Читать книгу Auf die leise Weise - Anne Heintze - Страница 5
ОглавлениеINTROVERTIERT, WAS BEDEUTET DAS?
Die Begriffe »Extroversion« und »Introversion« gehen auf den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung zurück. Er prägte die Bezeichnungen im Jahr 1921, als er die Grundlage für die differenzielle Psychologie und tief greifende Persönlichkeitsanalysen legte, die bis heute Gültigkeit haben. Jung beschrieb die psychologischen Grundtypen eines Menschen wie folgt: Introvertiert ist der nach innen gekehrte Typus. Sein Fokus liegt auf der Bewegung nach innen. Das Gegenteil, der Extra- oder Extrovertierte ist der nach außen gekehrte Typus.
Der eine Mensch geht gern in sich hinein, der andere gern aus sich heraus. Unter Extroversion wird auch die Eigenschaft verstanden, eine Vorliebe für direkte Erlebnisse mit Dingen und anderen Menschen zu besitzen. Wenn du extrovertiert bist, erlebst du also jede äußere Erfahrung sehr bewusst und genießt sie. Wenn du introvertiert bist, dann bevorzugst du die innere Welt der Gedanken und Empfindungen. Informationen werden ausführlicher verarbeitet und tiefer gehend interpretiert als bei den typischen Extrovertierten. Nicht dem Erlebnis selbst, sondern vielmehr der Bedeutung der Erlebnisse um dich herum weist du einen hohen Wert zu. Deine Handlungen richtest du ebenfalls danach aus, welchen Wert sie für dein Innenleben haben.
Extro- oder extravertiert?
Wie heißt es richtig? Im Duden werden beide Begriffe gleichgesetzt, ihre Bedeutung ist identisch, sie sind somit austauschbar. Ursprünglich stammt das Wort »Extraversion« aus der differenziellen Psychologie. Im wissenschaftlichen Kontext wird darum »extravertiert« verwendet und lange Zeit stand auch nur diese Variante im Duden. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist aber »extravertiert« als Gegenteil von »introvertiert« mittlerweile zugunsten von »extrovertiert« verdrängt worden. Daher verwende ich diesen Begriff hier im Buch.
Bist du introvertiert, dann bevorzugst du eher ruhige Umgebungen, machst beispielsweise einen entspannten Spaziergang durch den Wald oder setzt dich in eine Bibliothek. Große Menschenansammlungen bereiten dir Unbehagen, sodass du überfüllte Partys oder Clubs lieber meidest. Am wohlsten fühlst du dich entweder allein, mit der Familie oder im engsten Freundeskreis. Gern verbringst du Zeit mit deinem Partner oder in einer kleinen Freundesgruppe. Ein gemütlicher Abend mit vier bis sechs Freunden bereitet dir ebenso Freude wie ein entspannter Feierabend zu Hause allein in deiner Wohnung.
WAS SAGT DIE WELT DAZU?
Kein Wunder, dass introvertierte Menschen häufig still und zurückhaltend wirken. Sie agieren überlegt und nehmen oftmals die Rolle eines passiven Beobachters ein. In der heutigen Gesellschaft aber sind andere Werte auf den vorderen Plätzen der So-bist-du-richtig-Skala. Da kommt es vor allem darauf an, sich gut zu verkaufen. Aus diesem Grund werden einem Menschen, der sich gut darzustellen weiß, bessere Chancen zugesprochen. Das kennst du vielleicht und hast es selbst schon erlebt: Introvertierten wird eher eine Rolle als Außenseiter zugeschrieben. Aber stimmt das wirklich?
25 PROZENT SIND KEINE KLEINE GRUPPE
Die Fachliteratur gibt an, dass ungefähr ein Viertel der Menschheit introvertiert ist. Dabei unterscheiden sich die Angaben von Autor zu Autor, da sich genaue Zahlen kaum eruieren lassen. Auf jeden Fall ist klar: Die Introvertierten sind keine Minderheit.
INTROVERTIERTE PASSEN NICHT INS KLISCHEE
Wie Introvertierte wahrgenommen werden, kann ganz unterschiedlich sein. Bei manchen treffen typische Merkmale zu, bei anderen nicht. Deswegen werden Introvertierte von ihrer Umgebung oft gar nicht als solche gesehen. Man sagt zum Beispiel oft, dass sie nicht gern reden. Das scheint logisch, ist es aber nicht. Introvertierte Menschen reden in der Regel nämlich nur, wenn sie etwas zu sagen haben. Small Talk ist ihnen eher unangenehm, deshalb meiden sie ihn. Wenn allerdings ein Thema zur Sprache kommt, das dem Betreffenden liegt, hört er oft nicht mehr mit dem Reden auf. Auch ich kann dann reden wie ein Wasserfall. Keiner käme in so einer Situation darauf, es mit einer Introvertierten zu tun zu haben. Intros sind einfach weder alle über einen Kamm zu scheren, noch entsprechen sie gängigen Vorurteilen.
Ein historisches Beispiel
Als ich Kind war, sprach mein Vater oft über Mark Aurel und sein Werk »Selbstbetrachtungen«. Es war das erste philosophische Buch, das ich las. Es hat mich ebenso geprägt wie mein leiser Vater. Mark Aurel lebte von 121 bis 180 und war fast zwanzig Jahre lang römischer Kaiser und Feldherr. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte er vorwiegend auf Feldzügen, also in Grenzsituationen, die ihn tiefer über Leben und Sterben nachdenken ließen. So schrieb er seine Selbstgespräche in diesen letzten Jahren seines Lebens auf. Er thematisierte die Besinnung auf das richtige Handeln, das gute Leben, Grundfragen der menschlichen Existenz. Sein Werk dokumentiert das Bemühen des Herrschers, sein Leben verantwortungsvoll und gemäß der Natur des Menschen zu gestalten. Es zeugt von großer Weisheit und, wie mir scheint, von dem introvertierten Wesen seines Verfassers. Weil er mich so beeindruckt hat, habe ich mich entschieden, alle Zitate in diesem Buch von Mark Aurel zu borgen.
SCHAU NACH INNEN
Bist du introvertiert?
Im Folgenden findest du einige Aussagen, die für eine introvertierte Persönlichkeit sprechen. Es müssen nicht alle Punkte auf dich zutreffen, aber du solltest dich bei mehr als der Hälfte angesprochen fühlen. Je mehr Punkte du bejahst, desto stärker ausgeprägt ist deine Introversion.
1. Du brauchst regelmäßig Zeiten der Ruhe zum Auftanken.
2. Auf andere Menschen wirkst du eher schüchtern und zurückhaltend.
3. Du sprichst ungern über Gefühle. Probleme klärst du am liebsten mit dir selbst oder dem Partner. Oft fällt es dir schwer, dich zu öffnen.
4. Du benötigst nicht viele Freunde, um glücklich zu sein. Es ist dir wichtiger, enge und gute Freunde zu haben, als möglichst viele Leute zu kennen.
5. Du bist gern für dich allein und kannst dich auch über längere Zeit selbst beschäftigen. Du genießt das, es gibt dir Kraft und Kreativität.
6. Über Belanglosigkeiten musst du nicht sprechen.
7. Es fällt dir schwer, neue Freundschaften zu schließen.
8. Du überlegst gründlich, bevor du dich zu einer Aktivität entschließt. Deine Handlungen sind wohlüberlegt und gut durchdacht.
9. Du arbeitest gern in Eigenregie und unabhängig von anderen.
10. Bei zu viel Hektik und Trubel fühlst du dich nicht wohl. Du ziehst ruhige und geordnete Umgebungen vor.
11. Auf Feiern stehst du nicht gern im Mittelpunkt und bleibst eher passiv.
12. Du magst dein Leben geordnet und planst gern.
13. Du liest gern und bildest dich aus einem inneren Antrieb heraus fort.
14. Du giltst als guter Zuhörer, deine Ratschläge werden geschätzt.
15. Du analysierst dein Verhalten häufig und strebst danach, es immer so zu verändern, dass es dir gut geht.
»Es gibt für den Menschen keine geräuschlosere und ungestörtere Zufluchtsstätte als seine eigene Seele.«
MARK AUREL
MEIN WEG ZU MIR SELBST
Ich möchte dir gern ein paar Beispiele aus meiner Erfahrung mit dem Stärker-nach-innen-Leben erzählen. Als ich etwa zwanzig war, sollte ich einem Handwerker eine Reklamation nahebringen. Er hatte Rechnungen geschrieben, ohne die vereinbarten Arbeiten beendet zu haben. Mein damaliger Mann bat mich, ihn anzurufen und auf die fehlenden Leistungen hinzuweisen, denn erst wenn die abgeschlossen wären, könnten wir das Geld überweisen. Und was passierte? Ich saß tagelang vor dem Telefon und überlegte, was ich sagen sollte. Was kann ich tun, wenn er ruppig wird? Wie könnte ich auf Einwände reagieren? Ich spielte das alles endlos durch. Immer wenn mein Mann abends fragte, wie es in der Sache steht, sagte ich, ich mach das morgen. Tagelang, bis ich mich endlich traute, dort anzurufen. Es war dann gar nicht so schwer, wie ich befürchtet hatte. Das ist es nie!
Mein kurzes berufliches Intermezzo als Fotomodell vor der Kamera und auf ein paar Laufstegen dauerte nur ein halbes Jahr. Warum wohl? Ich zog es vor, hinter den Kulissen zu arbeiten anstatt im Rampenlicht. So wechselte ich in eine Modeagentur, in der ich dann einige Jahre arbeitete, ohne mit meiner leisen Weise besonders konfrontiert zu sein. Doch einige Jahre später hatte ich Vorträge zu halten und ich wollte Seminare leiten. Das fiel mir schwer. Richtig schwer! Meine Kleidung suchte ich zu solchen Anlässen so aus, dass mein Hals bedeckt war, denn ich hatte dort immer weithin sichtbare hektische rote Flecken. Der Stress vor der Öffentlichkeit hatte mich fest im Griff. Rollkragenpullover und Schals waren meine Verbündeten. Ich habe heute noch eine große Kollektion davon, auch wenn ich sie nicht mehr brauche.
Meine ersten Interviews vor einer Kamera bescherten mir in den Tagen vor dem Termin schlaflose Nächte. Was für ein Glück, wenn Maskenbildner und Visagisten ihr Handwerk beherrschen: Man konnte so den Angstschweiß auf meiner Stirn nicht sehen.
WOHER KOMMT’S?
Meine Familie ist eine Herde von introvertierten Menschen. Finde ich Ausnahmen, wenn ich über sie nachdenke? Nein, da kann ich lange suchen. Meine Eltern hatten und haben nur sehr wenige nahe Menschen in ihrer Umgebung. Sie leben ihre Liebe zur Literatur und zur Musik, sie haben keinen allzu engen Freundeskreis und keine zahllosen weiteren Bekannten, zu denen sie Kontakt pflegen. Niemand in meiner ganzen Herkunftsfamilie ist Mitglied in einem Verein. Keiner pflegt Hobbys oder Interessen, die Mannschaften oder Teams erfordern. Niemand war oder ist Unternehmer, sonst müssten ja Mitarbeiter geführt werden. Keiner trat je an die Öffentlichkeit und wurde wirklich sichtbar. Das war die Umgebung, in der ich aufwuchs.
Entsprechend suchte ich mir meine Interessenfelder, zum Beispiel im Sport. Zuerst war ich Schwimmerin, dann Reiterin. Später zog mich das Golfspielen an. Bei all dem hat mich fasziniert, dass ich immer selbst mein schärfster Gegner war. Kein anderer Mensch war da und ich musste bei keinem dieser Hobbys intensiv reden oder mich abstimmen. Und so wählte ich auch meine vielfältigen Arbeitsgebiete.
Ich bin heute froh, dass ich mir mein Leben so gestaltet habe, dass es perfekt auf mein Wesen abgestimmt ist. Warum passt es so gut zu mir, Blogs und Bücher zu schreiben? Weil ich dabei an meinem Schreibtisch in einer friedlichen, stillen Umgebung sitzen und meine Gedanken formulieren kann. Ja, ich brauche auch Gesprächspartner und ich habe sie in meinem Leben. Sehr wenige und sehr enge. Und wenn ich jetzt so über meine Freunde und mir nahe Menschen nachdenke: Viele von ihnen sind introvertierte Persönlichkeiten. Auch meine Lebens- und Liebespartner waren so. Das habe ich mir ausgesucht. Keiner von ihnen würde mich ändern wollen, keiner verurteilt meine Rückzugstendenzen in meine inneren Welten. Alle nehmen mich so, wie ich bin. Und das funktioniert auch umgekehrt.
Da fällt mir ein: Auch die Tiere meines Lebens waren sehr speziell. Egal ob Pferde, Hunde oder Katzen: Alle waren irgendwie anders, wenig kommunikativ, selbstgenügsam. Sie unterschieden sich deutlich von ihren Artgenossen. Und sie passten zu mir.
Wenn es einmal mit meinem Leben zu Ende geht, werde ich ganz sicher nicht in einem Seniorenheim beim gemeinschaftlichen Nachmittagskaffee aller Insassen glücklich sein. Da werde ich andere Lösungen finden. Das wissen auch meine Kinder und sie verstehen mich.
SCHAU NACH INNEN
Wie war es in deiner Familie?
Denk einmal zurück: Wie war es in deiner Kindheit? Warst du von anderen stilleren Menschen umgeben, denen du dich verwandt fühlen konntest? Oder warst du mit deiner leisen Art allein auf weiter Flur? Umgeben von temperamentvolleren Menschen, die sich über deine unauffälligere Wesensart nur kopfschüttelnd wunderten?