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Weich war die Haut, an der sein Mund lag, warm wie frisches Brot, und als er sie küsste, spürte er zarte Härchen über seine Lippen streichen, ein seidiges Kitzeln, unsagbar fein und zart. Erst als auf dem Tisch das Telefon tremolierend erbebte und er die Augen aufschlug, merkte er, dass es sein eigener Oberarm war, den er im Halbschlaf liebkost hatte, und dass außer ihm niemand im Zimmer war.

Er hielt das Gerät an sein Ohr, in dem ein »Unbekannt« geduldig oder ungeduldig auf ihn wartete, und sagte, nicht fragend, vielmehr ergeben, wie man ungelesen einen Vertrag unterzeichnet:

Ja.

Was er vernahm, war keine menschliche Stimme, sondern, als habe er statt des Telefons eine große Muschel ans Ohr gehalten, das Rauschen des Meeres. Kurz fragte er sich, ob das Geräusch nicht seinem Ohr entsprang, aber zu fern und zugleich deutlich war das Heranbrechen und Zurückfluten der Wellen zu hören, mächtig und geruhsam.

Mit lauter Stimme, als telefonierte er mit einem Orkan, rief er: Hallo! Hallo!

Das eintönige Meeresschnaufen blieb die einzige Antwort.

Lange, bis es anfing hell zu werden und die Gegenstände in seinem Zimmer Form annahmen, lauschte Sperber dem steten Ein- und Ausatmen des Meeres. Dann, in der kleinen Atempause zwischen zwei anrollenden Wellen, wurde die Leitung unterbrochen.

An diesem Morgen ging Sperber zeitig zum Hafen; manchmal nahm einer der wenigen Fischer, die es vor Ort noch gab, ihn als Hilfskraft mit. Zwar bekam er dafür außer dem Weißwein hinterher und ein paar Makrelen oder Sardinen kaum eine Bezahlung, aber die Arbeit brachte ihn ab von seinen einsamen Manien und Wegen und tat ihm wohl. Einige Tage hintereinander fuhr er hinaus und kam am Nachmittag zerschlagen und fast frei von jeder Sehnsucht oder Reue wieder nach Hause.

Am Abend begrub er eine tote Amsel, die er im Hinterhof gefunden hatte; vielleicht war sie gegen ein Fenster geprallt. Eingewickelt in einen alten, weißen Kopfkissenbezug, der als Leichentuch dienen sollte, trug er das starre, zerzauste Tier ans Meer, bis hin zu einer kleinen Bucht mit Kieselstrand. Sorgfältig, wie für sein eigenes Grab, suchte er den Platz aus. Er grub eine Mulde, legte den Vogel hinein, deckte ihn zu und schmückte den kleinen Hügel mit leeren Napfschneckenhäusern, die er rundherum auflas. Dazwischen steckte er ein paar Levkojenblüten. Er lauschte dem unheimlichen Rasseln der Kiesel, wenn eine zurückflutende Welle sie gegeneinanderschüttelte. Mit unendlicher Geduld war das Meer damit beschäftigt, hier in Jahrtausenden einen Sandstrand anzulegen.

Er fand, dass er anfing, wieder ein Mensch zu werden.

Der Küstenweg, auf dem er zurückging, führte an der Île aux vaches vorbei, einem winzigen, steinigen Eiland, auf dem keine Kuh etwas zu fressen gefunden hätte und das bei Ebbe trockenen Fußes zu erreichen, bei Flut aber vom Festland abgeschnitten war. Als er auf der Höhe der kleinen Halbinsel ankam, war das Wasser etwa auf halber Höhe angelangt; es würde seinen höchsten Stand in der Mitte der Nacht erreicht haben.

Sperber verlangsamte seinen Schritt. Was die Einheimischen Insel nannten, war nichts anderes als ein Haufen Steine, es war keine Sand-, eher eine Steinbank, die in ihrem Zentrum, wo das Wasser fast nie hinkam, einen hellen, sonnigen Ockerton angenommen hatte, während sie sich nach außen hin in feinen Abstufungen, die Sperber mit den Augen abtastete, immer weiter verdunkelte. Er blieb stehen. Denn wie einen geschliffenen Edelstein in einer rauen, tropfenförmigen Einfassung hatte er auf dem höchsten Punkt des Eilands im milden Licht der Abendsonne ein goldenes Rund aufglänzen sehen.

Die Frau saß dem offenen Meer zugekehrt, die Arme um ihre angezogenen Beine geschlungen. Sie rührte sich nicht. Sperber fixierte den blonden Punkt, bis er verschwamm vor seinen Augen und von den ausgebleichten Steinen nicht mehr zu unterscheiden war.

Das Meer war schon so weit angestiegen, dass jeder, der in die eine oder andere Richtung hätte passieren wollen, wenigstens bis zu den Oberschenkeln durchs eisige Wasser hätte waten müssen. Sperber musste an einen grausamen Mord denken, von dem er vor Jahren – war es in einer Zeitung?, in einem Roman? – gelesen hatte und bei dem die Gezeiten als Mithelfer missbraucht worden waren: Man hatte das Opfer bei Ebbe am Strand so eingegraben, dass nur noch der Kopf herausschaute. Dann ließ man den im Sand Gefangenen allein, die Augen dem ansteigenden Meer zugewandt, in dem er ertrinken würde.

Hatte die verrückte Sirene vielleicht vor, die Nacht auf diesem Steinhaufen zu verbringen? Ertrinken würde sie nicht; die Insel wurde nur bei Sturm vom Wasser überschwemmt, und es würde eine ruhige Nacht werden. Aber die feuchte Kälte würde ihre Kleider durchdringen. Den Tod konnte sie sich dort draußen auch über Wasser holen.

Ob sie es war, die ihn nachts angerufen hatte, womöglich von jener kleinen Halbinsel aus? Verbrachte sie dort, eingehüllt in eine Vielzahl wollener Pullover und windundurchlässiger Jacken, ihre Nächte, den Kopf zwischen den Schultern wie die Möwen um sie her? Die Sonne verschwand – nicht im Meer, sondern hinter Felsvorsprüngen – und mit ihr das sanfte Licht auf den trockenen, rauen Steinen und der kostbare Glanz des blonden Haares. Die Insel war grau auf einmal, wie erloschen. Zwar war der reglose Frauenkopf noch sichtbar, für Sperber jedenfalls, dessen Auge ihn hatte glänzen sehen und wusste, wo es ihn zu suchen hatte, aber er schien nur mehr ein etwas hellerer Stein im eingetrübten Inselgefleck.

Noch war Zeit, noch konnte sie das Ufer erreichen, ohne weiter als bis zur Hüfte ins kalte Wasser eintauchen zu müssen. Noch konnte er auch zu ihr hinübergelangen, dachte er kurz und ohne Überzeugung. Wiewohl sie kaum mehr als zwei- oder dreihundert Schritte von ihm entfernt war, schien sie ihm unerreichbar, als säße sie nicht auf einem nahen Steinbrocken, sondern auf einem soeben ablegenden Schiff, den Blick einer unbekannten, verheißungsvollen Zukunft zugewandt und ihm, dem Zurückbleibenden, den Rücken kehrend.

Musste er sie denn retten? Sie würde sich erkälten, sich im schlimmsten Fall eine Lungenentzündung zuziehen, das war alles.

Trotzdem blieb er stehen. Ein Hund lief an ihm vorüber, gefolgt von einem bärtigen Mann, der, die Leine in der Hand und eine blaue Schirmmütze auf dem Kopf, neben Sperber anhielt und ein paar Worte mit ihm wechseln wollte, Wetter, Windstärke, die Aussichten für die nächsten Tage. Sperber antwortete ihm, nicht wortreich, aber er antwortete, ohne dabei die Augen von dem einen Menschenkopf zwischen den Steinköpfen zu wenden. Die beiden Männer standen eine Weile nebeneinander, vor sich die unmerklich kleiner werdende Insel, deren Ränder vom Wasser immer mehr angefressen wurden. Sie schauten beide in dieselbe Richtung, aber wo Sperber die Frau sitzen sah, sah der Bärtige offenbar nur Steine und Meer.

Und obwohl sie ganz still und abgeschieden auf ihrem Inselthron saß, fast unsichtbar und folglich ohne jede Absicht, mit ihrem reglosen Die-Nacht-Abwarten irgendjemanden, schon gar nicht ihn, Sperber, dessen Anwesenheit sie unmöglich erahnen konnte, zu provozieren, spürte er, da die Feuchtigkeit der nahenden Nacht ihm, dem ebenso regungslos am Ufer Stehenden, langsam in die Glieder kroch, erneut eine dumpfe Wut in sich aufsteigen. Warum schien es ihm jedes Mal, als habe die blonde Frau mit ihrem eigentümlichen Benehmen nichts anderes im Sinn, als ihn, den sie sich unerklärlicherweise als Gegenstand ihrer Belustigungen ausgesucht hatte, zu ärgern und zu verhöhnen?

Er zwang sich, nach Hause zu gehen.

Vor seinem Fenster vollführten die Fledermäuse ihren taumelnden Tanz, die gelbe Straßenlaterne verschwamm in der feuchtkühlen Luft zu einem fernen Gestirn.

Gegen Mitternacht, Sperber lag wach auf dem Bett, stritten zwei Betrunkene auf der Straße, brüllten sich an mit gurgelnden Bassstimmen, enculé, je vais te péter la gueule, etwas, ein Fuß?, ein Kopf?, schlug mehrmals hintereinander gegen einen Eisenrollladen, der klirrte und schepperte, als rüttelte ein Riese an den stillen Fassaden.

Dann entfernten sich die Stimmen.

Je mehr Sperbers Kopf den Schlaf ersehnte, umso heftiger wollten seine Beine sich bewegen; sie zuckten unter der Bettdecke wie unter elektrischen Schlägen. Als irgendwann, verloren in der Tiefe der Nacht, ein einzelner Glockenschlag ertönte, schien es ein Irrtum zu sein, ein eigentümliches Versehen.

Bald darauf stand Sperber auf, suchte im Licht der Straßenlaterne, das in dünnen Streifen durch die Läden fiel, seine Kleider zusammen, schlich durch das dunkle Treppenhaus.

Hier ist ein Pfad, den sollst du gehen, hier liegt der Hase in seiner Gruft, sang er leise, im Rhythmus seiner Schritte, und diese kleine, soeben in seinem Mund wie von selbst entstandene Privatkantate führte ihn den gleichen Weg, den er am Abend gegangen war, wieder zurück. Lange musste er laufen, bis hinter dem großen grauen Schuppen, in dem das Seenotrettungsboot auf seinen Einsatz wartete, der Küstenweg begann, von wo an keine Laterne ihm mehr leuchtete und nur noch der Mond als blasser, undeutlicher Fleck hinter den dünnen Wolken zu sehen war.

Über der Île aux vaches, die inzwischen völlig abgetrennt vom Festland und auf ihren kleinsten Umfang, also vielleicht in der Tat zu der Größe einer Kuhweide, zusammengeschrumpft war, lag ein schwacher Schimmer; deutlich waren die hellen Schaumränder, diffus das Relief der Steinbrocken zu erkennen.

Sperber ärgerte sich, dass er sein Fernglas nicht mitgenommen hatte, aber hätte ihm das in der Dunkelheit viel geholfen? Er trat so weit ans Ufer heran, wie er trockenen Fußes gelangen konnte, dann erstarrte er und mühte sich, seine Augen zu schärfen. Wenn die Wolkenschicht dünner und das Mondlicht etwas stärker wurden, war es ihm das eine oder andere Mal, als würde er unter den steinernen Formen einen hellen Haarschopf ausmachen. Bald glaubte er ihn dort, wo er die Frau am Abend hatte sitzen sehen, bald an einer geschützteren Stelle, näher am Festland, zu erspähen. Am Ende musste er einsehen, dass er es nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob auf diesem Steinhaufen, um den herum Himmel und Meer zu einem unermesslichen Dunkel verschmolzen waren, ein weibliches Menschenwesen zugegen war oder nicht.

Hätte er sich mit Adler-, Möwen- oder besser Eulenschwingen über den Kieselstrand erheben und über der flachen Insel seine Kreise ziehen können, so hätte er, eingerollt in einen Bergsteiger-Mumienschlafsack und gebettet auf eine Isoliermatte, die sich selbst aufgeblasen hatte, in einer Felsnische am äußeren, dem offenen Meer zugewandten Ende der Insel eine blonde Frau ruhen sehen.

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