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Wenn jemand böse wird, hatte das ziemlich sicher mit seiner Kindheit zu tun. Meinte Herr Schlegel in Soziologie. Ob man zum Beispiel geliebt wurde oder geschlagen oder vernachlässigt. Natürlich dachte ich gleich über meine Kindheit nach – und Anjuscha. Das war damals meine Tagesmutter, bei der ich einziehen wollte, weil meine Eltern keine Zeit für mich gehabt hatten. Aber meine Mutter hatte noch mal die Kurve gekriegt und sofort Stunden reduziert, damit sie mich früher bei ihr abholen konnte. Und dann war eigentlich alles ganz in Ordnung gewesen.

Was allerdings andauerte und ich einfach nicht verstand: Warum hatte ich so eine Wut im Bauch? Das war mir in dieser Schulstunde klar geworden. Da kochte etwas in mir, zwar auf kleiner Flamme, aber stetig. Ich erzählte es niemandem, nicht einmal Leon. Es war mir unheimlich. Würde man in mir sonst eine potenzielle Attentäterin sehen? Das Wutfeuer loderte immer besonders heftig, wenn ich irgendetwas nicht hinbekam, wie zum Beispiel einen neuen Tanzschritt oder eine Tonplastik im Kunstunterricht oder meine Eltern davon zu überzeugen, den SUV abzuschaffen und kein Fleisch mehr zu essen. Ich rastete nicht aus oder so. Ich hatte meine Gefühle gut im Griff, atmete dann einfach ein wenig langsamer und tiefer. Das hatte ich auf einem der Yoga-Retreats gelernt, zu denen mich Mama manchmal mitnahm. Sie machte das nämlich genauso. Und es funktionierte gut, zumindest äußerlich. Auf mein inneres Feuer wirkte das ganze Geatme eher wie ein Blasebalg und ich bekam immer mehr Angst, dass jemand mal die Stichflammen abbekommen könnte. Gab es da also etwas Böses in mir?

Dabei war mein größter Wunsch, die Welt zu retten. Nachdem ich das Video von Rezo gesehen hatte, war ich so deprimiert gewesen und alles war so sinnlos erschienen, dass ich ein ganzes Wochenende lang nicht aus dem Bett gekommen war. Wählen durfte ich ja auch noch nicht. Meine Mutter hatte dann eine Meditations-CD laufen lassen, auf der jemand sagte, man solle die Veränderung sein, die man in der Welt sehen wolle. Das leuchtete mir ein. Ich war sofort aufgestanden und hatte ein Demoschild gebastelt und genau diesen Satz daraufgeschrieben: Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt. Mahatma Gandhi. Drum herum hatte ich Fleischlappen, Flugzeuge und Autos gezeichnet und durchgestrichen.

Und mit diesem Schild ging ich nun seit ein paar Wochen jeden Freitagmittag auf Demos. Papa warf Mama vor, mich mit ihrem Esokram infiziert zu haben. Und Mama knallte die Tür zu ihrem Yogazimmer zu und atmete. Aber da ich am Wochenende immer den Schulstoff nachholte, hatte sich die Lage schnell wieder entspannt. Und sie waren sogar ein wenig stolz, weil ich mich für das einsetzte, was mir wichtig war, und trotzdem noch die Schule schaffte … und natürlich weil andere Eltern ihnen sagten, sie könnten stolz auf mich sein.

Aber dann kam die schockierendste Nachricht seit der vom Tod meiner Omi. Da meine juristisch verordnete Onlinezeit für diese Woche aufgebraucht war, saß ich vor dem Fernseher im Wohnzimmer und guckte die Nachrichten. Eine Karte von Hamburg wurde eingeblendet, auf der ein Drittel der Stadt unter Wasser stand, auch die Vier- und Marschlande. Ich blickte gebannt auf die gigantische blaue Fläche, während es mir den Boden unter den Füßen wegzog. Das riesige dunkle Loch, das mich schon seit einiger Zeit ansaugte, schien mich verschlingen zu wollen, ausweglos und unerbittlich. Meine Hände zitterten, als ich auf die Fernbedienung drückte. Meine ganze Welt zitterte.

Wir würden untergehen!

Wir sind die Flut

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