder fallen. »Rufschädigende Maßnahmen wie das Gerücht, er sei ein potentieller Kinderschänder.« Karen schüttelte den Kopf. Er hob die Hände und sagte: »Hat es alles schon gegeben.«
»Und wie sicher sind Sie sich Ihrer Theorie?«
»Gar nicht.« Wenzel stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. »Es ist nur eine Ahnung.« Karen sah ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen hinterher. Die Worte »Ahnung« oder »Zweifel« hatte der Kollege gewöhnlich nicht in seinem Repertoire.
»Glauben Sie mir, Karen«, sagte er schließlich leise. Das machte sie sekundenlang sprachlos.
Sie hatte Manfred Wenzel noch nie in einem Zustand erlebt, der ziemlich präzise so aussah wie das, was er verachtungsvoll »persönliche Betroffenheit« zu nennen pflegte. Wenzel bildete sich normalerweise viel darauf ein, bei einem Fall keine Gefühle zu kennen. Das war der Kern des ewigen Streits zwischen ihnen beiden. Ihr gingen, zugegeben, einige Fälle besonders nah. Gewalt gegen Frauen. Vergewaltigungen, Mißhandlungen in der Ehe. Marginalien, wie Wenzel einmal behauptet hatte. »Statistisch, liebe Frau Kollegin«, hatte er erst kürzlich wieder doziert, während sie kochte vor Wut, »statistisch sind die meisten Opfer junge Männer unter 25. Frauen als Opfer sind ein Randphänomen.«
Im Prinzip hatte er recht. Statistisch. Andererseits: Durften Staatsanwälte keine Gefühle haben? Karen sah zu ihm hinüber. Wenn sie nicht alles täuschte, war Manfred Wenzel rot geworden bis unter den Haaransatz. War er vielleicht tatsächlich – persönlich betroffen?
»Haben Sie ihn gekannt?« fragte sie nach einer Weile, diesmal sanfter.
Er guckte noch immer aus dem Fenster. Nur die Schultern strafften sich. »Ja«, sagte er.
»Gut?«
»Vorübergehend – sehr gut. So gut, daß ich weiß daß Alexander Bunge sich nicht für Pornographie mit Kindern interessierte.« Wenzel seufzte und sagte schließlich: »Verstehen Sie?«
»Sie fühlen sich befangen.« Karen betrachtete den schmalen, fast überschlanken Mann mit der großen dunklen Hornbrille, die ihn wie einen Intellektuellen aus den 20er Jahren aussehen ließ. Manfred Wenzel und Männerfreundschaft? Das hätte sie ihm gar nicht zugetraut.
»Ist in Ordnung«, sagte sie. »Ich laß mir die Akten kommen.«
Sie verkniff sich die Bemerkung, daß normalerweise er derjenige war, der ihre Urteilsfähigkeit anzweifelte, weil sie Gefühle, Ahnungen und Zweifel zuließ. Schön, dachte sie, daß auch die Wahrnehmung von Staatsanwalt Dr. Manfred Wenzel keineswegs immer von jener unnachgiebigen Objektivität beseelt ist, die er normalerweise predigt.
Nur der Fall selbst ließ sie kalt. Was Wenzel beschrieb, stand völlig im Einklang mit der auch von der Polizei vertretenen These, daß Alexander Bunge aus freien Stücken vom Kirchturm gesprungen war. An Verschwörungen und gezielte Falschmeldungen glaubte sie nicht. Politiker waren schließlich dafür bekannt, daß sie auch die schlimmsten Anschuldigungen, ja selbst die unschöne Wahrheit bis zum letzten auszusitzen in der Lage waren. So jemand sprang nicht vom Kirchturm, weil fremde dunkle Mächte ihn dazu trieben. So jemand trug die dunklen Mächte in sich selbst.