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Woher kam der Gesang? An dem offenen Fenster, wo Sperber stand und in den dämmerigen, feuchten Himmel schaute, war fern, fern eine Stimme zu hören oder fast nicht zu hören, hell wie die eines Sängerknaben, ein Engelszirpen, von dem er, als es nicht aufhören wollte, sich fragte, ob es nicht seinen eigenen Ohren entsprang. Fledermäuse tanzten durch die Luft, in jenem chaotischen Hierhin und Dorthin, das so wenig gemein hat mit dem Flug gleich welchen Vogels. Das Fledermausfliegen war ein spielerisches Taumeln, unkoordiniert war es, aber nur zum Schein, und von einer nicht zu lindernden Unruhe, ein Durch-den-Himmel-Jagen wie in Todesangst, auf der Flucht vor einem unsichtbaren Verfolger, eine Anspannung aller Kräfte, ohne Pause, die ganze Zeit. Spitz waren die schwarzen Schlenker und Kehrtwendungen, hineingekratzt in das weiche, unscharfe Licht der Dämmerung. Wenn sie dicht an seinem Fenster vorüberflogen, hörte Sperber ihre Flügel leise und hektisch aneinanderschlagen. Und einen Augenblick lang schien es ihm, als wollten ihn die Fledermäuse verhöhnen. Sie gaben sich als Trinker aus, täuschten vor, und das tagtäglich und zu fester Stunde, sternhagelvoll durch den Himmel zu torkeln.

Sperber war betrunken. Er war entschlossen, keine Begegnung mit der goldumkränzten Frau mehr zu suchen, sie nicht weiter zu verfolgen, ja, nicht mehr an sie zu denken.

Er hatte noch Durst, aber nichts mehr zu trinken. Als er die Außentreppe hinunterstieg, um eine offene Bar zu finden, strich ihm eine letzte kleine Fledermaus wie zum Abschied beinahe übers Haar, so dicht flog sie über ihn hinweg.

War er nicht einer, wie es viele gab? Er begegnete ihnen ja auf seinen täglichen Gängen, jenen noch nicht alten Männern, die ihre Arbeit verloren hatten und keine neue mehr fanden, die mit einer kleinen Rente oder einem staatlichen Almosen durch die Tage und die restlichen Jahre kamen. Ihre Frauen waren irgendwann aus ihrem Leben verschwunden; spätestens danach hatten sie zu trinken angefangen. Er sah sie durch die Stadt laufen in ihren ausgeblichenen, selbst gebügelten Hemden, den Glücklicheren unter ihnen, zu denen Sperber gehörte, war noch kein Vorderzahn ausgefallen. Und nun sollte er also auserwählt worden sein? Sollte statt eines Goldzahnes eine goldene Fee bekommen?

Wütend kämpfte er gegen seine Gedanken an, wollte ihnen seinen Willen aufzwingen, aber wie sich nach einem Wortgefecht die eigenen Behauptungen und die Erwiderungen des anderen noch einmal abspulen, durchlebte er alle Einzelheiten seiner zwei stummen Begegnungen mit der blonden Frau wieder und wieder. Die Nacht war mild und diesig, er war hellwach.

In der seiner Wohnung am nächsten gelegenen Bar, L’Escale, bestellte er am Tresen einen Calvados. Ein dicklicher Halbwüchsiger, der neben ihm vor einem Glas Bier stand und auf den Bildschirm unter der Decke blickte, zeigte Sperber sein von eitrigen Pusteln überzogenes Profil und ein fleischiges, unter gelverschmiertem Haar hervorschauendes Ohr. Als der Junge sich einer Gruppe von Gleichaltrigen zuwandte, sah Sperber auf dem Rücken seines schwarzen T-Shirts eine nackte Frau, die in einer lasziven Striptease-Pose ihr Kreuz durchdrückte, die Brüste nach vorne, den Hintern zurückschiebend, als wären es zwei verfeindete Paare, zwischen die es gelte, den größtmöglichen Abstand zu bringen. Unter der nackten Silhouette stand in weißer Schrift zu lesen: I only sleep with the best.

Der Alkohol brannte sich durch Sperbers Hals und Brust. Auf dem Bildschirm bewegte der Reporter stumm die Lippen, neben sich weinende Menschen und zerbombte Häuser. Sperber bestellte noch einen Calvados und verfiel in einen seiner qualvollsten Ticks, den es ihm sonst meistens zu verscheuchen gelang: das Zählen seiner Atemzüge.

Als er aufwachte, im Dunkeln, lag sie neben ihm. Wie war sie hereingekommen? Hatte er die Tür nicht abgeschlossen, als er im Rausch heimgekehrt war? Oder hatte er sie gar in der Bar getroffen und mitgenommen?

Er spürte die Wärme, die sie abstrahlte, tastete vorsichtig nach der zackigen Form unter dem Laken, die, von ihm abgewandt, auf der Seite ruhte. Wo ihr Haar liegen musste, fühlte er eine weiche, nach frischem Harz riechende, warme Masse, ein Nest, in das er sein Gesicht versinken lassen wollte. Und während er mit schwerem Kopf ihrem gleichmäßigen, von ihrer völligen Gemütsruhe zeugenden Atem lauschte, überkam ihn wieder seine gestrige Wut und die Gewissheit, dass die blonde Fremde ihn zum Narren hielt, und mit dem Zorn ergriff ihn eine namenlose Begierde, die Begierde aller einsamen Nächte, die er in diesem Zimmer verbracht hatte. Als müsse er sich an ihr, die sich ihm ausgeliefert hatte, nicht nur für alle je erlittenen, sondern auch für alle je von ihm beigebrachten Demütigungen, für seine eigenen Verfehlungen und Torheiten und für seine Bitterkeit rächen, fiel er über die Liegende her.

Schnell war sie herausgerissen aus dem bewusstlosen Gleichmut, der ihn so in Rage gebracht hatte, und wieder bei Sinnen. Sie wehrte sich, stemmte sich gegen ihn mit allen Kräften, aber außer einem erstickten Kampfgeräusch, einem Ächzen vor Anstrengung, kam kein Laut über ihre Lippen. Sie war nicht stark genug, oder war sein Ingrimm größer als ihrer? Wenige Augenblicke später war alles vorbei.

Taub und zerschunden lagen sie nebeneinander, ein kleines, gekrümmtes, zur Festung gerundetes Gebilde und ein Gekreuzigter mit dröhnendem Schädel und klopfenden Lidern.

Als er wieder aufwachte, schien sie sich nicht einen Millimeter bewegt zu haben. An den Fensterläden, die niemand zugeklappt hatte, rüttelte der Wind; auf den verstreuten Kleiderarchipel am Boden fielen einzelne, kräftige Sonnenstrahlen. Und noch bevor Sperber sich vollständig aus dem zähen Morast des Schlafes befreit hatte, nahm er die dunkelrote Haarmasse in sein Bewusstsein auf, die sich neben seinem Kopf wie ein Blutfleck ausbreitete.

Langsam griff er hinein in das sonnenwarme Schlangennest, ließ die roten Locken durch seine Finger fließen. Unter dem Laken begann die Festung sich zu regen und aufzulösen, ein nackter Oberkörper wurde sichtbar, richtete sich auf. Einen Moment lang blieb die Frau, Sperber ihren weißen, runden Rücken zuwendend, auf der Bettkante sitzen, dann stand sie auf, um ihre Kleider zusammenzusuchen; mit müden, kraftlosen Bewegungen stieg sie in ihre Hose, drehte den Pullover auf die richtige Seite. Nur einmal, bevor sie die Tür öffnete und leise, fast lautlos hinter sich zuzog, kam ihr Gesicht kurz zum Vorschein. Es war, wie Sperber nun endgültig wahrhaben musste, das traurige, aufgedunsene Gesicht mit den blassen Sommersprossen und den vorstehenden, wie verständnislos blickenden Augen von Heather, der Engländerin.

Heather lebte seit vielen Jahren im Ort. Seitdem der bretonische Gastwirt, mit dem sie verheiratet gewesen war, mit einer jungen Bedienung in die Hauptstadt verschwunden war und sie mit ihren Kindern zurückgelassen hatte, betrieb sie einen Laden, in dem sie »maritime Geschenkartikel« englischer Fabrikation verkaufte, Clipper- und Bulkhead-Lampen, messingbeschlagene Schiffsschränke, Sextanten und Oktanten, Himmelskarten, Barografen und Hydrometer. Wie Sperber selbst gehörte sie zu den regelmäßigen Gästen der Bar L’Escale, wo er aber kaum jemals ein Wort mit ihr gewechselt, höchstens in größerer Runde einige Male mit ihr und anderen zusammengestanden hatte. Allenfalls war ihm aufgefallen, vielmehr fiel es ihm wohl erst rückblickend auf, dass sie ihn manchmal freundlich-scheu angesehen hatte aus ihren fragenden Bullaugen. Er konnte sich nicht erinnern, sie am Vorabend gesehen, geschweige denn in ihrer Begleitung das Lokal verlassen zu haben; wahrscheinlich war er schon zu betrunken gewesen, als er dort ankam.

Was in der Nacht geschehen war, sein stierartiger Angriff im Schutz des Dunkels, in der altbewährten Immunität des Alkoholrausches, tauchte nun erst aus dem Nebel seines Bewusstseins wieder auf und erfüllte ihn mit einer glühenden Scham, als hätte er sich an einem Schutzengel vergriffen. Denn er wusste inzwischen klar und deutlich, dass Heathers Blicke schon oft auf ihm geruht hatten, weder einladend noch gar provozierend oder flehend, sondern umsichtig-zärtlich und schonungsvoll.

Tal der Herrlichkeiten

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