Читать книгу Auf die leise Weise - Anne Heintze - Страница 9
ОглавлениеANGEBOREN ODER ERLERNT?
Es ist eine spannende Frage: Wird Introvertiertheit über die Gene weitergegeben oder wird dieses Verhalten während der Sozialisationsphase erlernt? Studien zufolge sind die Verhaltensmuster Introversion und Extroversion angeboren. Beobachtungen an eineiigen Zwillingen, die getrennt voneinander aufgewachsen sind, haben gezeigt, dass trotz unterschiedlicher Umgebung und Erziehung ein ähnliches Verhaltensmuster zu erkennen ist. Die Untersuchungen deuten darauf hin, dass Introversion in den Genen verankert ist. Die Schlussfolgerung wurde noch untermauert, da zweieiige Zwillinge, die zusammen aufwuchsen, weniger häufig gleiche Merkmale bezüglich der Introversion aufwiesen. Die Erziehung scheint also keine so entscheidende Rolle zu spielen. Allerdings tragen die Erfahrungen in der Kindheit zur Stärke der Introversion bei und können nicht vollständig vernachlässigt werden.
KÖNNEN INTROS EXTROS WERDEN?
Manchmal kommen Menschen zu mir ins Coaching und bitten um eine »Therapie gegen Introversion«. Da dieses Persönlichkeitsmerkmal jedoch angeboren ist, kann kein grundlegender Wechsel in Richtung Extrovertiertheit erfolgen. Und wozu auch? Ein leiser Mensch zu sein hat viele Vorzüge, es bereichert die Welt.
Wenn du allerdings unter manchen deiner Verhaltensmuster leidest, dann solltest du dich aufmachen, die Stärken deiner Introversion zu entdecken und dich zu dem Menschen zu entwickeln, der als Potenzial in dir schlummert. Auch ich habe gelernt, locker mit Lebenssituationen und Anforderungen umzugehen, die Extrovertiertheit verlangen. Und ich weiß aus der Coachingerfahrung: Du kannst das auch!
Passiv und unsozial? Nein!
Introversion ist eine Persönlichkeitsausprägung, die eine Präferenz für die innere Welt beinhaltet: Man ist gern für sich, genießt die Ruhe und das Eintauchen ins Innenleben. In diesen Fragen besteht ein großer Unterschied zwischen den in der Allgemeinheit verbreiteten Assoziationen zu introvertierten Menschen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei vielen gilt ein Introvertierter als zurückgezogen, passiv oder gar unsozial. Diese vereinfachte Sichtweise deckt sich aber nicht mit vielfältigen Studienergebnissen. Ein guter Teil der Intros ist nämlich gern mit anderen Menschen zusammen und verfügt über einen stabilen Freundeskreis. Was diese Menschen nur brauchen, ist eine Rückzugsmöglichkeit, wo sie aus der Ruhe wieder Kraft tanken können. Aus meiner Erfahrung kann ich ebenso wenig bestätigen, dass Intros passiv oder unsozial sind. Das ist nichts als ein grobes Vorurteil von Menschen, denen es nicht so wichtig ist, auch mal für sich zu sein.
Obwohl die Introversion ein Leben lang relativ stabil bleibt, hast du die Möglichkeit, deine Verhaltensmuster klarer zu erkennen und sogar zu durchbrechen. Du entscheidest selbst, ob du offen auf andere Menschen zugehen und vor größeren Personengruppen sprechen willst. Wenn du deine eigenen Stärken erkennst und dich auf sie konzentrierst, kannst du die Ausprägung der Introversion dort ändern, wo sie dich stört, und somit neue Erfahrungen sammeln. Versuch aber nicht, sie komplett wegzuwerfen. Nicht nur, weil das gar nicht möglich wäre. Sondern weil du damit deinem Wesen nicht gerecht würdest. Du wirst dir beispielsweise immer ausreichend Zeit für dich selbst nehmen müssen, um gesund und ausgeglichen zu bleiben. Du kannst als introvertierter Mensch aktiv und mit deiner ganzen Leidenschaft am sozialen Leben teilnehmen und zugleich benötigst du relativ viel Zeit für dich allein, um neue Kraft zu tanken und frische Ideen zu kreieren.
REINFORMEN GIBT ES NICHT
Ich habe gelernt, zum extrovertierten Sein zu switchen, solange es nur kurzfristig ist und ich mich dann wieder zurückziehen kann. Genau genommen haben die meisten Menschen sowohl Eigenschaften von Intros als auch von Extros. Die Ausprägung ist jedoch unterschiedlich, sodass einige eben als Introvertierte und andere als Extrovertierte gelten. Du kannst dir dies als eine Skala vorstellen, wobei die Unterteilung nach dem Energiegewinn erfolgt. Am einen Ende der Skala wird die Kraft aus dem Inneren bezogen – dort sind die stark Introvertierten zu Hause. Am anderen Ende erfolgt der Kraftgewinn von außen – hier haben die stark Extrovertierten ihren Platz.
Deine Heimat auf dieser Skala ist nicht unverrückbar, du kannst sie ebenso verlagern lernen, wie ich es getan habe. Schon C. G. Jung beschrieb, wie jeder in einem gewissen Rahmen sein Verhalten anpassen kann. So kann also auch ein Intro gelegentlich eine extrovertierte Phase haben, die Stunden oder Tage anhält. Dies ist beispielsweise in beruflichen Situationen oftmals einfach nötig. Allerdings sollten Intros dabei ihre Grenzen beachten, um sich nicht zu überfordern und somit zu schwächen. Zwar ist es für einen leisen Menschen möglich, jeden Tag mit Meetings zu verbringen oder jedes Wochenende die Nächte auf Partys durchzufeiern, doch die Energie wäre dabei schnell aufgebraucht. Ausreichend Freiräume bleiben wichtig.
INTRO, EXTRO, GLEICHWERTIG
Es lässt sich nicht sagen, welcher Typ besser ist. Eines ist jedoch sicher: In unserer Gesellschaft wird Extroversion als erstrebenswert angesehen und Introversion kann oft sogar zum Problem werden. Dies ist jedoch nur eine lang eingeübte Gewohnheit – und jeder Intro kann aktiv mithelfen, sie zu verändern. Dies passiert von ganz allein, wenn du zu deiner Wesensart stehst und deine Persönlichkeit zum Blühen bringst: im optimalen Betätigungsfeld und auf deine ganz eigene leise Weise.
SIND SIE ALLE SCHÜCHTERN?
Was ist nun eigentlich der Unterschied zwischen Introversion und Schüchternheit? Oft wird beides nämlich in den gleichen Topf geworfen. Dort aber gehört es nicht hin, denn nicht alle Intros sind schüchtern. Im Wesentlichen beziehen sie ihre Kraft aus ihrer Innenwelt, sind gern allein und schätzen Rückzugsmöglichkeiten. Sie brauchen nicht viele Menschen um sich herum und sind sich selbst genug. Das alles lässt sie auf andere schüchtern wirken. Aber sie sind meist freiwillig für sich allein, nicht weil sie nicht anders könnten.
Schüchterne wünschen sich im Gegensatz dazu den Kontakt mit anderen, können aber nicht aus ihrem – oft als unangenehm empfundenen – Schneckenhaus heraus. Sie trauen sich selbst nicht zu, Begegnungen zu initiieren, oder entwickeln sogar Ängste und Panikzustände, wenn sie auf andere Menschen zugehen sollen. Schüchterne wünschen sich oft mehr Freunde, mehr Austausch, können aber nicht aktiv werden. Darüber hinaus haben sie häufig Angst vor Zurückweisung. Deswegen wirken sie für Außenstehende ebenso zurückhaltend und ruhig wie introvertierte Menschen. Der Unterschied ist also, dass es Schüchterne wirklich quält, so zurückhaltend zu sein. Natürlich gibt es nicht wenige Menschen, die sowohl introvertiert als auch schüchtern sind. Für sie heißt die gute Nachricht: Die Introversion steckt voller Vorteile und die Schüchternheit lässt sich überwinden (ab >).
»Derjenige allein ist arm, der an sich selbst nicht glaubt.«
MARK AUREL
WIRKE NACH AUSSEN
Gestalte aktiv
Wenn du introvertiert bist, kannst du all dein Wissen darüber für deinen Alltag nutzen. Immer ergeben sich sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld zahlreiche Möglichkeiten, das Leben aktiv zu gestalten – genauso wie du es brauchst und willst. Sicherlich ist es in einigen Situationen hinderlich, introvertiert zu sein, aber du kannst sie gezielt trainieren.
Dir fällt es schwer, auf Menschen zuzugehen? Dann ist es hilfreich, in Gedanken ein Muster für den Small Talk bereitzulegen (ab >). Spiel verschiedene Situationen durch und überleg dir im Vorfeld geeignete Gesprächsthemen. Dadurch gewinnst du an Sicherheit und wirkst weniger schüchtern, handelst jedoch nicht gegen deine Natur.
Du arbeitest in einem stressigen Job und hast jeden Tag Kontakt zu vielen neuen Menschen? Dann schaff dir Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten. Delegier Aufgaben, bring Routine in den Alltag und erhalt dir möglichst viel Unabhängigkeit. Nutz die Freizeit, um neue Kraft zu tanken.
Du hast das Gefühl, der Welt etwas Wundervolles geben zu können, traust dich aber nicht, es laut herauszuposaunen? Arbeite weiter daran, deine Bestimmung zu finden und dir über deine Gaben klar zu werden. Lass dich Schritt für Schritt von deiner Vision tragen, sie gibt dir die Kraft, dich auch vor anderen Menschen mit dem, was du kannst, zu zeigen. Es muss nicht laut sein. Was richtig gut ist, wird gehört.
In den weiteren Kapiteln findest du detailliertere praktische Hinweise. Du siehst, dass du auch als introvertierter Mensch dein Leben so gestalten kannst, dass deine guten Seiten aufleben und die Schwächen nicht negativ zum Tragen kommen. Du bist in deinen Aktivitäten nicht eingeschränkt. Wenn du deine Eigenheiten kennst und dein Verhalten anpasst, ist fast alles möglich.