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Mit dem leisen, dumpfen Aufprallgeräusch eines Hühnerknochens war der Finger auf das Linoleum gefallen. Sie hatte aufgeschrien, kurz nur, dann auf das Blut geschaut, das ins Leere pulsierte, das Wachstuch auf dem Tisch und ihren blauen Rock befleckte, auf den Finger, der, schon fremd, am Boden lag, noch nicht tot, aber auch nicht mehr lebendig. Sie war bei Bewusstsein geblieben, und dieses Bewusstsein war klar und ins Ungeheuerliche geschärft gewesen, ebenso wie ihre Wahrnehmung, die sich auf ein dunkelblondes, auf dem fleckigen Linoleum fast nicht auszumachendes langes Haar fixierte, vielleicht ihr eigenes, das, in eine zackige, ungeschmeidige Form gewischt oder getreten, neben dem Finger am Boden klebte. In ein und demselben Augenblick sah sie den Finger, sich selbst als eine ihren abgetrennten Finger Betrachtende und noch einmal sich selbst, wie sie, aus größerer Ferne, eine Ihren-abgetrennten-Finger-Betrachtende betrachtete, und so zog es sie immer weiter fort von sich bis ins Unendliche, wie eine russische Puppe stülpte sie sich wieder und wieder über ihre eigene, immer kleiner werdende Gestalt. Dann wollte die Ohnmacht wieder nach ihr greifen, aber sie entzog sich auch diesmal, schloss die Augen. Hinter den Lidern flackerte es rot.

Der tote Finger war als Lebenszeichen gedacht. Wie konnte ein Finger davon zeugen, dass derjenige, dem er gehörte, lebt? Erst später hatte sie darüber nachgedacht. Ein Fingerzeig? Der Finger sollte nichts zeigen, nichts beweisen, dachte sie heute. Er sollte Angst machen.

Als einzigem Kind reicher Eltern war es ihr verboten, alleine mit dem Fahrrad zu fahren, aber sie fuhr trotzdem. Hatte zu Hause erzählt, ihr Fahrrad sei ihr gestohlen worden, doch in Wahrheit hatte sie es versteckt, in einer Bauruine, die sie, nur wenig von ihrem Schulweg abweichend, schnell erreichen konnte. Sobald eine Stunde ausfiel, holte sie das Fahrrad und fuhr über die Feldwege, zwischen Maisfeldern hindurch, die im Sommer zu beiden Seiten des Weges hohe Mauern bildeten, bis zum Weiher, oder sie fuhr den Esel besuchen, der auf einer Wiese nahe der Kläranlage weidete, ein scharf gezeichnetes, braunes Andreaskreuz auf seinem mausgrauen Rücken, und den Kopf hob, wenn sie sich näherte, die dunkel-flauschigen Ohrmuscheln von einem zierlichen, hellen Fellstreifen eingerahmt.

Der Mann hatte sich nicht versteckt. Sein Wagen stand im Schatten einer Eibe, an einer Abzweigung, die nirgendwohin führte. Als sie fast auf seiner Höhe angekommen war, stieg er aus, stieß mit einem kräftigen Tritt das Rad um. Bevor sie noch richtig verstand, dass sie mit Absicht vom Rad befördert worden war, hatte er sie schon in seiner Gewalt. Mit angewinkelten Beinen auf der Seite liegend, ein Klebeband über den halboffenen Lippen, blickte sie in die stickige Nacht des Kofferraums.

Ihre Eltern hatten bezahlt. Sie war freigekommen. Hatte weitergelebt, mittlerweile noch einmal so lang. Sie lebte. Ihr Gemüt hatte sich beruhigt, die Therapeuten hatten ihr Inneres nach außen gekehrt, geflickt, gebügelt und wieder eingesetzt, die Eltern hatten sie gehegt und gehätschelt, die Gleichaltrigen waren ihr mit stummem Respekt begegnet. Fortan wurde sie von einem Fahrer mit dem Auto zur Schule und wieder nach Hause gebracht, das Fahrrad war konfisziert worden. Der Finger fehlte ihr, aber sonst eigentlich nicht viel, jedenfalls schien es so. Sie las russische Romane und deutsche Verse, übte Klavier und lachte, kicherte sogar, bekam regelrechte, nicht mehr aufzuhaltende Lachkrämpfe, ein Wort oder eine Geste genügten, und der ganze Leib zog sich zusammen, der Rücken krümmte sich; dass Lachen schmerzte, war eine ihrer frühen Erfahrungen. Wie es aber wirklich aussah in ihrer Seele, was heil geblieben und was nicht oder was vielleicht nie heil gewesen war, das blieb den Ärzten und den Eltern und ihr selbst verborgen, es gehörte nicht zu den Dingen, die man wissen konnte, ebenso wenig, wie man eine Fata Morgana vermessen kann. Etwas aber war ihr geblieben seit ihrer Verschleppung, eine Veränderung, die zwar nicht messbar, aber doch für sie deutlich zu spüren war: Seit der Sekunde, in der ihr Finger mit jenem weichen Klopfton auf den Boden geschlagen war, hatten sich ihr Bewusstsein und ihre Wahrnehmung nie wieder ganz beruhigt. Es war, als trüge sie seither eine Vergrößerungslinse in jedem Auge und eine ähnliche Vorrichtung zur Bewusstseinsschärfung im Hirn. Solange sich kein anderer Name aufdrängt, soll sie deshalb Luchs heißen.

Tal der Herrlichkeiten

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