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Dalia Sonnenschein lag auf den Knien und sah zu, wie eine Träne auf das Parkett fiel und zerplatzte. Nicht weinen, verdammt. Sie wischte mit dem blauen Lappen über den winzigen feuchten Fleck, als ob sie nicht nur jeden Kratzer, sondern auch noch jedes Astloch wegpolieren könnte aus dem bernsteinbraunen Holz.

Nicht weinen.

Mutter hatte auch auf den Knien gelegen, damals, und gewischt und gewienert und geweint und gesagt: »Wir müssen diesmal ganz besonders gründlich sein, Schätzchen, hörst du?«

Alles sauber kriegen. Je-den-Fleck-weg-ma-chen. Über das Linoleum schrubben, bis es quietscht. Den Scheuerlappen in den Wassereimer stecken, auswringen, daß die dunkle Brühe rausläuft, schrubben reiben wischen. Und nicht daran denken, was auf dem Küchenboden liegt, direkt neben der Tür zum Flur. Was nach Schnaps stinkt und Kotze und Pisse und sich nicht rührt. Damals hatte Dalia nicht geweint, sondern der Mutter geholfen, so gut man kann, wenn man sieben Jahre alt ist.

Sie schob die Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus dem strengen Pferdeschwanz gelöst hatte, den sie nur während der Arbeit trug. Die feuchten rosa Gummihandschuhe rochen nach Latex und Furol. Sie sehnte sich nach zu Hause, ihrem Bademantel und einem Tropfen Parfüm.

Nicht weinen. Das alles ist ewig lange her, und dies hier ist nicht die dunkle Wohnung in Dietzenbach, sondern das gut ausgeleuchtete Zimmer des Geschäftsführers des vornehmen Bankhauses Löwe. Und nichts erinnert an damals – bis auf eines.

Ein aufgedunsener Mond war dem sanft geröteten Morgenhimmel entstiegen und bleckte durch die Fensterfront. Dalia hatte ganze Arbeit geleistet, wie immer: die benutzten Gläser in die Teeküche gebracht, gespült und poliert, den gläsernen Schreibtisch gewienert, bis davon kein Fingerabdruck mehr zu gewinnen war, die Telefonanlage gesäubert und sogar die Computertastatur gereinigt. Sie hatte den Papierkorb ausgeleert und das Leder der Sitzgarnitur in der Besucherecke abgerieben. Sie hatte alles so gemacht, wie es sich gehört im Zimmer des Geschäftsführers.

Dalia stützte sich mit der linken Hand ab und stand auf. Die Knie taten weh. Sie mußte ewig lange auf dem Parkettboden gehockt und mit dem Oberflächentuch auf ihm herum-gewienert haben, völlig ohne Sinn und Verstand, wozu gab es für die Bodenreinigung den Mop?

»Das kriegt man nur von Hand weg«, hörte sie ihre Mutter flüstern. Ihr wurde schwindelig. Nichts hatten sie weggekriegt, obwohl sie die halbe Nacht auf den Knien verbracht hatten, die Mutter und sie. Ihn hatte man nicht wegwischen können, er lag da und stank und war auch tot nicht aus der Welt zu schaffen.

Sie blickte sich um. Alles sah aus wie immer. Bis auf ... Sie zwang sich dazu, sich umzudrehen und in die linke Ecke des Raumes zu sehen, dort, wo die Besuchersessel standen. Jetzt jedenfalls standen sie wieder; der eine hatte auf der Seite gelegen, als sie das Zimmer betrat. Sie blickte auf die Uhr. Um sechs Uhr hatte sie angefangen, jetzt war es fast sieben, was sollte sie sagen, wenn man sie fragte, was sie denn gemacht habe die ganze Zeit?

Ich hab’ mir die Leiche angeschaut?

Er mußte live gar nicht übel ausgesehen haben. Für sein Alter. Mit steifen Beinen ging sie hinüber und hockte sich neben den Toten. Saitz hieß der Mann. Sie runzelte die Stirn, während sie ihn betrachtete, das blasse Gesicht, das dünne Haar, die auffallende Designerbrille ein wenig verrutscht. Er trug einen roten Rollkragenpullover, nicht sehr trendy. Kein Jackett. Ihr Blick glitt tiefer. Ehering. Armbanduhr. Die rechte Hand zu einer halboffenen Faust geballt. Es steckte etwas zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie stupste einen latexbehandschuhten Finger hinein und schrie leise auf, als ihn etwas Spitzes traf. Sie steckte den Finger in den Mund. Er schmeckte abscheulich, nach Gummi und Seifenlauge und dem Blutstropfen, der sich an der Handschuhspitze gebildet hatte.

Der Gegenstand war eine Art Amulett, geformt wie ein Davidstern in einem Kreis, allerdings mit einem Zacken weniger. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen und steckte ihn in die Kitteltasche. Dann stand sie auf und streckte sich. Es half alles nichts. Es wurde Zeit.

Sie warf den Staubsauger an, ließ ihn kurz aufheulen und dann fallen. Sie stolperte gezielt über den Wassereimer, dessen Inhalt sich über das Parkett ergoß, reckte die Hände in den schweinchenfarbenen Gummihandschuhen, drückte mit den Ellbogen die Tür auf und fing an zu schreien. Schreiend lief sie aus dem Zimmer, schreiend über den Flur. Sie stieß die Tür zum Lichthof auf und blieb stehen, um Luft zu holen. Dann schrie sie wieder. Wie ein Echo kam der Aufschrei der anderen zurück. Gül stürmte aus dem gegenüberliegenden Flur, Marija kam aus der Herrentoilette, das rote Tuch und den Glasreiniger in der Hand. »Dalia! Was hast du?«

»Tot! Er ist tot!« schrie Dalia.

»Wer?« Die beiden Frauen drehten die Köpfe zur gleichen Zeit in dieselbe Richtung. Dalia lief weiter, auf den Aufzug zu.

»Was ist hier los?«Johanna Maurer, die Chefin von Pollux Facility Management, stellte sich ihr in den Weg, die Lippen schmal, die Augen dunkle Schlitze. Dalia hatte gar nicht mitgekriegt, daß heute Kontrolle war. »Wo wollen Sie hin? Was schreien Sie so?«

»Da!« Dalia wies mit dem ausgestreckten Arm hinter sich. »Da liegt einer!«

Johanna Maurer faßte Dalia fest um die Schulter und marschierte mit ihr zurück in den Flur, der zum Zimmer des Geschäftsführers vom Bankhaus Löwe führte.

Dalia schluchzte jetzt hysterisch. Sicher ist sicher – in Notsituationen empfahl es sich, auf minderbemittelt zu machen. Aber seltsamerweise erleichterte sie das Theater. Die Tränen liefen ganz von alleine.

Die Maurer stieß die angelehnte Tür zu Saitz’ Büro auf, betrat das Zimmer und blieb auf der Stelle stehen. »Aha«, hörte Dalia sie sagen. »Und der ist tot?«

»Mausetot.« Dalia hätte diesen lieblosen Kommentar gerne zurückgenommen, als sie Johanna Maurers Blick bemerkte. Die Chefin guckte sie schräg von der Seite an und lächelte. Belustigt. Spöttisch. Und ein bißchen – hämisch.

Dann nahm sie Dalia wieder beim Ellenbogen und marschierte aus dem Zimmer, durch den Gang, in den Lichthof, wo die anderen warteten. »Alles mitkommen«, schnauzte die Maurer. Wie eine Schar koreanischer Touristen stolperten sie der Chefin hinterher die Treppe hinunter, zum Empfang.

»Seien Sie so gut, Milan, und rufen Sie die Polizei.«

Milan griff erschrocken zum Telefon und wählte. »Ob er was?« Er horchte, hielt dann die Hand über den Hörer und sah die Maurer an. »Ob ein Fremdverschulden vorliegt, fragen die.«

»Woher soll ich das wissen? Die sollen wen schicken«, sagte Johanna Maurer und ließ sich auf die Couch der Besuchersitzgruppe sinken, während die anderen um sie herum-standen.

»Ob wir die Polizei brauchen oder einen Notarzt?«

»Egal. Sollen schicken, wen sie haben«, antwortete die Maurer großzügig.

Zwanzig Minuten später stürmte ein junger Kerl mit zerzausten Haaren in Jeans und Lederjacke durch die Eingangstür. Er knallte zur Begrüßung seine Aktentasche auf die Empfangstheke und sagte zu Milan: »Ich habe die ganze Nacht Betrunkene und Drogenabhängige zusammengeflickt, eben reicht’s mir!« Milan zuckte mit den Schultern und deutete auf Johanna Maurer, die schon aufgestanden war und den Notarzt bittersüß anlächelte. »Siggi Leitner«, sagte der Zerzauste, lächelte gequält zurück und folgte Johanna Maurer in den ersten Stock. Nach zehn Minuten waren beide wieder unten.

»Keine Ahnung, woran der Mann gestorben ist. Also kann ich auch keinen natürlichen Tod bescheinigen.« Der Notarzt legte ein bekritzeltes Formular auf die Empfangstheke. »Rufen Sie die Polizei! Die faulen Säcke können ruhig auch mal was tun.«

Wieder hieß es warten. Es ging Dalia auf die Nerven, in der Lobby herumzustehen und den anderen Frauen beim Lamentieren zuzuhören, als ob es einen engen Angehörigen getroffen hätte. Endlich rückte die Polizei an. Ein breitschultriger blonder Stoppelkopf und eine ziemlich hübsche Frau in Grün gingen nach oben, kamen ebenfalls ziemlich schnell wieder herunter und nahmen die Personalien der Anwesenden auf.

Marija stellte sich an, als ob die beiden sie ausweisen wollten, Gül verstummte völlig,Johanna Maurer mußte einspringen.

Dabei schienen die beiden Polizisten nur an Dalia ernsthaftes Interesse zu haben. Es passierte wahrscheinlich selten, daß rund um eine Leiche herum so gründlich geputzt worden war. Dalia beschloß, einfach weiterzuweinen, was ihr überhaupt nicht schwerfiel, wenn auch aus anderen Gründen als denen, über die sie sich vor den Bullen ausbeulte: Sie hatte einen schweren Beruf. Mußte dauernd an ihre kranke Mutter denken. Kam mit dem Geld nicht zurecht. Guckte nicht richtig hin, sah immer nur das Stückchen Leben, das sie gerade putzte und wienerte. Du winselst, dachte sie irgendwann mit Befriedigung. Sie kriegen gleich Mitleid, die Bullen, und dann verlieren sie das Interesse.

»Ich will nach Hause«, sagte sie schließlich. Niemand hatte etwas dagegen.

An der frischen Luft wurde ihr schwindelig. Sie hielt sich an der Kühlerhaube eines betagten Mercedes fest und wartete, bis sich die Horrorshow in ihrem Kopf legte.

Nicht an damals denken. Nicht an Mutter denken und den stinkenden Toten. Der Mann, der neben dem umgestürzten Sessel gelegen hatte, war offenbar ganz friedlich gestorben. Sie konnte nichts dafür. Niemand konnte etwas dafür.

Sauberer Abgang

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