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Frankfurt am Main, 13. August

Sie nahmen zu fünft Kurs auf ihn. Er spürte den Lufthauch an seiner Wange, als die Bande von Mauerseglern an ihm vorbeipfiff. Man hätte meinen können, die kleinen Viecher veranstalteten eine Mutprobe.

Tom Berger schüttelte den Kopf und lief weiter, ohne sich aus dem Tritt bringen zu lassen. Die Vögel spielten verrückt heute morgen – alle Vögel. Völlig ohne den üblichen Lärm, fast geräuschlos hatte sich vorhin ein ganzer Schwarm von Spatzen aus dem Gebüsch in der Parkanlage erhoben und war wie eine Rauchwolke vor die Morgenröte gestiegen. Am Mainufer hatten ihn zwei Amseln begleitet – sie waren neben ihm hergeflogen, hockten sich auf die Lehne einer Bank oder auf den Papierkorbhalter, warteten, bis er nachkam, und flogen ihm wieder voran. Als er auf den Holbeinsteg zutrabte, erhoben sich mit lautem Flügelschlagen drei Schwäne aus dem Main, kreisten einmal über seinem Kopf und flogen dann fort Richtung Süden. Berger blinzelte in den Himmel und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Er las die Zeichen.

Alles war Zeichen. Die Vögel. Die Schatten der Platanen. Das halbe Fragezeichen, das ein Kondensstreifen am blaßblauen Himmel beschrieb. Die Krümmung des Stegs über den Main. Die Spuren im frisch geharkten Uferweg. Er lächelte, während er die Treppenstufen hinauflief. Auf dem Steg blies ihm der Morgenwind entgegen. Leichtfüßig wich er der Plastiktüte aus, die der Wind über die Brücke trieb.

Auch auf der anderen Uferseite sah man keine Menschenseele. Es war noch immer früh, kaum jemand war unterwegs. Vorhin hatte er eine Stadtstreicherin mit Hund in einem Papierkorb wühlen sehen – und vom gegenüberliegenden Ufer her hatte ein anderer einsamer Jogger zu ihm herübergewunken. Der Augustmorgen war frisch und unverbraucht, erst in zwei Stunden würden Sommerhitze und Auspuffgase die Luft dick und das Atmen schwer machen.

Wieder schrillte ein Geschwader von Mauerseglern an ihm vorbei. Alles ist Zeichen, dachte Tom. Die Welt sprach zu ihm, und das Schöne daran war: Er konnte sich aussuchen, was sie ihm jeweils sagen wollte. Tief fliegende Mauersegler bedeuteten gute Nachrichten. Vielleicht stieg der Dax. Vielleicht überlegte Sibylle es sich doch noch anders. Als er den Eisernen Steg erreichte, die zweite Fußgängerbrücke über den Main, beschloß er, den Börsenindex heute mit sechzig Zählern im Plus schließen zu lassen.

Ein Morgen voller Bedeutung. Er sah auf die Uhr, während er vom Mainkai aus den Weg zum Römerberg nahm. Seine Schritte hallten durch die Fahrtorgasse. Der Himmel war voller Zeichen. Man mußte sie nur lesen können.

Er hatte den großen Platz – rechts die Fachwerkhäuser, dahinter der Dom, vorn die Justitia am Gerechtigkeitsbrunnen – bereits überquert, als er das Kreischen hinter sich hörte. Elstern, dachte er. Die Vögel spielten wirklich verrückt heute. Ihre häßlichen Stimmen schimpften im Chor, sie wollten gar nicht aufhören, sich zu beschweren. Während er schon über die Braubachstraße lief, drehte er sich um und blickte zurück. Die schwarzweißen Vögel kreisten um den Glockenturm der Alten Nikolaikirche, stiegen auf, flatterten herab und schienen sich maßlos aufzuregen über irgend etwas. Tom Berger glaubte einen Schatten zu sehen oben im Turm, hinter der Brüstung, dort, wo der Laufgang sein mußte, auf dem zur Weihnachtszeit die Turmbläser standen.

Der Schatten wurde größer. Berger blieb stehen. Der Schatten füllte den Raum aus da oben, zwischen den zwei Pfeilern. Die Elstern schrien. Der Schatten schien sich zu heben, sich von seinem Hintergrund zu lösen, stand einen Moment lang vor dem blauen Himmel und schwebte, nein, fiel im Sturzflug nach unten. Das Klingeln der Straßenbahn holte Berger zurück in die Realität: Er stand mitten auf dem Zebrastreifen. Ohne zu zögern lief er zurück, dorthin, wo der Schatten aufgekommen sein mußte. Die Elstern zeterten noch immer über seinem Kopf.

Der Mann lag auf dem Pflaster, auf dem Rücken; das linke Bein in einem unnatürlichen Winkel unter dem rechten, die Arme ausgebreitet. Berger registrierte den eleganten schiefergrauen Anzug mit Weste, die anthrazitfarbenen Wildlederschuhe, den gepflegten graumelierten Bart und die halbgeöffneten Augen. Tot. Der Mann ist tot, dachte er, kniete sich neben ihn und fühlte ihm den Puls. Plötzlich war ihm kalt in seinem naßgeschwitzten Trikot. Nichts, kein Flattern, kein Lebenszeichen. Er tastete nach der Halsschlagader, legte sein Ohr an den Brustkorb des Mannes. Tot, dachte er. Mausetot.

Tom Berger ging in die Hocke. Was machte man in einem solchen Fall? Beten? »Ruhe in Frieden«, murmelte er. Mehr fiel ihm nicht ein. Sollte er ihm nicht wenigstens die Augen schließen? Er zögerte. Der Tote sah entspannt, ja friedlich aus. Berger legte ihm die Zeigefinger auf die Augenlider und zog sie mit sanftem Druck zu. Je länger er den Mann betrachtete, desto bekannter kam er ihm vor.

Die Elstern über ihm kreischten. Er blickte zu ihnen hoch. Dann fiel es ihm wieder ein. Er hatte das Gesicht auf Parteiplakaten gesehen. Und nach gewonnener Wahl im Fernsehen, entspannt und strahlend über den Erfolg. Der Mann war Politiker, Bundestagsabgeordneter. Warum sprang so einer vom Kirchturm? Aus den üblichen Gründen?

Tom Berger klopfte die Seitentaschen seiner Jogginghose ab, auf der Suche nach dem Telefon. Er las schon seit Jahren keine Zeitung mehr – höchstens das »Handelsblatt« und immer nur den Wirtschaftsteil. Politik war kein gutes Omen. Gab es womöglich einen neuen Skandal, von dem er noch gar nichts mitbekommen hatte?

Dabei lag der Mann ganz harmlos da – wenn man von der Blutlache unter seinem Kopf absah, die langsam größer wurde. Berger wählte die 110. Vielleicht hatte er sich aus Liebe hinabgestürzt? Tom spürte, wie die Sehnsucht nach Sibylle kleine scharfe Krallen nach ihm ausstreckte. Liebe tut weh, dachte er. Liebe kann einem das Herz zerreißen.

In der Ferne erklang ein Martinshorn.

Später fragte ihn der Mann von der Polizei, ob er etwas gehört hätte – einen Schrei, einen Hilferuf – oder etwas gesehen. Berger schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Schrei gehört – nur das Kreischen der Elstern. Das war ein Zeichen gewesen, ganz ohne Zweifel. Ein Zeichen von großer Bedeutung.

Nichts als die Wahrheit

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