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Der Wind – eine Art Aspirin, das die nordatlantische Küste ihren Säufern unentgeltlich liefert – blies parallel zur Küste, so kräftig, dass man, den Strand entlanglaufend, sich entweder gegen ihn stemmen musste oder von ihm vorwärtsgeschoben wurde. Slapstickhaft vorgeneigt ging Sperber ihm entgegen, über seinem Kopf einzelne, tragische Schreie ausstoßende Möwen, die aus mysteriösen Gründen von den Sturmböen nicht davongeweht wurden. Seinen unsichtbaren Gegner Schritt für Schritt zurückdrängend, schob er sich vorwärts, nur mit einer leichten Hose und einem Hemd bekleidet, das sich in seinem Rücken zu einem grotesken Höcker aufblähte. In der Gegenrichtungwaren Millionen runder Algensamen unterwegs, flach flogen die braunen Kügelchen über den Sand, eilten in endlosen Zügen den Strand entlang, eine Völkerwanderung, von der niemand wusste, wo sie begonnen hatte und wo sie enden würde.

Es war noch Frühling, ein gewaltsamer, wuchtiger, beißender Frühling, das Meer dröhnte und schäumte, die grüngelben Zypressen standen verrenkt und gichtig über die spärlichen Gräser gebeugt. Sperber begann zu rennen, er rannte und rannte, als wollte er die Harpyien in ihre Höhle zurückdrängen, und kam doch kaum vom Fleck. Tränen rannen ihm waagerecht über die Schläfen, wie im Zeitraffer flogen grauweiße Wolkenbänke oder Schaumfetzen über ihn hin. Vielleicht sah ihn jemand in einem vorüberfahrenden Auto von der Strandstraße aus rennen, seht mal, ein Irrsinniger, würde er zu seinen auf dem Rücksitz kartenspielenden Kindern sagen. Der Wind stach ihm in die Augen und nahm ihm die Sicht, seine Beine wollten die Richtung nicht mehr halten und trugen ihn ins undurchsichtige schwarzgrüne Wasser und in die nächste anrollende Welle hinein, die sich, zornig, dass es hier nicht weiterging, aufbrüllend am Festland brach.

Die Welle überrannte ihn und wirbelte ihn zu Boden. War das Wasser kochend oder eisig? Jäh brannte es sich in jede Pore hinein. Du Verlorener, du Lump, du armseliger Wicht!, rief ein Gott ihm zu oder ein Wassergeist.

Noch nicht wieder an der Oberfläche, Mund und Nase mit Salzwasser gefüllt, spürte Sperber einen Schlag gegen die Schläfe, als hätte ihm der zürnende Gott, um seiner Lektion mehr Nachdruck zu verleihen, zum Abschluss noch eins übergezogen. Das Meer hatte ein großes Stück Wellblech angeschwemmt und es ihm mit der Wucht der nächsten anrollenden Welle an den Kopf geworfen.

Nun hätte er ohnmächtig werden und ertrinken können, das Blech hätte ihn schwerer verletzen und ihm vermutlich sogar die Gurgel durchschneiden können, aber der Wassergeist wollte ihn warnen oder strafen, nicht töten, und so ließ er ihn, triefend von Wasser und Blut, jämmerlich zitternd und lebendig, auf die Beine kommen und aus den Fluten steigen.

Keiner kam, ihn in eine warme Decke zu hüllen; immerhin schob ihn der Wind in die richtige Richtung, heimwärts.

Wie durch Gletscherspalten fielen Sonnenstrahlen auf das schieferfarbene Meer, Wolkenbrüche aus Licht, die bewegliche, gleißende Inseln in der Ferne hinterließen. Kurz bevor er wieder im Ort angelangt war, tat sich eine jener Wolkenklüfte über Sperbers Kopf auf und gab für wenige Momente den Blick frei auf das immerwährende, von keinerlei Niederschlag je getrübte schöne Wetter, das darüber herrschte, auf jenen ewigen, wolkenlosen Sommer, den die Flugmaschinen als Lebensraum für sich beanspruchen.

Er duschte, solange warmes Wasser aus dem Boiler kam, zog sich warm an. Das Wellblech hatte ihm die rechte Schläfe aufgerissen, über dem Auge war die Haut schmerzlich angeschwollen. Da er weder eine Wundsalbe noch ein Pflaster fand, strich er Zahnpasta auf die Wunde – er hatte gehört, sie habe eine entzündungshemmende Wirkung. Im Spiegel erschienen sein rotes, vom heißen Wasser aufgeweichtes Gesicht, der kahle Schädel, das stoppelbärtige, kantige Kinn, die Kerben um die hellen Augen, die geschwollene, steile, wie ein demnächst zu fällender Baum mit einem weißen Kreuz markierte Stirn.

Dieses eine Mal hatte er das transportable Telefon nicht mittransportiert, sondern auf dem Küchentisch liegen gelassen, sonst wäre es ebenso durchnässt worden wie er und jetzt Müll. Obwohl es so gut wie nie summte und keine Nachrichten überbrachte, trug er es stets bei sich und inspizierte es oft. Er besaß es nicht, um zu telefonieren, sondern um erreicht werden zu können. Erreicht von wem? Sein Sehnen galt keiner bestimmten Person oder Nachricht. Er wartete darauf, erreicht zu werden von etwas oder jemandem, von etwas Konturlosem, Unbekanntem, vom Leben, von der Welt.

Er nahm das Gerät in die Hand und ging ans Fenster, von wo nicht das Meer zu sehen war, sondern eine verwitterte Mauer, und noch eine, und dann noch eine dritte, in Terrassensprüngen stiegen sie an bis hin zu einem unfernen, hohen, von einer Kiefer überragten Horizont. Darunter, in der Tiefe des Hinterhofes, wuchsen neben dürren Unkrauthalmen, die meiste Zeit des Tages im Schatten, zwei Hortensienbüsche, deren Blüten im Laufe des Sommers von hellgrün zu rosa, violett, lavendelfarben und schließlich tiefblau wechselten. Voll aufgeblüht ähnelten die großen Blütenkugeln jenen vielblättrigen, pastellfarbenen Gummi-Bademützen, die Frauen früher im Schwimmbad trugen.

Hässlicher und greller kehrten die Hortensienfarben in Sperbers Wohnung wieder. Das Zimmer, das er bewohnte, war hellblau gestrichen; als einziges Mobiliar standen ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Klappstuhl und statt eines Schranks ein wackeliges, metallenes Kleidergestell darin. Die Küchenwände leuchteten rosa- oder vielmehr zuchtlachsfarben; auf das Rechteckmuster der eingezogenen Kunststoffplatten-Decke antwortete das Linoleum mit einer Fischgrätparkett-Imitation.

Sperbers Erregung hatte sich völlig verflüchtigt, sein Kopf schmerzte, aber sein Geist war klar. Auf dem Bett sitzend, betrachtete er die vertraute Schäbigkeit seiner Umgebung, als gelte es, Abschied von den Dingen zu nehmen, zwischen denen er sich bis dahin, nicht immer, aber immer wieder und ihrer Armseligkeit zum Trotz, über schwankende Zeitspannen heimisch gefühlt hatte.

Sein Blick fiel auf die drei Postkarten, die mit Reißzwecken über dem Tisch angebracht waren und drei verschiedene Porträts ein und desselben Mannes darstellten.

Vor Jahren, als Sperber sich noch nicht dem sanften Sog der Tage überlassen hatte, als er mit seiner Zeit, die kein Lohnherr mehr haben wollte, trotzdem noch etwas beginnen wollte, war er auf ein Buch mit dem Titel »La défense de Tartufe« gestoßen. Er erinnerte sich weniger an das Gelesene als an das Lesen selbst, das wie ein Ins-Allerinnerste-Schauen, ein Blick in eine aufgerissene Brust gewesen war. Aus weiteren Büchern hatte Sperber dann von dem Leben und Sterben des Verfassers, eines bretonischen Juden mit Namen Max Jacob, erfahren.

Zwei der Zeichnungen an der Wand waren von Picassos Hand: Die eine, aus dem Jahr 1928, zeigte Jacob im Profil in einem Medaillon, einen Lorbeerkranz auf dem kahlen Schädel und mit leichtem Doppelkinn, als ruhmreichen, leise über sich selbst lächelnden römischen Kaiser; die zweite, 1953 entstanden, stellte den Dichter und Maler als mageren, kahlköpfigen, ernsten Harlekin dar, mit gesenktem Blick und einer stacheldrahtartigen Halskrause.

Das dritte Porträt war eine Zeichnung von Modigliani. Max Jacob, mit hohem Hut und Krawatte, hatte darauf eines jener schmalköpfigen, weltweit bekannten und etwas unpersönlichen Modigliani-Gesichter. Daneben waren die Worte zu lesen: »À mon frère, très tendrement, la nuit du 7 mars, la lune croissa« (Meinem Bruder, sehr zärtlich, in der Nacht zum 7. März, der Mond nahm zu).

Auf diesem letzten Porträt waren Sperber zwei Einzelheiten aufgefallen. Erstens war »croissa« eine grammatisch falsche Form des Passé simple, den Modigliani als Italiener wahrscheinlich nicht richtig beherrschte; richtig hätte es »crût« heißen müssen. Und zweitens stand die Zahl sieben in einer Zeile für sich, vom Zeichner groß und deutlich hervorgehoben. Der 7. März aber war der Tag, an dem Jacob 1944 nach Auschwitz hätte verschleppt werden sollen, sein Name stand schon auf der Liste, wäre er nicht bereits am 5. von alleine, das heißt an einer Lungenentzündung gestorben, die er sich in der vorausgegangenen Haft zugezogen hatte. Die Zeichnung war um 1915 herum entstanden.

In jedem Leben, dachte Sperber, waren derartige Zeichen verstreut, die erst im Rückblick – in diesem Fall in einem posthumen Rückwärtsschauen, das erst den Nachgeborenen möglich war – ihre Bedeutung offenbaren. Als wollte sich jemand, indem er uns mit seinen gut versteckten Hinweisen ein unlösbares oder erst zu spät lösbares Rätsel aufgibt, über uns und unsere menschliche Beschränktheit mokieren.

Sperber stand auf und schritt mit forschendem Blick seine Behausung ab. Ob in ihr wohl auch Zeichen verborgen waren, die, wenn er sie bloß sehen und deuten könnte, etwas über seine Zukunft offenbarten?

Er betrachtete ein Blatt Papier, das in einer Ecke am Boden lag und das er aufgehoben hatte, weil er darauf mit freier Hand einen vollkommenen Kreis gezeichnet hatte. Während er einer fernen Erinnerung nachhing, hatte seine Hand nebenbei und absichtslos diese gewölbte Linie gezogen. Danach hatte er noch etliche Male versucht, einen vollkommenen Kreis auszuführen, und jedes Mal war er ihm leicht verzogen geraten. Welche Bedeutung konnte dieses schmutzige Blatt Papier, dieses perfekte Rund, das die grauen Spuren seiner Schuhsohlen trug, wohl haben?

Die zerknäulte Bettdecke zurückschlagend, um das Laken glattzuziehen, traf er auf die Verschlingungen eines langen, roten Haares. Er erinnerte sich, in einem Roman von der »Unterschrift« eines Haares auf einem Badewannenrand gelesen zu haben. Nun hatte also die Engländerin sein Bett signiert, oder sah so vielleicht der Faden aus, der ihn aus dem Labyrinth hinausführen sollte? War es der berüchtigte rote Faden, den man nicht verlieren durfte? Er nahm das Haar zwischen zwei Fingerspitzen und legte es auf den schmutzigen Bleistiftkreis auf dem Boden. Damit es nicht davonfliege, und um die kleine Skulptur zu vollenden, platzierte er obenauf die getrocknete Eikapsel eines Rochens, die er am Strand gefunden und auf seiner Fensterbank deponiert hatte; ein schwarzes, bauchiges Rechteck mit vier kleinen Ausläufern an den Ecken, eine winzige Sänfte, in der die ungeborenen Rochen vom Wasser gewiegt und schließlich ins Leben hineingetragen wurden.

Mit pochender Schläfe stand er im Raum. In diesen drei nicht zu entziffernden Zeichen war, bildete er sich ein, sein weiteres Schicksal enthalten.

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