Читать книгу Sauberer Abgang - Anne Chaplet - Страница 10
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ОглавлениеDer markerschütternde Schrei erwischte ihn unvorbereitet, obwohl er damit hätte rechnen müssen. Will Bastian verdrehte die Augen. Über ihm ging ein Maschinengewehrgewitter dumpfer Einschläge los.
Dann nichts. Stille, sekundenlang.
Ein rhythmisches Geräusch, das langsam schneller wurde, ein lauter Schlag. Quietschendes Gelächter.
»Tor! Tor! Tor!« Ein Fernseher. Ein Radio? Egal – volle Pulle. Kurz vor der Schmerzgrenze etwas leiser. Dann wieder laut.
Er versuchte, ruhig weiterzuatmen. Maximilian und Julian waren aus der Schule zurück. Und – Überraschung! Sie hatten ihre Freunde mitgebracht.
Der Vormittag hatte in sahniger Stille begonnen; er hatte schon gar nicht mehr an die kleinen Pestilenzen gedacht in der Wohnung über ihm. Aber jetzt versetzte sich sein Körper wieder in den Zustand äußerster Wachsamkeit, Puls und Atmung beschleunigten: Er wappnete sich gegen die nächste Lärmattacke. Streß, dachte Will mit einem Anflug von Wehleidigkeit. Begünstigt Herzkrankheiten und frühen Tod.
Er ließ sich in den Sessel fallen, streckte die Beine von sich und ergab sich der nächsten Lärmwelle.Jemand schien direkt über seinem Kopf immer wieder hochzuspringen. Zwei balgten sich, »Du Arsch!« ächzte der eine, »Du Waschlappen!« der andere. Fast gewann er Spaß am munteren Treiben ein Stockwerk über ihm, schließlich war es das letzte Mal, daß er dessen Zeuge war. Ab morgen ging ihn das alles nichts mehr an. Und das wog sogar die Trennung von Vera auf.
Der Gedanke ernüchterte ihn. Er betrachtete das magere Häuflein Bücher, an denen ihm etwas lag, stand auf und räumte eines davon wieder zurück ins Regal. Die anderen packte er in eine Klappkiste und stellte sie vor die Tür seines Arbeitszimmers. Seines ab morgen ehemaligen Arbeitszimmers.
Oben quietschte es rhythmisch, bevor etwas so heftig auf den Boden bumste, daß die Fensterscheibe klirrte. Er blickte zur Zimmerdecke, erwartete, wie so häufig und immer vergebens, abgebröckelten Putz oder gar ein Loch zu sehen. Er war nicht oft oben gewesen, in der Wohnung der Familie Wagner, aber er glaubte sich zu erinnern, daß dem Fernseher gegenüber ein Bettsofa stand. Wahrscheinlich benutzte einer der Jungs es als Trampolin, bevor er hinuntersprang.
Zu Anfang hatte er noch protestiert. Einmal übrigens zu Unrecht, da war es die Party im Stockwerk unter seiner Wohnung gewesen, die ihn beim Arbeiten gestört hatte. Dennoch war er zu den Wagners hochgelaufen, um eine Einstellung der Kampfhandlungen zu erbitten. Er erinnerte sich lebhaft an die Gesichter der beiden Jungs, wie sie brav nebeneinander auf dem Sofa saßen, jeder einen Joystick auf dem Schoß. Mit großen Kinderaugen hatten sie anklagend zu ihm aufgesehen, zu diesem Kinderfeind, der ihnen ihre harmlosen Vergnügen nehmen wollte, vor allem jenes, jeden Tag direkt über seinem Schreibtisch mit drei anderen, ebenfalls vom Zappelphilipp-Syndrom befallenen Freunden möglichst geräuschvoll fernzusehen.
Mutter Wagner zeigte naturgemäß nicht das geringste Verständnis für seine Nöte, die im Sommer begonnen hatten, als er, vom Urlaub mit Vera zurückgekehrt, seinen ehemals so ruhigen Arbeitsplatz in ein Inferno verwandelt fand.
Auch Vera hatte das anders gesehen. »Ja wenn du Totenstille brauchst zum Arbeiten ...«
Totenstille? Er hatte auch die Jahre zuvor jedes Husten und Schnarchen gehört und jeden Anflug eines Ehestreits zwischen Thommy und Doro, den Vorgängern der Familie Wagner. Aber wenigstens waren die beiden rechtzeitig ausgezogen und hatten sich ihr familienfreundliches Reihenhäuschen gesucht, bevor die ersten Babyschreie ertönten. Das nannte man Rücksichtnahme.
Will ging hinüber ins Wohnzimmer, stellte sich vor die gemeinsame CD-Sammlung und überlegte, auf welche Scheibe er unter keinen Umständen verzichten wollte. Es gab nicht viele davon. Alles war eingetrübt durch die sechs Jahre mit Vera: Queen, »We will rock you« – das hatte er immer aufgelegt, wenn er dem Krach von oben etwas entgegensetzen wollte. Andrea Bocelli – um Himmels willen, das war nicht sein Ding, sondern Veras, aber sie hatten immer so traumhaft schön gevögelt dabei. Tom Waits – ja, das schon eher. Das war Musik, die Vera nicht mochte. Er zog die CD aus dem Regal und legte sie neben »Queen« in die Bücherkiste.
Und plötzlich war alles ganz einfach. Heute morgen noch hatte er Bilanz gezogen, hatte Vera in Gedanken vorgerechnet, was er vor sechs Jahren in ihren gemeinsamen Haushalt eingebracht hatte und worauf er deshalb einen knüppelharten Anspruch besaß. Und jetzt hätte er ihr am liebsten alles dagelassen, all den Ballast, der sich in einem Menschenleben so ansammelt. Nur der Schreibtischsessel mußte mit. Und, blöderweise, die Steuerunterlagen.
Jetzt hörte er schwere Schritte über sich. Annette Wagner hatte ihren mächtigen Körper in Bewegung gesetzt und ging durch den Flur hinüber ins Zimmer ihrer Sprößlinge. Er hörte sie keifen.
Sie wußte noch nichts von ihrem Glück: ab heute Rücksichtnahme nicht mehr nötig! Noch glaubte sie offenbar, Max und Julian alle zwei Stunden anbrüllen zu müssen, um sich nicht nachsagen zu lassen, sie sorge nicht für Zucht und Ordnung. Will schüttelte sich beim Gedanken an ihr flaches Gesicht und an ihre kleinen dicken Hände. Sie wollte einfach nicht begreifen, daß er nicht kinderfeindlich war, sondern daß sie und er gemeinsam an etwas Drittem litten: an der schlechten Bausubstanz, Annette, kapier das doch endlich!
Das Wohnhaus stammte aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und hatte im Zweiten Weltkrieg eine Brandbombe abgekriegt. Die beiden obersten Stockwerke waren nach dem Krieg auf billigste Weise und mit geringerer Dekkenhöhe wiederaufgebaut worden – das Problem, das daraus folgte, war weit verbreitet und hieß Hellhörigkeit. Man hörte nicht nur jedes Wort von oben, sondern auch von unten. »Ich kann dir alle deine Telefongespräche nacherzählen«, hatte Annette gezischt. Eben! Aber Annette brachte, wie die meisten Frauen, Ursache und Wirkung durcheinander.
Wie Vera. »Erzähl mir bloß wieder, daß du kein Kinderfeind bist!« hatte sie eines Tages gesagt, als sie später als üblich aus dem Büro zurückkam und er sich bei ihr beklagte über den verdorbenen Arbeitstag. Es war in der Adventszeit gewesen, Annette hatte seit dem frühen Morgen direkt über seinem Kopf Weihnachtsmusik abgedudelt, während er an einem gefühlvollen Artikel über einen während der Nazizeit verfemten Frankfurter Architekten saß. Stille Nacht und Schneeflöckchen bis zum Abwinken. Es war grausam gewesen. Und dann kam Vera auch noch mit dem Superüberbeziehungskonflikt, von dem er gehofft hatte, er hätte sich durch Beschweigen von selbst erledigt.
Will stellte die DVD-Kassette mit »Der Herr der Ringe« wieder zurück ins Regal. Über ihm klatschte die Wagner-Brut rhythmisch in die Hände und rief etwas. Hörte sich glatt an wie »Raus raus raus aus diesem Haus«. Kinder an die Macht, dachte Will. Eine blödere Parole hatte er noch nie gehört.
Wenn er wenigstens noch festangestellt wäre. Die liebe Annette hatte den Finger gleich in die richtige Wunde gelegt: »Warum mußt du überhaupt zu Hause arbeiten? Andere Leute gehen tags doch auch ins Büro!« Na klar. Das hatte er ja getan, jahrelang. Es sei denn, es gab einen Text zu schreiben, für den man ein bißchen häusliche Ruhe brauchte. Aber mittlerweile war seine Zeitung von einem Organ der Meinungsführerschaft zu einer Art Sozialprojekt zurückgeschrumpft, in dem alle gemeinsam weniger arbeiteten und verdienten, in der Hoffnung, das würde die Geschäftsleitung von Kündigungen abhalten. Hatte es natürlich nicht. Ihm mußte man nicht groß nahelegen, was er längst ahnte. Bevor er an die Reihe gekommen wäre, ging er freiwillig.
»Aber du hättest doch Arbeitslosengeld gekriegt!« Vera wollte nicht verstehen, daß er genau das vermeiden wollte. Er war ja nicht arbeitslos. Er hatte nur – na ja: den Aggregatzustand geändert. Nannte sich eben freier Journalist jetzt, ganz einfach.
Das schlimmste war Annettes Lächeln, als er ihr mitteilte, er würde jetzt noch öfter als früher zu Hause arbeiten. Genauer gesagt: jeden Tag. Auch am Wochenende. In ihren Augen las er Verachtung für den Versager, der seine Frau arbeiten schickte und die Kinder anderer Leute terrorisierte-die Kinder, die später für seine Rente aufzukommen hatten!-sagte Annette und schürzte vorwurfsvoll die Lippen.
»Woher weißt du das?« hatte er zurückgefragt. »Kinder, die so oft fernsehen, kriegen später Sozialhilfe, für die wir zu zahlen haben.«
Sie hatte noch spitzer gelächelt, und dann ganz leise »Wo-von denn?« gesagt.
Gute Frage. Vera sah das offenbar ähnlich, jedenfalls behandelte sie ihn so, als ob er zu Hause säße, nichts Vernünftiges zu tun habe und nur darauf warte, daß sie ihm kleine Aufträge gab: Hol doch mal für mich die Bluse aus der Reinigung. Kannst du heute einkaufen? Was kochst du morgen? Er nahm Päckchen entgegen, er beantwortete Anrufe schöner als jeder Automat. Er putzte, er kochte, er machte den Hausmann. Und dann schnappte die Falle zu. »Wo du doch eh zu Hause bist, könnten wir da nicht auch ...«
Will ging hinüber in die Küche. Über ihm lachte es schrill. Die Wagner hatte Freundinnen zu Besuch, das erklärte das massenhafte Auftreten der Kids. Kaffeeklatsch mit viel Kuchen. »Aber bitte mit Sahne.« Und dann wunderte sie sich, daß ihre beiden Jungs schon jetzt so übergewichtig waren wie die Mutter. Die Damen oben lachten wieder, sehr entspannt. So ein Kaffeeklatsch konnte dauern, die Kinder waren ja vorm Fernseher geparkt. »Video killed the radio star«, dachte er und fühlte sich plötzlich steinalt.
Die Küche war sein Revier gewesen. Er hatte für scharfe Messer gesorgt, für die richtigen Öle und den besten Essig. In der neuen Wohnung würde er sich wahrscheinlich aufs Warmmachen von Seniorengerichten beschränken, den Alten wie ein Kind schon nachmittags vorm Fernseher ruhigstellen und abends zum nächstbesten Italiener gehen. Wozu also noch scharfe Messer und handgeschmiedete Eisenpfannen?
Nur den Korkenzieher, einen teuren Screwpull, würde er mitnehmen. Und die Dekantierkaraffe. Ihr lag nichts dran. Vera hatte irgendwann begonnen, das Weintrinken einzuschränken und schließlich einzustellen. Es schmecke ihr nicht besonders gut, hatte sie mit leiser, etwas wehleidiger Stimme gesagt, vor allem nicht die Weine, die er »anspruchsvoll« nannte, und außerdem mache der Alkohol womöglich unfruchtbar. Von der Theorie hatte er noch nie gehört, aber ihren Blick konnte er lesen.
Es ging seit einiger Zeit immer nur um das eine. Um das, was sie ihre »biologische Uhr« nannte, die sie angeblich »ticken« hörte. Sie wollte ein Kind. Sie wollte Kinder. Von ihm, und zwar bald. Und weil er ja nun eh zu Hause war und nichts auf einen beruflichen Höhenflug deutete, hielt sie die Zeit für reif.
Will hatte sich wie der Fuchs im Fangeisen gefühlt. Denn er hatte ihr nichts entgegenzusetzen – jedenfalls nichts, was sie verstanden hätte.
Ganz zu Anfang ihrer Beziehung hatte er mit der Lage der Welt argumentiert, die es unverantwortlich mache, ein Kind in dieselbe zu setzen, hatte auf den Krieg in Jugoslawien verwiesen, auf die Klimakatastrophe, die Staatsverschuldung. Eine Zeitlang hatte er an seine Argumente sogar geglaubt. Sie hatte irgendwann nur noch gelacht. »Und das sagst du? Der du regelmäßig gegen die Alarmisten wetterst, die alle naselang den Weltuntergang ausrufen?«
Will wickelte den Screwpull in die Zeitung von heute und legte ihn in die Bücherkiste im Flur. Er zögerte, bevor er ins Schlafzimmer ging. Es roch nach ihrem Parfum – Serge Lutens, die letzte Flasche hatte er ihr geschenkt. Das Bett war nicht gemacht, und ihr Rock und die Strumpfhosen lagen noch da, wo sie sie gestern fallen gelassen hatte. Er setzte sich auf die Bettkante und legte das Gesicht in die geöffneten Hände. Sie hatten sich mit einer Sehnsucht geliebt, daß er beim bloßen Gedanken daran weiche Knie kriegte. »Das war doch immer gut gewesen zwischen uns«, hatte sie danach geflüstert und den Kopf auf seine Brust gelegt. Und dann kamen die Tränen, leise, verzweifelt, ohne all die Wut, die er sonst von ihr kannte.
Er hätte es ihr so gerne erklärt. Er versuchte es ihr seit Jahren zu erklären, jedenfalls in Gedanken. Die Erklärung fing immer mit »Versuch mich zu verstehen, Vera« an. Versteh mich doch. Ich würde gerne bei dir bleiben. Ich drücke mich nicht vor der Verantwortung. Ich würde auch für zwei, ach was: für drei arbeiten, wenn man mich ließe. Ich will, daß du glücklich bist. Und ich habe auch nichts gegen Kinder. Höchstens – gegen die da oben über meinem Kopf.
Und gegen welche, die von mir stammen.
Will stand auf und räumte Hemden und T-Shirts aus der Kommode. Vera, hör mir zu. Der Gedanke an ein Kind, das mir gleicht, ist mir unerträglich. Ein Kind, das so unglücklich ist, wie ich es war. Gepeinigt von Albträumen und Urängsten. Geplagt von viel zu langen Gliedmaßen und abstehenden Ohren.
Höre, Vera. Und wenn ich ein Vater würde wie der, der mein Vater war? Ein autoritärer Sack, der nie zu Hause ist? Was täte das deinem Kind?
»Du wärst der liebevollste Vater der Welt«, hatte sie einmal gesagt. Vielleicht. Aber konnte man sich darauf verlassen? Die Wahrheit war – er wollte keine Selbstverewigung. Er wollte nichts weitergeben, nichts vererben.
Irgendwann war sie gestern ins Bad gegangen. Als sie wiederkam, setzte sie sich auf die Bettkante und sah ihn an, mit einem dieser tiefen Blicke, die ihn unruhig machten.
»Laß dich sterilisieren«, sagte sie schließlich. »Damit ich dir nicht in zehn Jahren begegne, mit jugendfrischer Freundin und Baby auf dem Arm.«
Sie stand auf und drehte ihm den Rücken zu. »Wenn ich alt und vertrocknet bin«, sagte sie.
Der Himmel war grau geworden, während er sein Auto bepackt und Abschied von Backenheim genommen hatte. Auf der Bockenheimer Landstraße staute sich der Verkehr, wie immer um diese Zeit. Dort, wo das erste richtige Hochhaus Frankfurts gestanden hatte, das Zürichhochhaus, gähnte noch Jahre nach dem Abriß eine Lücke, von Bauzäunen umstellt. Lieber das als ein einfallsloser Zweckbau, dachte Will. Frankfurt hatte Besseres verdient – und Schöneres als einen weiteren der vielen Architektenträume von Leuten, die sich unter einer Stadt nur Standort vorstellen konnten.
Er fuhr den Reuterweg hoch, bog in den Grüneburgweg ein und passierte die Körnerwiese. Dann stellte er das Auto in die Einfahrt des stilvoll gealterten Altbaus, Frankfurter Jahrhundertwende. Die Wohnung seines Vaters lag im vierten Stock. Schon in der dritten Etage machte sich die fehlende Kondition bemerkbar. Du wirst alt, dachte Will, stemmte die Bücherkiste die restlichen Stufen hoch und ließ sie vor der Wohnungstür fallen. Auf der Klingel stand »Marga und Karl Bastian«. Drinnen heulte etwas, es hörte sich an wie eine Motorsäge im Leerlauf. Und dazu erklang das, was man im Radio unter klassischen Hits verstand. Wieder einmal hatte Albinonis Adagio herhalten müssen. Will seufzte. Dann schloß er auf.
Karl Bastian trug eine ausgebeulte blaue Trainingshose, in deren Bund er ein Geschirrtuch geklemmt hatte, darüber ein weißes T-Shirt. Sein Vater hatte das Radio voll aufgedreht und sang mit, während er einen asthmatisch röhrenden Staubsauger über das Parkett im Flur schob. Kurz winkte er Will zu und zog mit dem antiken Gerät weiter ins Wohnzimmer.
Ein Job weniger, den ich zu übernehmen habe, dachte Will unfromm, aber eigentlich war er gerührt. Der Alte gab sich wirklich Mühe. Er trug die Kiste in das Zimmer, in dem er ab heute wohnen und arbeiten würde. In der Tür blieb er stehen. Das Zimmer wirkte hell und klar und leer, Bettsofa und Schreibtisch fielen kaum auf in dem großen Raum. Will atmete tief ein und schwor allen weiteren weltlichen Gütern ab. Dann stellte er die Kiste ab und lief die Treppenstufen wieder hinunter, um Koffer, Kleidersack und Schreibtischstuhl aus dem Auto zu holen. Auf ein neues, karges Leben. Ein Männerleben.
Will Bastian, noch nicht 48 Jahre alt, kehrt nach der Trennung von seiner Freundin zwar nicht zurück zu Mama, aber zu Papa, 82. Der ihn Willi nannte, was er haßte. Und mit dem er sich seit Jahren nichts zu sagen hatte.
Er hatte noch niemandem von seinem Entschluß erzählt, aber er wußte, was die Kumpels sagen würden. »Du tust was?« Max Winter würde sich kaputtlachen. »Die Versöh-nung der Generationen! Wie human!« könnteJulius Wechsler sagen, wenn er überhaupt etwas sagte.
Seine Antwort hatte er sich längst zurechtgelegt. »Mein Vater kommt nicht mehr alleine klar, und die Wohnung ist groß genug.«
Er mußte ja niemandem auf die Nase binden, daß Karl Bastian sich bester Gesundheit erfreute und er nur-wie sagt man? – perspektivisch das Nützliche mit dem Humanen verband. Immerhin sparte er schon jetzt an der Miete und war der erste Kandidat aufs Pflegegeld, wenn der Alte wirklich klapprig wurde, was nur eine Frage der Zeit war.
Max Winter kannte solche Probleme nicht. Max betrieb eines der besten Restaurants der Stadt. Und Julius Wechsler? Der Dicke hatte weder finanzielle Sorgen noch alte Eltern – und schon gar nicht so etwas wie ein Gemüt. Heute abend würde er es ihnen sagen müssen. Der Gedanke daran war nicht unbedingt angenehm.
»Alles klar, Willi?« Sein Vater steckte den Kopf zur Tür herein. »Bist du zum Abendbrot da? Ich habe eingekauft. Auch einen Begrüßungssekt.«
»Danke, Vater. Aber heute abend habe ich einen Termin.«
Der Alte hob die Schultern und verzog sich wieder. Wenigstens stellte er das Radio leiser.
Es geht schon los, dachte Will. Der Familienanschluß. Die alten Rituale. Das alte schlechte Gewissen.
»Sehen wir uns beim Frühstück?« Da war er wieder. »Ich hole Brötchen.«
Will nickte und lächelte und kam sich wie ein undankbares Kind vor.