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Aufwachen und schreien
Оглавление»Warum gerade mein Kind?«
Sie fragen sich vielleicht: Wozu ist das Aufwachen nach jeder REM-Phase eigentlich gut? Und warum schlafen viele Kinder einfach wieder ein, während meines jedes Mal anfängt zu schreien?
»Gefährlicher« Tiefschlaf
Zunächst zur ersten Frage. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass in früheren Zeiten die Menschen nachts nicht so geschützt waren wie wir heute. Sie schliefen in einfachen Hütten oder im Freien – umgeben von Gefahren. Die ganze Nacht im Tiefschlaf zu verbringen wäre zu gefährlich gewesen. Aus dem Traumschlaf, besonders am Ende jeder Traumphase, konnten sie sehr leicht geweckt werden und auf jedes verdächtige Geräusch blitzschnell reagieren. Das Schlafmuster mit »Gefahren-Warnsystem« war damit biologisch sinnvoll und fürs Überleben hilfreich. Heute noch können wir nachts nach dem Traumschlaf von verdächtigen Geräuschen oder zum Beispiel von Brandgeruch sofort geweckt werden. Bei jedem Wachwerden prüfen wir, ob alles in Ordnung ist. Genau das tun auch die Babys und Kleinkinder.
Nun zur zweiten Frage: Warum fängt gerade mein Kind nachts mehrmals an zu schreien? Beim nächtlichen Aufwachen »checken« die Kleinen ab: Liege ich richtig? Bekomme ich genug Luft? Ist mir zu warm oder zu kalt? Tut etwas weh? Sie überprüfen also ihre eigenen Körperfunktionen. Und das ist sehr wichtig. Sie »checken« aber auch ab: Ist alles genau so, wie es beim Einschlafen war? Fühlt sich alles normal an?
Nun stellen Sie sich ein Baby vor – vielleicht die sechs Monate alte Vanessa, wie sie abends gegen acht Uhr in ihr Bettchen gelegt wird. Sie ist noch wach. Mami gibt ihr einen Gutenachtkuss und verlässt das Zimmer. Vanessa kuschelt sich in ihre gemütliche Schlafstellung, nimmt ihren Daumen in den Mund und schläft recht schnell ein. Drei Stunden später wird sie zum ersten Mal wach. Sie überprüft, ob alles in Ordnung ist: Richtige Umgebung? Daumen? Alles klar. Alles fühlt sich normal an. Vanessas »Warnsystem« braucht nicht aktiv zu werden. Die Kleine schläft weiter, bevor sie richtig wach wird. Sie kann allein einschlafen – beim Mittagsschlaf ebenso wie abends. Sie kann nachts allein wieder einschlafen – nach jedem Aufwachen.
Aufwachen und schreien
Nun stellen Sie sich ein anderes Baby vor, vielleicht Tim, ebenfalls sechs Monate alt. Er wird wie Vanessa noch voll gestillt. Während Vanessa vom dritten Monat an wach ins Bett gelegt wurde, schläft Tim von Geburt an immer an Mamas Brust ein, tagsüber und abends. Mami setzt sich abends gegen acht mit ihm in den Schaukelstuhl und wiegt ihn sanft. Tim schläft friedlich ein und kann nach 10 bis 15 Minuten behutsam in sein Bettchen gelegt werden.
Wie Vanessa wird er nach drei Stunden zum ersten Mal wach. Körperlich fühlt er sich gut – aber was ist denn das? Wo ist Mamis Wärme und Mamis Duft? Wo ist das sanfte Schaukeln? Und vor allem: Wo ist die Brust? Eben hat er doch noch so schön daran genuckelt! Tim »checkt« wie Vanessa, ob alles in Ordnung ist. Aber in seinem Warnsystem läuten alle Alarmglocken. Nichts ist in Ordnung! Er ist allein in einer Umgebung, die ganz anders ist als beim Einschlafen. Sofort ist Tim hellwach und fängt aus Leibeskräften an zu schreien. Es dauert nicht lange, bis ihn Mami schlaftrunken aus seinem Bettchen holt, sich mit ihm in den Schaukelstuhl setzt und ihn anlegt. Ja, denkt Tim, so muss sich das anfühlen beim Einschlafen. So ist es in Ordnung. Sanft gewiegt und nicht hungrig, aber genüsslich nuckelt er sich wieder in den Schlaf. Das Spiel wiederholt sich um ein Uhr nachts, um halb drei, halb vier, halb fünf und um fünf. Tim ist ein gesundes, aufgewecktes, freundliches Baby. Die Eltern sind stolz und glücklich, weil er für sein Alter schon so viel gelernt hat. Aber eins hat er noch nicht gelernt: allein einzuschlafen. Tagsüber und abends nicht, und nachts, wenn er wach wird, erst recht nicht. Tim hat stattdessen gelernt: »Wenn ich nachts aufwache, ist nichts so, wie ich es zum Einschlafen gewohnt bin. Ich muss schreien, dann kommt Mami und macht alles so, wie es sein muss. Wenn sie nicht sofort kommt, muss ich länger und lauter schreien. Dann kriege ich immer genau das, was ich gewohnt bin. Und nur das, was ich kenne, kann doch richtig sein. Das ist doch klar.«
So »denkt« Tim. Er hat wirklich schon viel gelernt! Mami hilft ihm jede Nacht mehrmals in den Schlaf. Das Stillen kann ihr niemand abnehmen. Mit ihrer liebevollen Aufopferung, die sie oft an den Rand der Erschöpfung treibt, erreicht sie aber keine Verbesserung. Im Gegenteil: Sie verhindert, dass sich etwas ändert. Tim hat keine Chance zu lernen: »Ohne Hilfe einzuschlafen ist vollkommen in Ordnung.« Wenn er das lernen würde, könnte auch Tim durchschlafen.
Schlafen nur mit Mamas Hilfe
Ein Baby wie Tim ist noch nicht in der Lage, sich um alles selbst zu kümmern, was ihm fehlt. Das klappt erst ab einem Alter von ungefähr drei Jahren. Deshalb kommen Schlafstörungen bei Kindern bis zu zwei Jahren noch besonders oft vor, bei Kindern über drei Jahren dagegen schon wesentlich seltener. Es gibt sehr viele Kinder wie den kleinen Tim, die beim Einschlafen abends und nachts auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen sind. Sie haben alle eines gemeinsam: Sie schlafen unter Bedingungen ein, die sie nachts nicht allein wiederherstellen können.
Robert (6 Monate) zum Beispiel, lag zwar allein in seinem Bett, brauchte aber zum Einschlafen seinen Schnuller. Bis zu zehnmal musste seine Mutter jede Nacht aufstehen, um ihm den Schnuller wieder in den Mund zu stecken. Robert konnte ihn noch nicht allein finden.
Auch Till (10 Monate) schlief allein in seinem Bett, allerdings nur mit Flaschchen. Aus dem einen Flasch-chen wurden nach und nach neun, die ihm nachts ans Bett gebracht werden mussten.
Bei Gina (fünfzehn Monate) entwickelte sich das Einschlafen mit dem Fläschen im Laufe der Zeit zu einem regelmäßigen nächtlichen Verzehr von sage und schreibe einem Liter dickem Milchbrei.
Kilian (12 Monate) wurde zum Einschlafen herumgetragen - nachts fast stündlich jeweils bis zu 20 Minuten lang.
Bei Yannick (8 Monate) war der grolk Gymnastikball angesagt. Abends und nachts mussten Mama oder Papa mehnnals mindestens zehn Minuten lang mit ihm auf dem Ball hopsen, bis er dabei einschlief.
Lena (elf Monate) war noch nie in ihrem Leben allein in ihrem Bettchen eingeschlafen, sondem immer nur in Mamas Bett an der Brust - und die verlangte sie jede Nacht bis zu sechsmal.
Florian (zwölf Monate) hatte ähnliche Einschlafgewohnheiten wie Lena. Zusätzliche »musste« er bis zum Einschlafen mit Mamis Haaren spielen.
Annina (sechs Monate) wollte überhaupt nicht in ihr Bett. Sie wurde tagsüber, abends und nachts in einer speziellen Hängematte in den Schlaf geschaukelt.
Verzweifelt kreativ
Manche Beispiele von kindlichen Einschlaf-Gewohnheiten hören sich fur Außenstehende fast komisch an. Sie sprechen aber nur für die Fantasie von verzweifelten Eltern, die nichts unversucht lassen, um ihre lieben Kleinen zum Schlafen zu bringen.
Der Vater der zweijährigen Stefanie zum Beispiel kletterte trotz seiner Größe von einsneunzig regelmäßig zu seiner Tochter ins Gitterbettchen.
Manche Eltern legen sich als »Bettvorleger« vor das Bett ihres Kindes, andere unternehmen nächtliche Autofahrten oder schieben mitten in der Nacht den Kinderwagen durch die Wohnung. Einige stellen den Staubsauger oder den Fernseher an, eine Mutter sogar den Schleudergang der Waschmaschine. Zum Einschlafen legte sie ihr Baby oben drauf.
So aufwändig all diese »Einschlafhilfen« sind – sie bewirken genau das Gegenteil von dem, was sie erreichen sollen. Sie verhindern, dass das Kind lernen kann durchzuschlafen. Der Erfolg ist immer nur kurzfristig. Dabei gehört das Einschlafen eigentlich zu den angeborenen Fähigkeiten, die alle Babys beherrschen, wenn man sie nur lässt.
Allein klappt es besser
Die kleine Vanessa zum Beispiel (siehe ⇒) kommt nachts allein zurecht. Ihren Daumen findet sie selbst. Da sie schon seit den ersten Lebenswochen wach ins Bett gelegt worden ist, findet sie das ganz normal und fühlt sich dabei wohl. Und was auch immer man gegen das Daumennuckeln einwenden kann: Daumen-Kinder wie Vanessa haben selten Schlafprobleme.
Statt des Daumens kann auch ein Schnuller hilfreich sein, aber nur, wenn das Kind ihn nachts allein findet. Ab dem zweiten Lebensjahr – aus Sicherheitsgründen nicht früher – eignen sich auch ein Schmusetuch oder ein Stofftier als Einschlafhilfe. Beides kann auch nachts leicht ertastet werden.
Allein, ohne die Hilfe der Eltern, schlafen die Kinder also tatsächlich besser. Dafür gibt es Beweise. Die auf ⇒ erwähnte amerikanische Schlafstudie hatte ein sehr bemerkenswertes Ergebnis: Etwa die Hälfte der befragten Eltern gab an, ihrem Baby beim Einschlafen zu helfen und es dann schlafend ins Bett zu legen. Diese Babys schliefen schlechter und wurden nachts öfter wach als die Kinder, die von ihren Eltern einfach wach ins Bett gelegt wurden. Aber das war nicht der einzige Unterschied:
Kinder, die zum Einschlafen ihre Eltern brauchten, schliefen nachts im Durchschnitt eine ganze Stunde weniger!
Bei der auf ⇒ erwähnten Umfrage un NRW-Kinderarztpraxen wurde der gefundene Zusammenhang bestätigt: Ab dem dritten Lebensmonat wachten die Kinder ohne elterliche Einschalf-Hilfe in de Altersgruppen seltener auf.
Wie ein Kind abends einschläft, hat in der Regel Auswirkungen auf die Nacht. Aber nicht immer:
Anna-Lena (ein Jahr) schlief von Geburt an wunderbar allein in ihrem Bettchen ein, trank aber jede Nacht je ein großes Fläschchen Tee und Milch. Sie war besonders klug und wollte beim Aufwachen in der Nacht alles genau so haben wie beim Aufwachen in der vergangenen.
Sie hatte gelernt zu unterscheiden: »Abends allein einschlafen ist leicht. Nachts nach dem Aufwachen wieder allein einschlafen ist schwer. Abends allein im Bett einzuschlafen ist in Ordnung, aber nachts ist es für mich nur mit Fläschchen in Ordnung.«
Kindern wie Anna-Lena fällt das Umlernen besonders leicht. Was andere ganz neu lernen müssen, können sie schließlich schon: allein einschlafen.
Vom Vater, der nicht allein einschlafen konnte
Zum Abschluss dieses Kapitels möchten wir Ihnen noch eine kleine Geschichte erzählen, die kürzlich eine Mutter zum Besten gab.
Ihre Tochter Laura war eigentlich immer ein friedliches, unkompliziertes Kind gewesen. Sie schlief von Geburt an bis zu ihrem vierten Lebensjahr bei ihren Eltern im Bett. Da sie einen sehr ruhigen Schlaf hatte, machte es den Eltern nichts aus. Sie hatten nichts dagegen einzuwenden und unternahmen auch nichts dagegen.
Mit vier Jahren erklärte Laura eines Tages mit ernster Miene: »Ich bin jetzt groß. Ich will von jetzt an allein in meinem Bett schlafen.« Genau das tat sie auch. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters. Laura hatte sich vier Jahre lang immer gegen seinen Rücken gekuschelt. An dieses Gefühl hatte er sich so gewöhnt, dass er nun nach seinen nächtlichen Aufwachphasen nicht wieder einschlafen konnte. Sein Warnsystem zeigte an: »Etwas ist nicht in Ordnung.« Und was machte Lauras Vater? Er holte seine Tochter wieder zurück ins Elternbett. Erst als sie nach mehreren Versuchen immer noch heftig protestierte, sie sei doch jetzt schon groß, gab er auf und musste wohl oder übel wieder lernen, seine Einschlafgewohnheiten umzustellen und ohne seine Tochter im Rücken einzuschlafen.