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SECHSTES KAPITEL
In München

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Inhaltsverzeichnis

Wir ließen Daphne auf dem Diwan der Münchener Wohnung. Völliges Dunkel herrscht nun schon lange, bis auf den Widerschein der Zierlaternen gerade gegenüber in den obersten Erkern des Hotels. Der Regen schlägt an die Fenster. Constantin ist noch nicht zurück. Harriet, früher Helgas Jungfer, die bei Daphne geblieben ist, hält jedes Geräusch draußen ab, aber nun klingelt es drei, vier Male schnell und ungeduldig, die Schläferin erwacht, richtet sich gerade auf, knipst an der Lampe und seufzt. Franz stürzt herein. Wir sehen ihn als geschmeidigen Leutnant wieder, seine blauen Augen sind ein wenig abenteuerlich, wie die eines Seefahrers, schärfer auf die Ferne als die Nähe gerichtet. Onkel Aribert steht im Begriffe, ihn zum Erben der Güter einzusetzen, die einst sein Vater einbüßte. Es sind Schritte im Gang, die Sache läuft, wie man sagt, und ist kein Geheimnis.

»Komm mit mir in die Oper, Daphne, sei nicht fad. Harriet«, ruft er, »staffieren Sie meine Schwester heraus!« Er schließt wieder die Tür. »Man wird dich für meine Braut halten.« Er lacht.

Daphne hätte lieber weiter geschlafen. Doch fällt es ihr immer sehr schwer, Franz etwas abzusagen. Sie war nicht blind für seine Fehler, aber seine Späße und Einfälle belustigten sie, und sie hatte sie so lange entbehrt. Man gab Hoffmanns Erzählungen, seine Lieblingsoper. Mit der jungen Ivogün als Olympia, Geis als Spalanzani und Paul Bender als Dapertutto hatte die Aufführung nicht ihresgleichen in der Welt und war sogar eine Reise wert. Pünktlich nahmen Daphne und Franz ihre Balkonsitze ein, und ihr Auftreten bildete für die Logen des I. und II. Ranges eine Sensation. Franz war schon eine recht bekannte Figur. Aber wen hatte er denn da mitgebracht? Wer zog da so leichten Ganges mit ihm einher? Der Vorhang mit der herrlichen Komposition Guido Renis war noch gesenkt, die Lichter noch nicht abgeblendet, man hatte also Muße, die beiden zu betrachten. »Wer ist denn das?« fragte Frau von Lerch, ehrlich entsetzt. Sie nahm mit ihren Töchtern die vier Vorderplätze ein, welche die der Geschwister gerade überhingen. »Mit Gottes Hilfe«, hatte sie abends zuvor wörtlich zu ihrem Manne gesagt, »mit Gottes Hilfe hat Lori Mattrei sich in den unmöglichen Russen verliebt, so daß jetzt Adeles Chancen sehr gestiegen sind.«

Die arme Adele war ihre Erstgeborene, sehr jung noch immer, aber schon von ihren noch jüngeren Schwestern gedrängt. »Wer ist denn das?« fragte auch Major von Dürr, der auf dem Rücksitz saß, mit unverhohlener Freude, denn mit dieser Erscheinung dort unten konnte Adele, so hübsch sie war, sich nicht messen; wenn sie aber niemand besseren fand, dann durfte er, Major Dürr, um sie werben. Zwar wußte er genau, daß die ganze Familie auf ihn stichelte, ja Adele nannte ihn, wenn sie besonders ungnädig war, den Major Dick. Aber was sollte sie anfangen, wenn sich keiner bot? Dann brauchte er wohl keinen Korb zu befürchten, und dann nahm er seinen Abschied und setzte sich auf seinem Gut in Niederbayern mit ihr zur Ruh’. Arme Adele, kein Wunder, daß auch sie erschrocken fragte: »Wer ist denn das?«

»Eher eine Signora«, sagte einer der Herrn in der Adjutantenloge, »das Etui, in dem sie steckt, scheint mir zu kostbar für eine Signorina.« Major Dürr, kräftig lorgnierend, bemerkte: »Die reine wundertätige Madonna.« Das Wort ging alsbald mit ungeheurem Erfolge in den Rängen um. »Il a déjà de l’esprit comme ses pieds«, rief Zenaide Waldmann. Niemand behelligte ihr Französisch. Der junge Montreuil von der Gesandtschaft hatte einmal geglaubt, mit seinem Deutsch diesem Napoleonisch beispringen zu dürfen. Sie verzieh es ihm nie. Wenn auch! Warum sie so gefürchtet war, wußte kein Mensch. Aber alles zeigte sich bestrebt, sie bei bester Laune zu halten. Daphne, geruhsam zurückgelehnt, blickte zu Lerchs hinauf und sagte: »Ich glaube, die lachen mich aus.« Sie trug die Perlen ihrer Mutter und Smaragdringe in blitzender Fassung. Das blonde Haar stand ein wenig steil von der Stirn ab, fast wie eine goldene Flamme. Die hochgezogenen Augenbrauen gaben dem schmalen weißen Gesicht leicht etwas Unbewegliches, wenn es nicht grade ein halbes Lächeln trug.

Von Notburgas Loge strahlte die Kunde aus, daß mit Gottes Hilfe die wundertätige Madonna »nur« die Schwester sei, und die Vorstellung konnte beginnen.

Aber auch in der Pause gingen manche nicht ins Foyer, um Daphne anzustarren. »Wenn alles mit Opernguckern hantiert, dann genieren wir uns auch nicht«, sagte sie. »Wer ist denn das reizende Geschöpf dort drüben?« und sie fixierte eine Eckloge dicht an der Bühne. »Das ist Lori Mattrei«, sagte Franz.

»Und der schwarze Jüngling? Ist das ihr Mann?«

»Nein, er gilt als ihr Verlobter.«

»Nicht im Ernst?«

»Du fragtest doch gerade, ob er ihr Mann sei? Also kann er auch ihr Verlobter sein.«

Sie stießen nach der Vorstellung scheinbar sehr zufällig auf der Haupttreppe mit ihr zusammen, und Franz machte die Mädchen miteinander bekannt. Aber vorher schon, und ohne daß es eines Wortes bedurft hätte, wußte Daphne, daß er sein Herz an Lori Mattrei verloren hatte. Statt nach Hause, fuhr er seine Schwester noch in die Regina Bar.

»Ein gutes Glas Bordeaux ist, was du heute noch brauchst«, sagte er.

Daphne fragte sich keinen Augenblick, ob es gebräuchlich sei, dort in großer Toilette zu erscheinen. Die Kinder pflegten etwas für richtig zu halten, sobald sie selber es taten. Dieser Hochmut haftete ihnen noch von Constanze her an. Mit ihrer gewohnten Sicherheit ging sie jetzt die Treppen zu dem gemütlichen Lokale hinab und nahm in einer der Nischen Platz. Franz bestellte.

Sie befanden sich beide in nachdenklicher Stimmung. »So werde ich denn also Landwirt«, sagte Franz, »königlich bayrischer Landwirt mit Ökonomie. Landwirtschaft ist meine Laufbahn. Dafür muß ich eines der Mädchen heimführen, die du heute abend gesehen hast. Drunter tut’s Onkel Aribert nicht.«

Daphne dachte an Lori Mattrei: »Nichts zwingt dich«, sagte sie.

»Aber er steht nun einmal dafür. Und die Schlösser gefallen mir. Nur die abgeknüpften Horizonte hierzulande gefallen mir nicht. Sie sind wie die Leut’. Na — gottlob, ihr seid endlich da«, und er erhob sein Glas. »Sobald genug Schnee ist, müssen wir nach Mittenwald. Du läufst dann Ski. Ich habe eine Hütte dort.«

»Um Weihnachten müssen wir Flick holen«, meinte Daphne.

»O nein!« rief er, »noch nicht. Diesen Winter bleiben wir noch unter uns. Sie wird erst siebzehn. Bis nächstes Jahr ist mein Leben geregelt, dann wird sie viel leichter zu verheiraten sein. Möglichst schnell einen Mann. So sehe ich den Fall.«

Daphne schwieg.

»Ich würde ja nichts sagen, wenn sie nicht gerne in ihrem Kloster wäre. Erst im September habe ich sie besucht. Wir sind den Schafberg hinauf- und wieder hinuntergegangen. Was mich anlangt, stehe ich ja bei ihr in Gnaden.«

»Du sagst das so?«

»Ja, über dich, meine Liebe, erhob sie Klagen. Beim Aufstieg waren es wieder ganz andere als beim Abstieg.«

»Warum denn?« rief Daphne bestürzt.

»Immer derselbe Groll: daß sie damals nicht zu Hause war.«

»Aber wie kann sie mir die Schuld geben?«

»Und daß ihr die letzten Worte nicht gegolten haben. Du hättest sie anlügen sollen!«

»An jenem Tage dachte ich nicht daran.«

»Dann tags darauf —«

»Da war es nicht mehr nachzuholen.«

»Mittlerweile lernte sie Violine spielen«, sagte Franz und blickte die Schwester mit seinen blauen Seefahreraugen, die schärfer auf die Ferne als die Nähe sahen, an.

Daphnes Blässe hatte sich vertieft, es war nur mehr der Schatten ihres Gesichtes: ein Schatten zwischen blitzenden Ohrringen. Aber Franz merkte es nicht.

»Und was sagst du zu Carry«, fuhr er fort, »der auch schon gekommen ist. Als ich dich heute abholte, sah ich ihn mit Koffern und Kisten im Regina landen. Wir nehmen ihn mit nach Mittenwald. Nach der Oper wollte er uns übrigens hier treffen, er wird wohl gleich erscheinen«, und er sah sich um.

Daphne war aufgestanden. »Für heute ist es genug«, sagte sie.

An der Treppe aber stießen sie mit Carry Loon zusammen. »Müde«, sagte er zu Daphne, noch ehe er sie begrüßte. »So müde.« Trotz der Dunkelheit sah er es gleich.

»Seit sieben Uhr früh stehe ich herum«, gab sie zurück, »aber die Wohnung ist imstande. Kommen Sie morgen mittag.« Sie überließ ihm die eine Hand. Mit der anderen zog sie den Pelzkragen hoch, alsbald von ihm scheidend. Franz versprach, gleich wiederzukommen. Sie hatten nur ein paar Schritte quer hinüberzugehen. Im Hause setzte der Lift sich eben in Bewegung, aber die Dame, die drinnen saß, ließ ihn geschwind stoppen, und er nahm die Geschwister noch auf. Der höfliche Fahrgast war eine noch junge Amerikanerin, die sanften Löckchen an den Schläfen, der große Ausschnitt stimmten wundervoll zu dem warm aufgesetzten Lächeln. Der Mantel war auf die Bank geglitten. Er war nicht ganz so elegant wie ihr Kleid.

»So hot in here«, sagte sie und stellte sich sodann mit einer Innigkeit, als hinge der Himmel voller Baßgeigen, als Hausgenossin vor. Sie hoffe, fügte sie hinzu, oh, sie hoffe sehr... Es war nicht schwer zu erraten, was sie erhoffte, aber der Lift hatte schon innegehalten, und sie mußte heraus, denn sie wohnte im ersten Stock.

»So glad«, sagte sie noch. Franz ging voran, ihr freie Bahn zu lassen. Sie dankte ihm mit einem Blick, scheu wie der eines Rehs, groß und ein wenig erstaunt wie der eines Kindes aufgeschlagen, noch unvertraut mit allem Falsch der Welt. Oben im Flur platzten die Geschwister aus.

»Schlimmstes U. S. A.«, flüsterte Daphne.

»Rue Clément Marot«, sagte Franzl, »aber aufgemacht wie Titania. Ich werde nicht ihr Esel sein.« Darauf fing er an, die Treppe hinunterzulaufen.

Die Nachbarin indes empfand die Begegnung als ein Ereignis, einen Glücksfall, einen Fang. Sie lauschte und spitzte auch ein wenig; erst als sie hörte, wie Franzl, statt den Lift zu nehmen, die Treppe herabstürzte, zog sie schnell den Schlüssel hervor, dann zauderte sie nochmal. Wenn sie vorgab, ihn nicht zu finden, wie Mimi in der Bohème? Das Eisen schmieden, solang es noch heiß war, und die Bekanntschaft auf dem Fleck ein wenig lebhafter gestalten? Mit einem »so provoking« noch dazustehen, wenn er vorbeikäme? Keine schlechte Idee... Aber dann verließ sie doch die Sicherheit, und sie schlüpfte schnell durch die Tür. Nur den Schlüssel konnte sie in der Eile nicht zurückziehen. Franz sah ihn stecken, es war das erste, das er unter großem Gelächter Carry in der Bar erzählte. Dieser, gesetzter und einige Jahre älter als Franz, fand eine solche Nachbarin nicht erfreulich.

Auch Daphnes langer Tag war noch nicht ganz zu Ende. Sie fiel fürs erste, wie sie war, in ihrem Staat, den Ohrringen und Perlen, auf das Najadenbett, zu erschöpft, um sich zu regen. Es war ein bißchen viel gewesen zu guter Letzt: die Entdeckung von Franzls unglücklicher Liebe, der Schreck über Flick und als Trumpf Carry Loon, ihr heimlich Verlobter. Flick sollte sie bei ihrem Vater ersetzen, bevor sie diesen verließ. Sattsam hatten sie es durchgesprochen. Franz aber hatte recht: es war besser, sie noch ein Jahr in Riedenburg zu lassen, und Carry mußte sich gedulden. Er war ihr unentbehrlich geworden, aber zwei Liebende sind nie gleich stürmisch. Er drängte, sie zögerte. Jener Abend, an dem das weiße Kleid mit den vergilbten Valenciennes auf dem Najadenbett für sie bereit lag, hatte sich vor zwei Monaten zum zweiten Male gejährt. Jener, auch für Carry so unvergeßliche Ball, auf dem sie nie erschien und er sie immer suchte. Eines Tages folgte er ihr nach Rom, architektonische Studien zum Vorwand nehmend.

Loons waren eine Hugenottenfamilie, die nach Genf, dann nach Südtirol, später nach Liechtenstein einwanderte. Carrys Vater hatte eine bildhübsche Waliserin geheiratet und war als Schweizer naturalisiert. Ein schönes Gut, das zwischen Ouchi und Vevey den See überhing, war Carrys Heimat. Aber seine Staatsangehörigkeit behagte ihm nicht recht. Einen Beruf zu haben, gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen in allen Kantonen, und Carry war lieber müßig. Er wählte die Laufbahn des Architekten, ihr ließ sich am leichtesten ausflitzen. Kunstreisen gehörten zum Glück mit dazu. Jetzt war ein Wintersemester daran, um die modernen Bauten in Deutschland zu studieren. »Eine andere Frau ist nicht denkbar für mich. Wollen Sie mich nehmen?« fragte er Daphne, als sie kurz vor ihrer Abreise nach Bayern stand. Alles, was er vorbrachte, klang sehr unverblümt, so wohl vorbereitet es war. Die beiden befanden sich allein, Constantin war zum Abschied bei einem Kardinal. Daphne hatte versprochen, ihn dort abzuholen. »Es wird ihn ja so verdrießen, daß ich einen Hugenotten nehme«, seufzte sie.

»Dann werde ich halt Kathole«, rief er ungehalten.

Bei Loons sagte man Papisten oder Katholen. Eine Urgroßmutter aus Hamburg hatte das so eingeführt. Daphne mußte jedesmal lachen, aber Carrys frivole Bereitwilligkeit ging ihr zu weit. Ihre religiösen Abenteuer, von welchen er nichts wußte, hatten Furchen in ihrem Inneren gezogen.

»Gewisse Fragen offenzulassen, ist auch ein Weg«, lenkte er ein.

»Wenn auch nicht gerade ein Weg«, lächelte sie. Vor Sonnenuntergang brachen sie auf, handelseinig; ihr Weg führte sie über die Villa Doria! Die Bäume ragten in den warmen Tag, flach, von hoch herab waren die Schatten, die Steine leuchteten, und Rom lag ganz und gar vergoldet zu ihren Füßen. Ruderschlägen gleich, stets im Takte, fielen ihre Schritte. Wie tief war sie mit der Form, der Dunkelheit und Größe seines Auges, der Biegsamkeit und Glätte seiner Gestalt, der nervigen, brünetten Hand innerlich beheimatet. Aber auch ihre geistige Intimität fand in jedem Tonfall ihr Genüge, ihren Ausdruck. Sie hatten dasselbe Tempo, und es schlug nie fehl. So verschieden von der armen Helga, die nie vertraut mit Constantin geworden war, deren Gemeinschaft mit ihm zwar hinausreichte über das Grab, aber sich zeitlebens nicht auswirken durfte. Ja, Daphne freute sich, daß Carry schon gekommen war. Nein, es war nicht zu früh, wie eine erste Nervosität sie hatte glauben machen. Aber warum erschienen ihr mit einem Male die Tage ihres Zusammenseins unter dem weiten und, wenn er in allen Tönen noch so leidenschaftlich flammte, dem milden Himmel Roms so viel gesicherter als hier? Vielleicht war es nur das barsche, ungewohnte Grau, die Nässe, der Schnee, den sie hier vorgefunden hatte. Sie schlug die Augen auf. Drei Koffer standen in ihrem Zimmer noch herum, vom Fenster fiel nur ein Stor; die Vorhänge waren noch nicht aufgehängt; vielleicht gab dies den kalten, unwirtlichen Schein, brachte sie deshalb Zuversicht nicht auf. So zage mit einemmal? Langsam löste sie die Kette, das Geschmeide, nahm die Ohrringe ab, erhob sich endlich, um sich auszukleiden. Die Heizung spielte nicht mehr. Ihr fror. Leise ging sie das elektrische Öfchen zu holen. Man hatte es noch nicht ausprobiert. Es stand draußen vor dem Salon. Sie hörte im Zimmer ihren Vater reden und hielt inne. Es war seine Stimme: »Constanze ist tot! Helga ist tot«, sagte er, und als wäre es eine Berichtigung: »Helga ist gestorben!« rief er laut. Daphne schleppte den kleinen Ofen durch den Gang.

Daphne Herbst

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