Читать книгу Wir sind die Flut - Annette Mierswa - Страница 8

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»Wir gehen unter.« Die Worte waren wohl sehr laut aus mir herausgepoltert, denn Papa ließ sein Buch fallen und fuhr herum.

»Was?« Er sah die Fernbedienung in meiner Hand. Der Schreck in seinem Blick löste sich auf und die Schutzschilde wurden hochgefahren. »Also Ava, das ist doch Blödsinn.« Er hob das Buch auf und knallte es auf den Tisch. Kant. »Du bist hysterisch. Das ist reine Panikmache. Man sollte den Sender verklagen, so ein Horrorszenario für Hamburg zu entwerfen.« Er stand auf. Mama legte sofort einen Arm schützend um mich. Das tat sie immer, wenn Papa laut wurde. Aber das sanfte Über-den-Rücken-Streicheln regte mich höllisch auf. Ich schüttelte ihren Arm ab.

»Das sagen Wissenschaftler, Papa!«, schrie ich. »Und es betrifft unseren gesamten Stadtteil, unser Haus, die Schule, alles!« Ich lief weinend aus dem Raum und es fühlte sich an, als würde mich eine riesige Flutwelle verfolgen. Papa fluchte im Wohnzimmer. Ich kroch in mein Bett, zog die Decke über den Kopf, faltete mich zusammen wie einen Stadtplan, der ausgedient hatte, bereit, die neuen Koordinaten zu durchdringen …

Alles geht unter. Ein unheilvoller Gedankenstrudel riss mich mit. Unser Haus geht unter. Wie in einem Horrorfilm. Schon bei zwei Grad Erwärmung. Himmel! Fast der gesamte Hamburger Südosten. Und alle machen weiter wie bisher. Warum tut denn keiner was? Verdammt noch mal! Da streiken wir seit Monaten und keiner tut etwas. Die mutlosen Oberbonzen versauen meine Zukunft. Und ich werde untergehen. Meine vertraute Welt wird untergehen.

Wie bei Omi und Opi, als die Flut kam. Omi hatte es bestimmt hundertmal erzählt. Die große Flut. Sie hatten ihr Schlafzimmer im ersten Stock. Und als Omi am frühen Morgen die Treppe hinunterstieg, stand sie plötzlich im Wasser. In Moorfleet war ein Deich gebrochen. Die Flut hatte alles mitgenommen: das neue Auto, den Familienschmuck, sogar das schwere Biedermeiersofa, das an der Krone der alten Tanne hängen geblieben war wie ein gepolstertes Floß. Das Schrecklichste aber war gewesen, dass die beiden Pferde im Stall ertrunken waren, Gulliver und Liliput. Das hatte Omi das Herz gebrochen und sie war noch mit 80 schreiend aufgewacht, weil sie seitdem immer wieder derselbe Albtraum quälte, in dem die beiden Rappen sie mit großen, angsterfüllten Augen ansahen, während das Wasser sie fortriss.

Eine nasse kalte Nase stupste mich. Poppy. Auch Poppy würde mit mir untergehen. Ich drückte das geliebte Fellknäuel fest an mich. Poppy leckte über meinen Arm. Wo sollten wir hin, wenn das Wasser käme? Von überall würden die Menschen in trockene Gebiete strömen. Ich hatte eine Tante in Freiburg … Aber ich wollte nicht nach Freiburg. Ich weinte und Poppy leckte über meine Wange. Hier war alles, was mir etwas bedeutete. Ich wollte meine Heimat nicht verlassen.

Weit nach Mitternacht schlief ich unruhig ein, träumte davon, mit dem Kopf gegen die Zimmerdecke zu stoßen, gegen die mein Bett von hereinströmenden Wassermassen gedrückt wurde. Mehrmals schreckte ich hoch, tauchte aus den Albträumen auf wie eine Ertrinkende, japste nach Luft und sank nach gefühlten Ewigkeiten wieder zurück in die Kissen.

Als es endlich hell wurde und Poppy mir die Hand leckte, stand ich sofort auf. Ich zog mich an, ging mit ihr aus dem Haus, die vertrauten Wege entlang, vorbei am alten Friedhof, dem kleinen Rasenplatz, der aus Vorzeiten stammenden Litfaßsäule, grüßte den Bäcker durch die Fensterscheibe, gab Mokka ein Leckerli, die mir mit Omma Annegret an der alten Pappel begegnete. Ein beliebter Hundetreffpunkt. Mein normales kleines Leben erschien mir heute so kostbar. Ich atmete tief ein, sah in die Baumkrone der Pappel, gab Omma Annegret die Hand, was ich sonst nie tat, verfolgte den schnellen Lauf eines Eichhörnchens und fühlte dabei einen gigantischen Weltschmerz.

Zuhause wäre ich am liebsten wieder ins Bett gekrochen. Hatte eh alles keinen Sinn mehr. Aber Leon klingelte unbarmherzig, also raffte ich mich auf, schnappte meine Tasche, ließ das Frühstück stehen, wuschelte Poppy durchs Fell und verließ mein Zuhause, als wäre es das letzte Mal, während mein Blick über die vertrauten Fotos an der Wand schweifte, die wie ein Tagebuch mein Leben illustrierten: Ava mit dem ersten Zahn, auf ihrem ersten Rad, Ava bei der Einschulung, mit dem Welpen Poppy und immer wieder Ava mit Leon.

»Hey, du Trantüte. Jetzt wird’s knapp.«

»Trantüte? Was ist die männliche Form davon, Tranbeutel?«

Leon grinste.

»Also, du Tranbeutel, hättest ja früher auflaufen können.« Unsere Begrüßungszeremonie folgte: Hände einschlagen, Fäuste aufeinanderdrücken und eine angedeutete Umarmung.

»Also, Ava, normalerweise wartest du ja schon vor der Tür, ne?«

»Bald in Gummistiefeln, dann in so einer Anglerhose mit angenähten Schuhen und irgendwann im Taucheranzug.«

»Hä?«

»Hast du’s nicht gehört? Unser Stadtteil wird komplett untergehen.«

»Ähm, Ava, das bezog sich auf 2050 oder 2100, soweit ich weiß. Kann es sein, dass du da einen Zahlendreher …?«

»Nein. Erstens geht das schneller, als du denkst, und zweitens lebe ich da noch, du Hirni, und drittens haben sie die Nachricht bestimmt beschönigt, damit keine Massenhysterie ausbricht.«

»So ein Blödsinn. Also echt, Ava. Das glaubst du ja wohl selbst nicht.«

»Doch, genau das glaube ich.«

»Ava, du machst dich verrückt. Genau wie damals, als es hieß, wir würden den Köhler zum Klassenlehrer bekommen. Da bist du völlig ausgetickt. Und dann war es die Liebscher. Und schwups war die Welt wieder in Ordnung.«

»Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Jetzt geht es um alles, verstehst du das denn nicht?«

Leon lachte. »Ava, du klingst wie eine durchgeknallte Verschwörungstheoretikerin, die unter Drogen steht. Komm schon. Bis das Wasser wirklich so hoch steigt, haben wir längst tolle neue Erfindungen gemacht, die Hamburgs Untergang aufhalten werden.«

»Weißt du, was, du gigantischer Tranbeutel, du redest wie mein Vater.«

»Ich nehme das mal als Kompliment.« Leon lächelte und seine strahlend blauen Augen glänzten wie kleine Wahrsagekugeln, in denen die Zukunft rosiger nicht aussehen könnte. Und das beruhigte mich tatsächlich. Es war der erste Moment seit der Meldung am Vortag, in dem ich frei atmen konnte und die bleierne Düsternis in mir ein wenig an Gewicht verlor. Wenn ich an Leons Seite war und in diese hellen Augen blickte, konnte mir überhaupt nichts passieren.

Das hatte ich zum ersten Mal gefühlt, als wir sieben gewesen waren. Ich hatte damals dichte schwarze Locken und sah mit meiner roten Schleife im Haar aus wie das Disney-Schneewittchen, als Leon und ich beschlossen abzuhauen. Wir hatten uns zuvor im Schrank versteckt und meine Eltern belauscht, um nicht zu verpassen, wie sie auf unsere Nachricht reagieren würden, die wir auf dem Tisch platziert hatten: ein gezeichneter Koffer, aus dem Quimpi, mein Stoffhund, und Schlumpi, Leons Filzlöwe mit den Märchenwollhaaren, rausguckten. So sollte es zumindest aussehen. Und daneben in krakeliger Schrift: Sint weck nach Panama. Wir hatten uns vorgestellt, dass meine Eltern heulend zusammenbrechen und wir dann aus dem Schrank springen würden, um sie wieder glücklich zu machen. Eine Art Denkzettel sollte das werden, weil sie mich am Morgen fürchterlich angeschrien hatten für etwas, das sie doch eigentlich fröhlich machen sollte.

Leon hatte bei mir übernachtet wie so oft. Wir waren sehr früh aufgewacht und in die Küche geschlichen, um meine Eltern mit einem Kuchen zu überraschen. Was leider schrecklich schiefging. Anstatt Mehl hatte ich Papas teure Flohsamenschalen erwischt und noch dazu war der Boden voller Eiermatsche. Aber hey? War das wirklich so schlimm?

Das mit dem Denkzettel war dann komplett nach hinten losgegangen. Sie hatten sich über unsere Nachricht kaputtgelacht und dann hatte Papa sich auch noch über die falsch geschriebenen Worte ausgelassen. Dabei waren wir sieben! Wir saßen Hand in Hand im dunklen Schrank. Als sie lachten, hörte ich Leon lauter atmen. Wir blieben einfach so sitzen, bis meine Eltern das Zimmer wieder verließen, ohne irgendetwas zu unternehmen. Jetzt machen wir’s, flüsterte Leon. Und dann packten wir tatsächlich unsere Rucksäcke und marschierten los. Bis zur Boberger Düne kamen wir. Leon nahm mich wieder an die Hand und ich fühlte mich sicher. Es war einfach klar: An seiner Hand konnte mir nichts passieren. Das war ein unglaublich tolles Gefühl.

Und während uns die Polizei wenig später bei meinen Eltern ablieferte, ließ er mich nicht einmal dann los, als Mama mich umarmte und dabei weinte wie verrückt. Ich war mir damals sicher gewesen, dass ich Leon niemals verlieren würde. Er war mein Fels in der Brandung, mein bester Freund, mein Ein und Alles.

Jetzt waren meine schwarzen Haare lang und glatt und die rote Schleife bloß noch eine lustige Erinnerung. Wie Schneewittchen sah ich auch nicht mehr aus. Wohl eher wie eine molligere Pocahontas, wobei mollig übertrieben war. Aber Pocahontas! Himmel. Die brach ja fast durch in der Mitte. Meinen Stoffhund Quimpi hatte Poppy abgelöst. Und Leons Löwe Schlumpi war bei unserem Abenteuer verloren gegangen. Das eigentliche Drama des Tages. Dafür bekam er ein LEGO StarWars-Set mit Anakin Skywalker, den er immer in seiner Hosentasche mit sich herumtrug und jedem stolz unter die Nase hielt. Was ziemlich nervte. Doch diese Verbundenheit zwischen uns, dieses Gefühl, irgendwie zusammenzugehören, war geblieben.

Seit ein paar Monaten war da aber etwas Neues, Verwirrendes …. Auf einmal hatte ich Angst, ihn zu verlieren, und wog meine Worte ab, was ich zuvor nie getan hatte. Ich dehnte plötzlich unser Begrüßungsritual aus, um ihn länger berühren zu können. Und wenn ich in diese blauen Wahrsagekugeln blickte, dann wurde mein Herz von einer warmen Welle geflutet. Und das war eine Welle, in der ich gerne untergehen wollte.

Wir sind die Flut

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