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Die Rezeptionistin blickte ihn argwöhnisch an, als er statt des Namens eines Gastes nur eine auffällige Haartracht vorzuweisen hatte. Die Geschichte von der Schwester konnte er hier nicht auftischen, wenn er, als einer, der den Namen der eigenen Schwester nicht weiß, nicht noch mehr Misstrauen wecken wollte. Schließlich sagte er, aber es fiel ihm ein bisschen zu spät ein, um glaubhaft zu wirken, er habe von Weitem gesehen, wie der Frau etwas aus der Tasche gefallen sei, sie sei aber schon verschwunden gewesen, als er das Fundstück aufgehoben habe, und so habe er auf gut Glück in den paar Hotels vor Ort nach ihr fragen wollen. Es handele sich um ein privates Dokument, das er ihr lieber persönlich aushändigen wolle.

Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen, sagte die Rezeptionistin schließlich widerwillig. Die Dame ist nicht in ihrem Zimmer. Lassen Sie mir doch Ihren Namen und Ihre Telefonnummer da, damit sie Sie erreichen kann.

Nicht nötig, sagte Sperber, ich komme wieder vorbei.

Auf keinen Fall wollte er der Unbekannten einen derartigen Vorteil über sich verschaffen, und auf die Schnelle fiel ihm keine bessere Antwort ein, obwohl seine Weigerung, Auskunft über sich zu geben, den Argwohn der Rezeptionistin unweigerlich verstärken würde.

Er stellte sich an die linke Ecke des Gebäudes, in die Nähe des Hotelparkplatzes, von wo er die Straße und den Eingang im Blick hatte, ohne von der Rezeption aus gesehen zu werden. Das Hotel lag außerhalb des Ortes, über dem Meer; es gab keine Passanten, denen er hätte auffallen können. Er würde so lange hier stehen bleiben, bis die verrückte Blonde auftauchte, und sollte es bis Mitternacht dauern.

Zur Mittagessenszeit war der Verkehr spärlich. Sperber fing an, sich sanft hin- und herzuwiegen: Jedes Mal, wenn ein Auto von rechts nach links an ihm vorbeifuhr, verlagerte er sein Gewicht auf das linke Bein; fuhr eines in die Gegenrichtung, wurde das rechte Bein wieder belastet. Durch ein gekipptes Kellerfenster drang das Crescendo einer Waschmaschine im Schleudergang, das als tiefes Summen begann und sich in immer höhere Lagen hinaufwand, um in einem stetig spitzer werdenden, dem Fiepen eines Wasserkessels ähnelnden Pfeifton zu enden. Es war Sperber, als müsste ihm unter dem wachsenden Druck in den nächsten Sekunden der Kopf abspringen. Dann ein Klicken, die Schleuder rollte aus, blieb stehen. Eine gelbgrau gescheckte Katze lief über die Straße, lässig und graziös, die Spielzeugausgabe eines Raubtieres. Ob die Frau mit dem Goldkranz ihn womöglich kannte? Müsste er sie also auch kennen? Vielleicht hatte sie eine Wette abgeschlossen: Was bekomme ich, wenn ich den ersten Mann küsse, dem ich heute begegne? Oder war es Aberglaube, und sie wollte etwas damit erreichen, etwa: Wenn ich heute den Erstbesten küsse, wird mein Vater (mein Geliebter, meine Tochter) wieder gesund?

Ein Rennradfahrer raste blindlings in einen »liegenden Gendarmen«, in eine jener Straßenschwellen, die zum Langsamfahren zwingen sollen, und wäre dabei fast aus dem Gleichgewicht gekommen.

Die Sonne stand noch nicht sehr tief, denn es ging auf die längsten Tage des Jahres zu, der Hotelparkplatz füllte sich schon nach und nach wieder, die Anreisenden trafen ein und die Ausflügler kehrten zurück, Autotüren wurden zugeschlagen, Rollkoffer vorbeigezogen, als er sie von Weitem kommen sah: eine Stecknadel mit goldenem Kopf, die sich über die um ihn her ausgebreitete Landkarte, die er so ausführlich studiert hatte in den letzten Stunden, langsam auf ihn zubewegte. Sie ging die Straße lang, die vom Ort her kam und erst eine Weile der Flussmündung folgte, bevor sie in einer weiten Biegung zu dem Hotel anstieg, das am offenen Meer oberhalb des Strandes lag.

Er hatte im Laufe des Nachmittags, ohne sich auf eine Variante zu fixieren, mehrere Möglichkeiten erwogen, wie der Frau zu begegnen wäre, ein ganzes Spektrum von Anreden war ihm durch den Kopf gegangen, die von der Beschimpfung bis zur Liebesbekundung reichten. Er zwang sich, den Kopf abzuwenden und eine Weile in eine andere Richtung, die Straße hinauf, zu sehen, wo zwei junge Männer sich mühselig aus ihren Neoprenanzügen schälten, eine Häutung, die wie bei der Zikade mit dem Rücken begann, allerdings mithilfe eines Reißverschlusses, an dem ein langes Band befestigt war, und die am Ende zwei dunkle Schwarten auf dem Boden zurückließ.

Beim nächsten Hinschauen hatte der Kopf schon ein Gesicht. Aber wie oft er auch später versuchen sollte, die Züge dieses Gesichts für sich wiederaufzurufen und zu beschreiben, nie sollte er die Teile, aus denen es sich zusammensetzte, einzeln zu fassen bekommen, sie fügten sich ein in »das Gesicht«, wie er es fortan vor sich sehen konnte, und dieses Gesicht war anmutig und streng, ungeschliffen und zart, es war äußerste Fremde und äußerste Vertrautheit in einem. Und nie sollte er es anders sehen als umgeben von dem breiten Lichthof des Haares.

Ihr Schritt wurde nicht langsamer, je näher sie kam, doch hatte sie ihn zweifellos gesehen, ja sie schaute ihn an. Er blieb an der Hausecke stehen, fast reglos, leise schwankend, nicht viel anders, als er die vergangenen Stunden über gestanden hatte. Mit ihren leichtfüßigen Schritten ging sie zielstrebig, aber ohne Eile auf den Hoteleingang zu, um, beinahe auf seiner Höhe angelangt, jäh innezuhalten. Eine Minute verging, oder eine halbe Stunde, ein Jahr? Kein Kind schrie, kein Auto fuhr, keine Glocken schlugen, die Brandung selbst hatte ausgesetzt, das Meer hatte aufgehört zu atmen. Dann, wie ein Reh, das einen Moment lang aufgehorcht und keine akute Gefahr gewittert hat, nahm sie ihren gleichmäßigen Gang wieder auf und verschwand in der Hoteltür.

Tal der Herrlichkeiten

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