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Der Zehn-Stunden-Stau

CHAKAI

Anne | Der höchste Sieg Pakistans im Fußball war ein 7 : 0 gegen Thailand im Jahre 1960, nur getoppt vom 9 : 2 gegen Guam im April 2008. Ich habe keines der beiden Spiele verfolgt. Und auch sonst ist Fußball in Pakistan eher raus. Die Nation ist ein Cricket-Land und das, obwohl 75 Prozent aller Fußbälle in Pakistan produziert werden.

Beim ersten Stopp unserer 18-Stunden Fahrt in den Norden landen wir drei auf eiskalten Metallstühlen. Vor uns Holztische, die liebevoll mit nach altem Waschlappen riechenden Plastikdecken bezogen wurden. Auf jedem Tisch stehen rote Wasserkanister, deren Inhalt uns ganz sicher den schnellstmöglichen Klobesuch bescheren würde. Clemens und Flo sitzen mir gegenüber. Wir machen dumme Scherze. Solche, die man nur macht, wenn man nicht weiß, wohin mit seinen Gefühlen. Man sagt ja, nach müde kommt dämlich. Ich glaube, nach Unsicherheit kommt Dummheit.

Als das heiße Paratha-Brot an unseren gelb bezogenen Tisch gebracht wird, fühle ich mich wie bei der Fütterung hungriger Wölfe. Wir reißen uns mit der rechten Hand ein Stück der Teiglinge ab und stopfen sie uns so hastig in den Mund, als hätten wir stundenlang nichts mehr gegessen. Wie abgesprochen sitzt der gesamte Bus in der gleichen Reihenfolge – nur eben auf harten Hockern, statt durchgesessenen Polstern. Hinter uns die bärtigen Männer mit ihren strahlenden Turbanen, am anderen Ende die Frau mit ihrem Säugling.

»Gut?«, rufen uns die beiden Männer zu. Sie müssen uns beobachtet haben.

»Ja, sehr«, antwortet Clemens und zaubert den beiden ein Grinsen ins Gesicht. Das Eis ist gebrochen. Diesmal durch heißes Brot, ein paar Kilometer hinter Abbottabad.

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Pakistan-Lektion #10: Zum Essen, Überreichen und Entgegennehmen niemals die linke Hand benutzen, denn sie gilt als unrein.

Clemens | Ein lauter Knall an der Fensterscheibe reißt mich ruppig aus dem Schlaf. Dann noch einer und noch einer. Ich schiebe den festen Stoff der Gardinen beiseite und kneife reflexartig meine Augen zusammen. Gleißend helles Licht schießt in mein Gesicht. Wie im schmalen 4:3-Format eines Röhrenfernsehers sehe ich, dass eine Gruppe von Männern Steine gegen unseren Bus wirft.

Es ist kurz vor halb eins am Mittag und damit genau zehn Stunden her, dass unsere Busfahrt ein überraschendes Ende fand. Mitten in der Nacht hielten wir an, auf einem engen Gebirgspass auf halbem Weg nach Gilgit. Im Dunkel der Nacht war nicht auszumachen, was los war. Nur die Umrisse einer Autokolonne konnte ich erkennen, darunter Pkws, Reisebusse und monströse Trucks. Und irgendwann schlief ich ein, ohne dass wir uns weiterbewegt hatten.

Inzwischen steht die Tür offen und lockt mit dem Geruch von Freiheit. Tatsächlich kann ich mir gerade nichts Erfrischenderes vorstellen als Bergluft. Alle anderen Passagiere haben den Bus schon verlassen.

»Erdrutsch«, beantwortet der Busfahrer meinen fragenden Gesichtsausdruck. Ein Bein angewinkelt, lehnt er an der Seite des Busses. Dass ihm die eingefahrene Situation reichlich egal ist, unterstreicht er mit einem Schulterzucken und zusammengepressten Lippen. Busse haben in Pakistan feste Abfahrtszeiten, aber nie eine feste Ankunftszeit. Jetzt weiß ich warum. Im EU-Recht heißt es: Ist die Strecke länger als 250 Kilometer und beträgt die Verspätung mehr als zwei Stunden, so ist das Busunternehmen verpflichtet, eine Entschädigung zu zahlen. Doch ich bezweifle, dass ich mit diesem Anliegen in Pakistan weit kommen würde. Zumal es sich auch noch um äußere Umstände handelt.

Ein endloser Stau zieht sich kilometerweit den Berg entlang bis zu einer bestimmt zwei Kilometer entfernten Bergkuppe. Ob er dahinter weitergeht? Das kann ich nicht erkennen.

Hunderte Menschen vertreiben sich entlang der Straße die Zeit. Männer, verschleierte Frauen, Kinder. Jemand führt einen Esel Gassi. Viele haben kapituliert und füllen die unvorhergesehene Wartepause mit improvisierten Tätigkeiten. Die einen sind in ein Kartenspiel vertieft, andere hören auf alten koreanischen Klapphandys laut Musik, und wieder andere schlafen noch. Nämlich genau zwei: Anne und Flo.

Auf der anderen Seite der Kolonne wird gejubelt. Ich schlüpfe zwischen einem Pick-up und einem Viehtransporter hindurch und treffe auf eine kahle Felswand, vor der sich ein ebener, steiniger Untergrund befindet. Darauf stehen Männer unterschiedlichsten Alters im Kreis und klatschen begeistert. In ihrer Mitte steht ein Teenager, der mit einem Stock gegen einen Ball schlägt, der ihm gerade entgegenfliegt. Jetzt erkenne ich auch den Werfer auf der anderen Seite.

Das Spiel scheint von oben bis unten improvisiert. Während das Spielfeld mit Schlappen abgegrenzt ist, wird zum Schlagen des Balls ein derart krummer Ast verwendet, dass es für mich völlig unverständlich ist, wie der Junge damit überhaupt treffen kann. Aber er kann. Und wie! Der Ball fliegt über den Werfer hinaus und über die Köpfe der Zuschauer, die beim Ducken abermals in Jubel verfallen.

Wie mir der Busfahrer erklärt, heißt der Werfer beim Cricket eigentlich Bowler und der Fänger Batsman. Der Bowler will den Batsman zu einem Fehler bewegen, damit dieser ausscheidet. Der wiederum versucht den Ball möglichst kräftig wegzuschlagen, um Punkte zu erzielen, einen sogenannten Run. Der Bowler wird durch die anderen Feldspieler unterstützt, die den Ball so schnell wie möglich zurückzubringen versuchen. Wenn sie nicht gerade lauthals jubeln und klatschen.

Wieder ein Schlag, wieder ein Mann, der hektisch einem Ball hinterherrennt, wieder Jubel. Dann ein lautes Hupen, wie ein Startschuss, der von den Felswänden als Echo zurückkommt. Alles, was Beine hat, ist in Bewegung. Es wirkt, als würde ein ganzes Dorf über die Bergstraße rennen. Das Cricketspiel ist schnell aufgelöst. Spieler werden wieder zu Fremden, Zuschauer zu Buspassagieren und der Cricketschläger zum Ast, der hastig auf den Boden geworfen wird. Tumultartig rennen alle kreuz und quer zu ihren Bussen. Das sollte ich schleunigst auch mal machen. Welcher war meiner noch mal?

»Kommst du?« Anne steht in der Tür und winkt mir hektisch zu. Genauso überraschend, wie sich der Stau mitten in der Nacht bildete, löst er sich jetzt auf. Die Karawane gerät in Bewegung und arbeitet sich in mühsamen Schritten die Serpentinen entlang.

Anne | Wir sind noch weit entfernt von unserem Ziel. Die Landschaft um uns herum wirkt karg und das, obwohl sich zwischen den grauen Bergen ab und an glänzend türkisfarbene Flüsse den Weg bahnen. Die einzigen Farbflecken im hohen Norden Pakistans sind die Trucks, die gekonnt die Serpentinen rauf- und runterfahren. Sie sind wild gemustert und viel zu hoch – an jeder deutschen Autobahnbrücke würden sie zum Cabrio gemacht. Auf ihren gewellten Containern lachen uns die Gesichter pakistanischer Größen an. Mal ist es Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah, mal der riesige weiße Halbmond auf einer dunkelgrünen Unterfläche, die Flagge Pakistans. Zwischendrin ranken sich gemalte Blumen über den Koloss, Fantasievögel fliegen an Jinnahs Kopf vorbei, bis die Neonfarben des Trucks sich zu einem großen Ganzen formen, das in Goa alle zum Ausrasten bringen würde. Hinter einem viel zu großen Lenkrad hüpft ein kleiner und vor allem junger pakistanischer Fahrer auf seinem roten Polstersitz im Motorentakt nach oben und unten. Dass über ihm die mit arabischen Zeichen verzierte Metallplatte apathisch wackelt, scheint ihn nicht zu stören. Er heizt an uns vorbei, hinterlässt eine dicke Abgaswolke und den von seinem Heck grüßenden Schriftzug ›Inshallah‹, so Gott will.

Gerade will Gott, dass wir stehen bleiben, und zwar in einem kleinen Bergdorf, das scheint, als wäre es in die kahlen Felsen hineingebaut worden. Rechts und links entlang des Highways N15 ragen Holzdächer hervor, darunter stehen zu Tischen umfunktionierte Holzplatten, auf denen Süßigkeiten, Snacks und Taschentücher verkauft werden. Mit ihren improvisierten Holzbalken und den Hütten, die mit alten Mehlsäcken und Planen geschützt werden, wirkt das Dorf wie eine Welt aus einem Science-Fiction-Roman. Eine, in der Menschen in langen Gewändern von Haus zu Haus gehen und dabei von rechts nach links, von oben nach unten klettern.

Geparkt wird auf einem kleinen Hof zwischen Daewoo BF106, BH119 und BS090. Einer ist grün, einer silbern und einer blau, so wie unserer. Zu viert bilden sie eine so hohe Mauer, dass mir kaum auffällt, wie hoch wir eigentlich schon sind. Unter uns breitet sich ein Tal aus, in dem nichts außer ein paar kleinen Wasserströmen die Landschaft aufpeppt.

»Chalo!«, rufen uns die beiden Männer mit den Turbanen zu, als sie sich einer der Hütten nähern. Die Finger ihrer rechten Hand drücken sie dabei zusammen und führen sie energisch zum Mund. Übersetzt aus Urdu heißt chalo »Los geht’s« und hat damit die gleiche Wirkung wie das spanische vamos und das arabische yallah. Es bringt die Gruppe in Bewegung.

Unser Bus sitzt versammelt um kleine Tische herum. Schalen mit Reis, Fleisch und Brot werden nach und nach verteilt. Es ist das beste lieblos hingepfefferte Essen, das ich in den letzten 18 Stunden hatte. Und das, obwohl nach dem ersten Bissen der Strom ausfällt und wir im stockdunklen Raum sitzen und die Kichererbsen kaum von Reiskörnern unterscheiden können. Nach und nach leuchten die Taschenlampen alter Handys auf den Tischen. Wir sind eben doch eine kleine Familie.

Clemens | Es ist 19:30 Uhr als der Muezzin zum Gebet ruft. Wir sind jetzt seit mehr als 21 Stunden unterwegs. Das Gebet kommt außerplanmäßig. Doch in den Bergen ticken die Uhren anders. In den Tiefen des pakistanischen Gebirges ruft er nicht etwa durch ein Mikrofon aus einem Minarett heraus, sondern nur mit der Kraft der eigenen Stimme. Ein Mann mit einem ordentlich prallen Bauch steht inmitten der Menschen vor dem Restaurant, formt mit seinen dicken Händen einen Trichter vor seinen Mund, nimmt einmal tief Luft und ruft zum Gebet. Muezzin unplugged. Seine kräftige Stimme hallt durch die Gruppe, die alle Gespräche abrupt einstellt.

Backpacking in Pakistan

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