Читать книгу Nichts als die Wahrheit - Anne Chaplet - Страница 12
6
Оглавление»Woher soll ich das denn wissen?« Thomas Schiffer klang beleidigt.
»Aber du mußt die Information doch verifiziert haben!« Hans Becker versuchte, alle Geduld der Welt in seine Stimme zu legen.
»Ich sagte dir doch: Auf meinem Schreibtisch lagen eine dpa-Meldung und eine Notiz vom Alten.« Sonnemann machte so was gern. Wann immer ihm irgend etwas auffiel, krakelte er ein »Kurze Notiz für Seite 2!« oder »Warum haben wir dazu nichts?« auf einen Zettel und ließ beides von der Novak auf den entsprechenden Schreibtisch legen. An diesen Fall aber erinnerte der Redaktionsleiter sich nicht – das hatte Becker nachgeprüft.
»Ich bin sämtliche dpa-Meldungen am Bildschirm durchgegangen, bis zwei Wochen vor dem Erscheinen deiner Geschichte. Es gibt ein Interview mit Bunge über den Stand der Bauarbeiten in den ehemaligen Ministergärten und drei Meldungen über einen Kinderpornoring, der aufgeflogen ist. Aber keine Meldung darüber, daß Bunge...«
»Ich sagte doch: Auf meinem Schreibtisch lag die Meldung und ein Befehl vom Alten, was draus zu machen. Und das hab’ ich auch getan.«
In der Tat: Schiffer hatte aus dieser Meldung einen Tatsachenbericht gemacht, dessen zwanzig Zeilen geeignet waren, Alexander Bunges Karriere auf immer zu zerstören. »Kinderpornos im Parlament« hatte die Überschrift gelautet, und der Ton des Artikels versprach Enthüllungsjournalismus in der besten Tradition des Hauses. Wie sich zeigte, hatte das »Journal« die Meldung exklusiv. Erst am Tag darauf zogen fast alle Zeitungen nach. Ein großer Erfolg fürs »Journal«, dachte Becker – und eine gigantische Niederlage für den Journalismus. Kaum einer der Kollegen schien recherchiert zu haben, auf welchen Quellen der Artikel im »Journal« beruhte.
Er seufzte tief auf, klopfte Schiffer kurz auf die Schulter und verließ dessen Büro mit dem Panoramablick auf den Gendarmenmarkt. Daß die Kollegen alle voneinander abschrieben, ohne Überprüfung, war schon schlimm genug. Aber Schiffers Haltung zu den Dingen ließ ihn innerlich beben vor Empörung. Als ob ausgerechnet bei einer Nachrichtenagentur Geistesgenies und Unfehlbarkeitsapostel arbeiteten, hatte er einfach übernommen, was dort behauptet wurde – ohne einen Rückruf bei der Kripo, ohne bei Bunge nachzuhaken, ohne auch nur irgend etwas gegenzuchecken. Dabei gab es keinen Zweifel: Schiffer war einer Fälschung aufgesessen.
Becker öffnete die Tür zu seinem Büro, das unwesentlich kleiner war als das des Kollegen. Aus seinem Fenster heraus sah man auf die taubenkotbekleckerten Wände eines Lichtschachts. Aber nicht deshalb sehnte er sich oft nach der alten Gemütlichkeit zurück, als die Berliner Redaktion des »Journal« noch nicht das Haupstadtbüro war. Als sie alle noch in einem schäbigen Flachbau hausten, mit Büros von Kaninchenstallgröße, an den Fenstern senfbraune Gardinen, in denen der jahrzehntealte Rauch von Gauloises und Schwarzer Krauser hing.
Hans grinste in sich hinein. Der Empfang, den die lieben Kollegen und vor allem das Sekretariat ihm vor fünfzehn Jahren bereitet hatten, als er, ein blutiger Anfänger, seinen Job antrat, war rauh und wenig herzlich gewesen. Auf seinem Schreibtisch hatte er eine betagte Kugelkopfmaschine vorgefunden, die einzige des Büros natürlich, die nicht funktionierte, und in der Schreibtischlampe mit dem roten Blechschirm fehlte die Birne. Es hatte Wochen gedauert, bis er aufgenommen war in die Männerrunde. Und mehrere Blumensträuße und Kuchenspenden, bis er endlich auch vom Sekretariat mit den kleinen Privilegien bedacht wurde, die für die anderen selbstverständlich waren – wie den etwas besseren Mietwagen und den schöneren Hotels auf Dienstreisen.
Damals war das Berliner Büro noch nicht wichtig gewesen, weshalb seine Besatzung sich ersatzweise selber wichtig nahm. Fast überkam ihn ein Gefühl der Rührung, als er an den Nimbus dachte, den sie damals kultiviert hatten: einer verschworenen Gemeinschaft von Kriegsberichterstattern der Frontstadt anzugehören. Schon deshalb hatte es niemandem etwas ausgemacht, daß die Sitzgarnitur im Zimmer Walter Loewes, in dem sie die morgendlichen Konferenzen abhielten, durchgesessen war und der Gummibaum vor dem Fenster vor sich hin siechte – Frontstadtfeeling eben.
Nein, die kühle Eleganz der neuen Büroräume war kein Ersatz für das alte Gefühl. Becker schaltete seinen Computer ein. Damals – so lange war das noch gar nicht her, aber es klang heute wie aus einer anderen Welt – schrieben fast alle ihre Texte mit Adlersuchsystem auf der Schreibmaschine oder mit der Hand und ließen sie von den Sekretärinnen ins Reine tippen. Damals arbeitete niemand am Computer. Damals kamen die Agenturmeldungen noch aus dem Fernschreiber, Ticker genannt – er erinnerte sich noch gut an die meterlangen, dünnen, rosafarbenen Papierfahnen. Er klickte sich in den Dienst der Deutschen Presse-Agentur ein. Damals wäre es fast unmöglich gewesen, eine dpa-Meldung zu fälschen. Heute war das kein Problem. Becker machte sich an die Arbeit.
Er suchte sich eine Meldung aus dem Inhaltsverzeichnis heraus und holte sich den Text auf den Bildschirm. Aus der Titelzeile »Der ›Spiegel‹ liegt wieder vorn« machte er »Augstein-Erben kündigen Redaktionsmannschaft«. Und dann schrieb er auf, was er immer schon mal sagen wollte über das Nachrichtenmagazin aus Hamburg, bei dem die Gehälter so hoch waren, daß die meisten der teuer eingekauften Journalisten mit der Zeit vergaßen, daß sie auch nur mit Wasser kochten. Dann ließ er die bearbeitete dpa-Meldung ausdrucken.
Sonnemanns Krakel nachzumachen war kinderleicht. Er hatte heute früh der Novak einen Zettel hingelegt, auf dem der Redaktionsleiter sie aufforderte, Becker tausend Mark aus der Spesenkasse zu geben. Sie hatte mit gerunzelter Stirn erst auf das Papier, dann auf Becker geguckt, aufgeseufzt und dann das unterste Schubfach des Schreibtischs aufgeschlossen, in dem die Kasse stand. Erst da hatte Becker sie über sein Experiment aufgeklärt – er überprüfe die Fälschungssicherheit der redaktionellen Kommunikation, hatte er als Erklärung nachgeschoben.
»Die moderne Technik«, hatte sie in Verkennung der Zusammenhänge gesagt und den Kopf geschüttelt. »Das ist noch unser aller Untergang.«
Er wußte, worauf sie anspielte. Bei den Kollegen vom »Anzeiger« hatte vor einem Monat ein noch immer unbekannter Täter eine sich als Druckfehler tarnende sinnentstellende Frechheit ins Blatt redigiert – kurz vor dem Andruck. So etwas war kinderleicht. Zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten Kollegen bereits Feierabend gemacht. Man konnte sich völlig ungestört an irgendeinen der zahllosen Monitore setzen, sich mit der Praktikantenkennung anonym einloggen und in jedem der Artikel nach Lust und Laune herumpfuschen.
Derjenige, der vor vier Wochen den dpa-Bericht über Bunge und die Notiz des Redaktionsleiters gefälscht hatte, war es konventioneller angegangen, aber im Grunde weit geschickter. Er hatte sich eines anderen bedient, eines Kollegen, der dafür bekannt war, daß er es nicht so genau nahm mit der Wahrheit. Ein wortverliebter Schönschreiber eben, dem es mehr darauf ankam, daß die Geschichte richtig »fiel«, als daß sie stimmte. Becker verachtete Journalisten mit einer solchen Berufsauffassung gründlich.
Mit dem Ausdruck des fiktiven Berichts und mit der gefälschten Notiz von Sonnemann ging er rüber zum Alten. Ihm war mulmig zumute. Nicht, weil er einen Kollegen anschwärzte – Schiffer hatte sich das völlig verdientermaßen eingehandelt. Nicht, weil er Sonnemanns Zorn fürchtete. Sondern weil ihn der Gedanke beschäftigte, daß ein ihm noch unbekannter Kollege nicht nur ein skrupelloser Fälscher war, sondern auch einen Menschen auf dem Gewissen hatte. Er sah keinen Grund für Zweifel: Alexander Bunge mußte sich zu Tode gestürzt haben, weil man ihn – fälschlich – als Päderasten und Pornofreund denunziert hatte. Von solch einem Vorwurf erholte sich erfahrungsgemäß niemand mehr, der in der Öffentlichkeit etwas gelten wollte.
»Setz dich«, sagte Sonnemann und bot ihm ein Zigarillo an, was Hans dankend ablehnte. Er traute sich auch nach drei Jahren noch nicht, Sonnemann zurückzuduzen.
»Kaffee?« Becker schüttelte den Kopf.
Der Leiter des Berliner Büros lehnte sich zurück, legte das massige Kinn in Falten und musterte ihn. »Also schlechte Nachrichten.«
»Ganz schlechte.« Becker reichte ihm die beiden Blätter, das eine ein sauberer Computerausdruck, das andere ein Gekrakel auf kariertem Papier, abgerissen von einem der kleinen Spiralblöcke, die der Redaktionsleiter – ein Mann der alten Schule – bevorzugte.
Die dpa-Meldung las Sonnemann mit breitem Grinsen. »Das sind doch endlich mal gute Nachrichten«, sagte er. »Aber was hat das mit...« Dann las er die handschriftliche Notiz. Plötzlich regte sich kein Muskel mehr in seinem Gesicht.
»Das hier«, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger auf das karierte Blatt Papier. »Das hier ist gefälscht.«
Becker nickte.
»Und das hier?« Sonnemann hielt den Computerausdruck hoch.
Hans nickte wieder.
Sonnemann runzelte die Stirn. »Und das heißt...?«
»... unsere Bunge-Story basierte auf einer gefälschten dpa-Nachricht und auf einer gefälschten Anweisung, daraus was zu machen.«
»Und auf der Blödheit eines Journalisten, den man teeren und federn und zur Tür hinausjagen sollte.« Sonnemanns Stimme war ganz ruhig geworden.
»Bleibt die Frage, wer ihm den Krempel auf den Tisch gelegt hat.« Auch Becker sprach plötzlich verhalten, so als fürchte er, man könne sie belauschen.
Sonnemann klopfte mit dem Zeigefinger die Asche von seinem Zigarillo und sah zum Fenster hinaus. »Wer will uns schaden?« fragte er leise.
Frau Novak steckte den Kopf zur Tür hinein. »Jetzt nicht!« brüllte Sonnemann, und für einen Moment war Hans beruhigt: Solange der Alte brüllte, war alles nur halb so schlimm. Aber Sonnemann war schon wieder ruhig geworden.
»Wer war das Schwein? Und was wollte er erreichen?«
Noch in der höchsten Wut blieb der Büroleiter Chauvinist —oder Kavalier, wie man’s nimmt, dachte Becker. Auf einen weiblichen Täter kam er erst gar nicht.
Sonnemann drückte den Zigarillo aus, als setze er dem Fälscher höchstpersönlich den Daumen aufs Auge. »Find das raus, Hansi«, sagte er schließlich. »Du bist der einzige in diesem Laden, der denkt, bevor er schreibt.«
»Und – was machen wir mit Bunge?«
Der Alte hob die spärlichen Augenbrauen. »Bunge? Der ist tot.«
»Ich meine – müßten wir nicht eine Richtigstellung...?«
Sonnemann hustete, als ob er sich verschluckt hätte. Fast wäre Becker aufgestanden, um ihm auf den Rücken zu klopfen. Als der Alte sich wieder beruhigt hatte, war seine Stimme vor Heiserkeit noch leiser geworden.
»Eine Richtigstellung? Bei unserer Auflage? Bist du wahnsinnig geworden?«