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2.2.2 Verfassungsrechtliche Einordnung

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Unabhängig von der generellen verfassungsrechtlichen Einordnung der telemedialen Abrufdienste als Rundfunk[147] stellt sich die Frage, bis zu welcher Grenze Aktivitäten in diesem Bereich den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten offen stehen. Für das BVerfG dient der Rundfunk einer umfassenden, freien und individuellen öffentlichen Meinungsbildung. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt hier die Funktion des Grundversorgers zu. Dieser Grundversorgungsauftrag korreliert mit einer Bestands- und Entwicklungsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Teilweise wird das umfassende Online-Engagement des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf diese Entwicklungsgarantie gestützt. Sicherung von Vielfalt und kommunikativer Chancengerechtigkeit im Online-Bereich setze die Gestattung eines multimedialen Angebots, über die Programmbegleitung hinaus, voraus. Dürfe der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht in diesem umfassenden Sinne an neuen, medienübergreifenden Entwicklungen teilhaben, bestehe die Gefahr, dass die Rezipienten anderenfalls das Interesse auch an den klassischen Angeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verlören, so dass eine diesbezügliche Restriktion mit einer Annexfunktion der Online-Dienste zu verfassungsrechtlichen Bedenken führe.[148] Ob dieser Ansatz aber im Hinblick auf den für das BVerfG zentralen Gedanken der Vielfaltssicherung übertragbar ist, muss bezweifelt werden.

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Die Ausgestaltung der Rundfunkordnung zur Sicherung der Meinungsvielfalt ist nach Ansicht des BVerfG Aufgabe des Gesetzgebers. Diese Vielfaltsicherung ist „nicht durch den Wegfall der durch die Knappheit von Sendefrequenzen bedingten Sondersituation entbehrlich geworden (…). Dies hat sich im Grundsatz durch die technologischen Neuerungen der letzten Jahre und die dadurch ermöglichte Vermehrung der Übertragungskapazitäten sowie die Entwicklung der Medienmärkte nicht geändert.“[149] Anlass der gesetzlichen Ausgestaltungspflicht der Rundfunkordnung ist zum einen die hohe Suggestivkraft des Fernsehens.[150] Zum anderen erkennt das BVerfG die durch die Werbefinanzierung bedingte Erhöhung von Vielfaltsdefiziten.[151] Schließlich werden im Konzentrationsdruck und im Eingreifen vertikal integrierter Unternehmen (Inhalt und Technik in einer Hand) in den Medienmarkt vielfaltverengende Faktoren gesehen.[152]

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Bezogen auf neue technische Entwicklungen hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 11.9.2007 folgendes ausgeführt: „Um der Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (…) gerecht zu werden und die Erfüllung seines Funktionsauftrags zu ermöglichen, muss der Gesetzgeber vorsorgen, dass die dafür erforderlichen technischen, organisatorischen, personellen und finanziellen Vorbedingungen bestehen (…). Dem entspricht die Garantie funktionsgerechter Finanzierung. Die Mittelausstattung muss nach Art und Umfang den jeweiligen Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gerecht werden (…)“.[153]

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Im Hinblick auf die neuen Medien weist das BVerfG darauf hin, dass die Wirkungsmöglichkeiten des Rundfunks „zusätzliches Gewicht dadurch (gewönnen), dass die neuen Technologien eine Vergrößerung und Ausdifferenzierung des Angebots und der Verbreitungsformen und -wege gebracht sowie neuartige programmbezogene Dienstleistungen ermöglicht haben“.[154] Zudem müsse „das Programmangebot auch für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen offen bleiben (…), der Auftrag also dynamisch an die Funktion des Rundfunks gebunden (sein) (…)“. Daher dürfe „der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand in programmlicher, finanzieller und technischer Hinsicht beschränkt werden“.[155]

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Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten genießen zwar weitgehende Freiheiten in der Entscheidung über die Programmgestaltung zur Erfüllung ihres Funktionsauftrags. Es ist ihnen aber untersagt, „ihren Programmumfang über den Rahmen des Funktionsnotwendigen hinaus auszuweiten.“[156] Die dynamische Entwicklung des Auftrags ist auch in Zeiten der Digitalisierung untrennbar mit dem Erfordernis der Vielfaltssicherung in einer Sondersituation verbunden, vor deren Hintergrund die Entwicklungsgarantie zu sehen ist. Sie wird im dualen Rundfunksystem durch Mängel an Reichweite, programmlicher Vielfalt und programmlicher Breite des privaten Rundfunks gerechtfertigt.[157] Dies hat sich – wie das BVerfG 2007 ausdrücklich betonte – „im Grundsatz durch die technologischen Neuerungen der letzten Jahre und die dadurch ermöglichte Vermehrung der Übertragungskapazitäten sowie die Entwicklung der Medienmärkte nicht geändert.“[158] Die Verfassung gebietet Vielfaltssicherung im dualen Rundfunksystem auf der anderen Seite aber nur, „solange die privaten Veranstalter den klassischen Rundfunkauftrag (…) nicht in vollem Umfang erfüllen.“[159] In der 6. Rundfunkentscheidung wurde die Bedeutung der Neuen Dienste für die Meinungsbildung als vergleichsweise gering eingestuft und der Grundversorgungsauftrag ausdrücklich vorerst nicht auf diesen Bereich erstreckt. Wenn neue Kommunikationsdienste „künftig Funktionen des herkömmlichen Rundfunks übern(ä)hmen“, könne indes anderes gelten.[160]

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Auch die Offenheit des Programmangebots für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen ist dynamisch an die Funktion des Rundfunks gebunden. Für die Erfüllung des Funktionsauftrages des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Vielfaltssicherung kommt es aber nicht darauf an, die duale Rundfunkordnung auf neue Bereiche zu erstrecken, sondern im Rahmen des dualen Systems eine freie, umfassende und vielfältige Berichterstattung zu gewährleisten.[161] Es stellt sich also auf der Basis der Rspr. des BVerfG die Frage, ob das die Ausdehnung des Grundversorgungsauftrages rechtfertigende Vielfaltsdefizit im Bereich der neuen Dienste tatsächlich zu beklagen ist. In diesem Fall geböte die Verfassung aus Vielfaltsgesichtspunkten die Erstreckung des Funktionsauftrages über die vom BVerfG 2007 erneut gezogenen Grenzen der „programmbezogenen Dienstleistungen“[162] hinaus.[163]

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An einem Vielfaltsdefizit wird man, angesichts der nahezu grenzenlosen Auswahl an frei verfügbaren Online-Angeboten des öffentlich rechtlichen Rundfunks, erhebliche Zweifel anmelden müssen. Angesichts der Kleinteiligkeit der einzelnen Angebote und des anfangs geringeren Rezipientenkreises hatten Online-Angebote ursprünglich keine dem Fernsehen auch nur annährend vergleichbare Suggestivkraft und Breitenwirkung und damit nicht die Meinungsrelevanz des Rundfunks.[164] Allerdings hat die Bedeutung von Smartphones und Tablet-PCs, die Empfang und Nutzung solcher Online-Dienste jederzeit sowie an jedem Ort ermöglichen, in den letzten Jahren erheblich zugenommen.[165] Gerade in der jüngeren Zielgruppe sind daher teilweise Verschiebungen zu Lasten des Rundfunks erkennbar.[166] Obwohl das Internet durch die Mischung verschiedener Medienangebote und Kommunikationsfunktionen in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat, ist jedoch insbesondere im Unterhaltungsbereich der Rundfunk in Gestalt des Fernsehens nach wie vor Leitmedium.[167] Angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen, die künftig weiter fortschreiten werden, kann bestimmten Online-Angeboten eine dem Rundfunk vergleichbare Suggestivkraft zwar schwerlich abgesprochen werden. Die Breitenwirkung des Internets ist indes noch nicht mit derjenigen des Rundfunks identisch. Auch wenn von einer dem klassischen Rundfunk vergleichbaren Wirkkraft der neuen Medien somit noch nicht gesprochen werden kann, bietet die zunehmende Fokussierung der Nutzer auf den Online-Bereich für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in mancher Hinsicht Vorteile. Schließlich sind Online-Dienste wesentlich kostengünstiger als klassische Rundfunkprogramme, lassen sich genau auf Zielgruppen zuschneiden und sind für die Werbewirtschaft gerade im Hinblick auf jüngere Zielgruppen attraktiv.[168] All dies vermag zwar das Interesse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an unbeschränktem, über die verfassungsmäßigen Vorgaben der §§ 11d ff. RStV hinausreichendem Online-Engagement zu erklären, nicht jedoch verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Das hohe qualitative Niveau der privaten Angebote lässt die Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Netzanbieter von „Glaubwürdigkeitsinseln“ entbehrlich erscheinen. Da Online-Angebote in vielen Fällen frei verfügbar sind, gebieten auch sozialstaatliche Gründe keine unbegrenzte Betätigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem Bereich, zumal diese Beitragserhöhungen erforderlich machen könnten. Der Einsatz dieser Mittel etwa – wie im Digitalisierungskonzept vorgesehen – zur Gründung eigener Nachrichten- und Informationskanäle,[169] würde zu einer Verzerrung des Wettbewerbs mit privaten Anbietern etwa aus dem Printbereich führen und insofern verfassungs- und gemeinschaftsrechtlich problematisch sein.

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Die Gremienvorsitzendenkonferenz der ARD hat zu diesen Fragen im Juni 2010 ein Gutachten des ehemaligen Präsidenten des BVerfG Papier zur Abgrenzung von Rundfunk und Presse im Internet vorgelegt.[170] Dieser vertritt die Auffassung, dass Online-Publikationen unter den Rundfunkbegriff fallen und leitet daraus ab, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auch im Internet einen Grundversorgungsauftrag zu erfüllen hätten. Für Papier gehört „eine umfassende Internet-Berichterstattung mittlerweile zu den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestaufgaben der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten“. Die Verfassung verpflichte den Gesetzgeber dazu, ARD und ZDF als „die Informationsquelle“ im Internet einzurichten, weil sie „die Gewähr für Objektivität und Binnenpluralität“ biete. Diese Wertung findet indes in der Rspr. des BVerfG keine Stütze. Danach darf der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand in programmlicher, finanzieller und technischer Hinsicht beschränkt werden. Von dieser Aussage sind auch dessen Aktivitäten im Netz getragen, wie sie derzeit im Rundfunkstaatsvertrag verankert sind. Von einer umfassenden Internet-Berichterstattung als verfassungsrechtlich gebotener Mindestaufgabe und einer medialen Leuchtturmfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bei der Befriedigung des „Bedürfnisses des Bürgers nach Orientierung“ wie dies im Gutachten behauptet wird, ist in der Rspr. des BVerfG aber keine Rede.[171]

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