Читать книгу Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden - Anne Neunzig - Страница 30
5.13 Totalitätsanspruch
ОглавлениеDer Totalitätsanspruch der Gesamt-HJ vollzog sich auf unterschiedlichen Ebenen. So formulierte Schirach in seinem 1934 erschienen Buch zur Staatsjugendorganisation folgendermaßen: „Die HJ will sowohl die Gesamtheit der Jugend, wie auch den gesamten Lebensbereich des jungen Deutschen erfassen.“288 Dieser Forderung kam Schirach durch die Gleichschaltung und Auflösung konkurrierender Jugendorganisationen nach. Kurz nach seiner Ernennung zum Reichsjugendführer des Deutschen Reiches am 17. Juni 1933 (seit 30. Oktober 1931 Reichsjugendführer der NSDAP) begannen die Nationalsozialisten, jüdische und sozialistische Jugendverbände aus dem Reichsausschuss auszuschließen, gefolgt von den politischen und kirchlichen Verbänden.289 Die durch Zwangsmaßnahmen abgeschaffte Konkurrenz ermöglichte einen schnellen Anstieg der Mitgliedszahlen in HJ und BDM in der Folgezeit.
Als weitere Maßnahme galt die Gleichstellung der Erziehungsinstitutionen Gesamt-HJ, Elternhaus und Schule als „Träger der völkischen Erziehungsgedanken“290. Um einen Konflikt zwischen den einzelnen Institutionen zu vermeiden, erhielt jede Einheit ihre eigenen Aufgaben und Bereiche zugeteilt. So sollte ein „sinnvolles Zusammenwirken“, gegründet auf gegenseitige „gute Beziehungen“ und „Einblicke in die Arbeit“291 der jeweiligen anderen Institutionen entstehen.
Die Einteilung sah folgendermaßen aus: das Elternhaus war für die grundlegenden Erziehungsfragen zuständig, die Schule sollte auf Basis des nationalsozialistischen Gedankenguts unterrichten und die Hitlerjugend Werte wie kameradschaftliche Haltung, Gemeinschaftsgedanken und Führungsfähigkeit entwickeln.292
Den Eltern wurde gleichsam nahe gelegt, ihre Kinder im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung zu erziehen. Hitler definierte in einer Rede die „Familie als Keimzelle unseres Volks- und Staatskörpers“293 und ein Großteil der Eltern folgte bereitwillig seinen Vorstellungen, da das politischideologische Gedankengut der Nationalsozialisten fast alle Bereiche des Lebens durchdrungen hatte.
Es gab aber auch Eltern die versuchten, ihre Kinder vor den Einflüssen des Nationalsozialismus zu schützen.
Das Elternhaus blieb in damaliger Zeit die letzte Institution, in der es möglich war, individuelle Vorstellungen bezüglich Weltanschauung und Erziehung zu leben. Da jene jedoch im Widerspruch zu der nationalsozialistischen Gesinnung stehen konnten, versuchten die Führer/innen aus HJ und BDM, die Kinder in zunehmendem Maß dem Einfluss ihrer Elternhäuser zu entziehen. Sie sollten sich mehr der Staatsjugendorganisation verbunden und zugehörig fühlen, als dem eigenen Elternhaus. Des Weiteren wurden Kinder dahingehend beeinflusst, ihre eigenen Eltern bei Verstößen oder Äußerungen gegen das nationalsozialistische Regime anzuzeigen, wodurch ein psychologisch problematisches System des Denunziantentums erzeugt wurde.
Zwar fanden die Erziehungsgedanken der Nationalsozialisten Eingang in die schulischen Lehrpläne, doch wurde eine scharfe Trennung zwischen der Staatsjugendorganisation und der Lehrerschaft gezogen, da laut nationalsozialistischer Meinung „Lehren und Führen“294 grundsätzlich unterschiedliche Kategorien seien. Hinzu kam, dass kognitive Fertigkeiten im Nationalsozialismus nur gering geschätzt wurden, d. h. der Institution Schule ohnehin ein niederer Stellenwert eingeräumt wurde. Schwierigkeiten erhielten vor allem die Lehrer, die sich nicht dem NS-Gedankengut verschrieben hatten bzw. sich entsprechend opportun verhielten. Sie wurden oft mit einem Berufsverbot aus dem Schuldienst entlassen.295
Zu komplizierten Verhältnissen kam es bisweilen auch, wenn in einer Schulklasse Jugendführer/innen der HJ oder des BDM innerhalb der nationalsozialistischen Dienstgrade höher gestuft waren als die Lehrkraft, infolgedessen befugt waren, diese zu maßregeln. Um es nicht zu Kompetenzstreitigkeiten kommen zu lassen, wurden die Lehrer angewiesen, in einem derartigen Fall dem jeweiligen Jugendführer das nötige Taktgefühl entgegenzubringen und nicht dessen Autorität vor seinen Kameraden in Frage zu stellen.296
Entsprechend der vielfältigen Vorgaben wurde die Woche für die Kinder und Jugendlichen genau strukturiert in fünf Schul- bzw. Arbeitstage, einen Tag für HJ/BDM und staatspolitischer Bildung und den siebten Tag für die Familie.297 Das Leben der Jugendlichen wurde durch diese Einbindung und die permanente Bevormundung seitens ihrer Führer/innen in derart festgelegte Bahnen gelenkt, dass eine eigenständige, individuelle Entwicklung kaum möglich war. 298
Abb. 29: Schüler mit Lehrer in Winterdorf 1937, 13 von 37 Schülern sind in HJ-Kleidung
Abb. 30: Schülerinnen mit Lehrer in Wintersdorf 1937, 19 von 37 Schülerinnen in BDM-Kleidung