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Karen Stark blinzelte hinüber zum Nachttisch, auf dem der Wecker stand. Sie war viel zu früh aufgewacht. Von einem ungewohnten Laut – einem Geräusch, das klang, als ob ein Igel durch trockenes Laub stöberte. Sie hielt den Kopf in den Luftzug, der durch die halb offenstehende Balkontür zu ihr herüberwehte, und horchte hinaus. Es raschelte wieder.

Sie schwang die Beine aus dem Bett und tastete mit den Zehen nach den Hausschuhen. Igel oder Einbrecher – beides war im vierten Stock einer Altbauwohnung im Frankfurter Westend gleichermaßen unwahrscheinlich. Der Gedanke an einen terroristischen Angriff durchzuckte sie – Attacke auf Karen Stark, die Speerspitze der Frankfurter Staatsanwaltschaft! Sie hätte fast aufgelacht. Trotzdem versuchte sie, möglichst geräuschlos aufzustehen.

Wieder raschelte es, dann fiel etwas um auf dem Balkon. Wahrscheinlich der Topf mit dem vertrockneten Weihnachtsstern, sie hätte längst mal aufräumen müssen da draußen. Schon weil es Frühling wurde und die Tauben bald brüten würden. War es vielleicht schon soweit? Im vergangenen Jahr hatten die Viecher einen Monat lang jeden Tag ein Nest in den Rosenkübel zu setzen versucht – und jeden Abend hatte sie das Gebilde aus Gras, Zeitungspapier und Resten von Plastiktüten mitsamt den frischgelegten Eiern wieder weggeräumt, bis die Nervensägen endlich aufgaben. Sie mochte keine Tauben.

Jetzt stand sie hinter der Balkontür und spähte hinaus. Ein rotes Tier mit spitzen, gefiederten Öhrchen und einem buschigen Schwanz saß auf dem Geländer und hielt etwas in der Ffote, man sah die Zehen mit den kleinen Krallen. Sein Gefährte war schwarz und nicht weniger hübsch und turnte auf der Lehne des Gartenstuhls. Jetzt sprang das rote A-Hörnchen hinüber zum schwarzen B-Hörnchen, die beiden balgten sich, bis A-Hörnchen quiekte und mit einem Satz auf das Balkongeländer sprang – und dann hinunter.

Karen hielt die Luft an. Sind Großstadteichhörnchen selbstmordgefährdet? B-Hörnchen sprang hinterher. Sie schob die Tür auf, ging hinaus auf den Balkon und blickte über die Brüstung in die Tiefe. An der Hauswand rankte sich die Glyzinie hoch, eine mächtige Kletterpflanze aus der Frühzeit des Hauses, die es in diesem Sommer wahrscheinlich ganz hinauf bis zum vierten Stock und auf ihren Balkon schaffen würde. Die beiden Kerle huschten in atemberaubendem Tempo die Schlingpflanze hinab.

Erdnüsse kaufen, dachte sie. Es mußte hübsch sein, morgens von fröhlichen Nußknackgeräuschen geweckt zu werden. Ob man den Tieren beibringen konnte, samstags und sonntags etwas später zu frühstücken?

Der blasse Himmel kriegte Farbe. Karen tappte ins Schlafzimmer zurück und schloß die Balkontür. Eine Kanne Tee, die Zeitung, und zurück ins Bett. Genau das, was einen frühen Morgen schön macht.

Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die roten Haare und schlüpfte in den Morgenmantel. Wenn sie Glück hatte ... Sie öffnete die Wohnungstür. Da lag sie, die Zeitung.Jens aus der Dachgeschoßwohnung war noch in einem Alter, in dem man vor drei Uhr früh nicht nach Hause und ins Bett geht – und schon erwachsen genug, seiner Nachbarin aus lauter Freundlichkeit die Zeitung aus dem Briefkasten zu fischen und vor die Wohnungstür zu legen. Oder aus Rücksicht auf ihr hohes Alter? Egal – Karen schickte einen Luftkuß nach oben.

Während der Tee zog, überflog sie die Schlagzeilen. An einer Meldung ganz unten blieb ihr Blick hängen. »Ermittlungspannen im Fall Silvi«. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl. Der Himmel draußen vor dem Fenster begann sich zu röten, aber der Tag hatte einiges von seinem Charme verloren.

Jeder Ermittlungserfolg hatte seine Kehrseite. Aber das interessierte das Publikum nicht. Seit ein paar spektakulären Fahndungserfolgen – man hatte aus Genspuren am Mordopfer die Täter ermitteln können – kursierten in der Öffentlichkeit völlig überzogene Erwartungen an die DNS-Spurenlese.

Als die Eieruhr schrillte, goß sie den Tee ab und nahm Kanne, Tasse und Zeitung hinüber ins Arbeitszimmer. Die Lust auf einen ruhigen Tagesbeginn im Bett war ihr vergangen.

Sie fuhr den PC hoch, fläzte sich in den Schreibtischsessel, legte die nackten Beine auf die Tischplatte und schlug die Zeitung auf. Die Eltern von Silvi, dem zweiten Mordopfer des geständigen Heiko H., ließen Trauer und hilflose Wut über den Tod ihres Kindes an allen aus, die sie für »zuständig« hielten – und manche Journalisten machten daraus ihr eigenes Schlachtfest. Niels Keller, der Autor des Beitrags, war ihr bekannt. Er war bei Pressekonferenzen der eifrigste und der eiferndste der Journaille. Er war, kurz gesagt, eine Pest.

»Ist Silvi gestorben, weil wir die Falschen schützen? Hat übertriebener Datenschutz dazu geführt, daß der Täter nicht schon nach dem grausamen Mord an dem kleinen Sven gefunden wurde?«

Karen nahm einen tiefen Schluck aus der Teetasse. Sie hatte das alles so oft schon richtigzustellen versucht. Aber die meisten Menschen ignorierten, was ihr Weltbild nicht vorsah. Dabei war die Sache ganz einfach: Der DNS-Vergleich funktioniert nur, wenn es auch etwas zu vergleichen gibt. An Sven, dessen kleiner Leichnam wochenlang in einem Birkenwäldchen gelegen hatte, bis ein Hund ihn aufstöberte, waren keine brauchbaren Genspuren festgestellt worden.

Karen griff zur Maus, rief ihre Mails ab und löschte alle, die ihr Viagra, Pornos oder Penisverlängerungen verkaufen wollten. Wenigstens gab es zwei E-Mails von Gunter. »Ich langweile mich zu Tode. Wo bist du?« und »Ich fliege Donnerstagabend. Essen im Suvadee?« Sie seufzte und löschte beide. Sie hatte sich schon zu oft vergebens auf ihn gefreut.

Karen legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Es ärgerte sie mehr, als ihr lieb war, daß die Journaille immer nur die schlagzeilenträchtigen Fälle ausschlachtete. Bei toten Kindern rasteten alle aus; dabei gehörten diese Fälle, so bodenlos schlimm sie waren, zu den eher seltenen Verbrechen. Andere, weit häufigere Dramen aber interessierten die empörungsbereite Öffentlichkeit einen feuchten Kehricht. Zum Beispiel Frauenhandel. Nicht Zwangsprostitution, nein! Darüber berichtete man gern, Sex & Crime verkauften sich immer. Sondern eine viel weniger spektakuläre Sorte von moderner Sklaverei, mit der sie sich seit Wochen beschäftigte: Professionelle Menschenschlepper lockten Frauen aus der Ukraine oder aus Lettland und Litauen mit Versprechen von Reichtum und Freiheit nach Deutschland und schickten sie für einen Hungerlohn in Frankfurter Hotels putzen. Der Trick: Man meldete die Frauen als »selbständige Gewerbetreibende« an, was den unschätzbaren Vorzug besaß, daß für sie weder Sozialabgaben noch Steuern anfielen. Die Frauen, die kaum Deutsch sprachen und offenbar in vielen Fällen von ihren Schleppern sexuell genötigt oder mit Rauschgift abhängig gemacht worden waren, hatten für r 3 bis r 5 Stunden Arbeit am Tag nicht mehr als 700 Euro Lohn im Monat erhalten. Und davon wurden ihnen auch noch 200 Euro abgezogen, für miese Verpflegung und für eine Koje in schlecht geheizten Bruchbuden, wo sie zu sechst in einem Zimmer hausten. Deutsche Behörden hatten bei dem üblen Spiel mitgespielt: Ein Gewerbeamt hatte mehreren Frauen aus Litauen am selben Tag einen Gewerbeschein für »Reinigungsarbeit nach Hausfrauenart« ausgestellt, ohne Verdacht zu schöpfen oder Alarm zu schlagen. Das war ein behördlich geduldeter Skandal, nichts anderes, ganz zu schweigen vom volkswirtschaftlichen Schaden, der dadurch entstand. Und es verdarb ihr ebenso die Laune wie das ewige Warten auf Gunter.

Oder war sie ungerecht? Sie richtete sich auf, griff nach ihrem Mobiltelefon und schickte ihm eine SMS. »Gerne, chéri. Reservierst Du einen Tisch?«

Der Tee war kalt geworden. Karen durchblätterte lustlos den Lokalteil der Zeitung und schlug dann das Feuilleton auf. Die Besprechung der Theaterpremiere gestern lud nicht dazu ein, den Eigenversuch des Kritikers zu wiederholen. Schließlich raffte sie sich auf und ging ins Bad. Beim Zähneputzen erinnerte sie sich daran, daß sie Erdnüsse kaufen wollte. Und irgend etwas Blühendes für den Balkon. Und daß sie mal versuchen sollte, sich auf Gunter zu freuen.

Sauberer Abgang

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