Читать книгу Wir sind die Flut - Annette Mierswa - Страница 9
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ОглавлениеHurra, die Welt geht unter donnerte über den Schulhof. Auf der hellen Betonwand des Schulgebäudes brandeten aufgepeitschte Wellen, die ein Beamer aus einem Baum heraus darauf projizierte. Auf den breiteren Ästen saßen Schüler, verkleidet als Froschmänner und -frauen. Sie hatten Flossen an, trugen Taucherbrillen und grölten den Songtext in den frühen Morgen. Am Fuß des Baumes standen zwei Lehrer und reckten ihre Hälse in die Höhe, während überall auf dem Schulhof verstreut Schüler wie tot auf der Erde, beziehungsweise dem Meeresgrund, lagen – ertrunken.
Ich erkannte Fidor, Mayas großen Bruder, der eine Bademütze trug und aus dem Baum heraus laut den Refrain skandierte.
»Wir brauchen EUCH.« Ein blasses Mädchen mit schillernden Plastikschuppen auf ihrem T-Shirt gab Leon und mir Flyer. Sie klang sirenenhaft. Ein weiteres Paillettenmädchen pustete Seifenblasen in die Morgenluft. Ich las: Du hast keine Zeit mehr, also nutze sie. Komm in unsere Aktionsgruppe zur Rettung der Welt. Sei cool und lass dich nicht kaltstellen. Lieber überleben, statt Vorzeit-Bio lernen. Darunter ein Wal mit Flügeln. Lass uns das Unmögliche möglich machen!, stand auf seinem Bauch.
»Genial!«, rief ich dem Mädchen zu.
»Ihr beide könnt sofort mitmachen.« Das Paillettenmädchen zeigte auf die Toten, die nach Luft japsend auf dem Schulhof verendet waren.
»Komm!«, schrie ich Leon zu und zerrte ihn hinter mir her zum Unterwasserfriedhof.
»Nee, das ist mir echt zu blöd.«
»Was? Ist doch eine coole Aktion.« Ich ließ mich zwischen zwei Ertrinkende sinken und zog Leon herunter, der sich murrend neben mich setzte. »Es geht um alles, schon vergessen?«
»Ava, das ist doch nicht dein Ernst!« Er stand auf und blickte sich um. »Gibt’s hier irgendwo eine versteckte Kamera? Ich glaub’s echt nicht.«
Frau Liebscher lief über den Schulhof.
»Hey, die haben wir jetzt. Komm!« Er zog an meiner Hand.
»Nein. Das hier ist wichtiger!« Ich riss mich los.
»Okay, dann geh ich allein.« Und schon war er verschwunden.
Ich spürte den kühlen Boden unter mir. Die Musik wogte über mich hinweg, die Wellen mit ihren Silberkämmen schäumten über die Schulwand. Ich blickte in die Baumkronen, sah den blauen Himmel hindurchschimmern, einen Vogel, der seine Kreise drehte. Ein paar Seifenblasen in Regenbogenfarben. Meine Welt, dachte ich. Meine berauschend schöne Welt. Eine tiefe Traurigkeit überschwemmte mich und nährte einen Schluchzer, der meine Seele flutete wie der steigende Meeresspiegel. Es durfte einfach nicht sein.
»Kommst du nachher zum Planungstreffen bei Alice?« Ein Mädchen neben mir schob die Taucherbrille hoch. Ihre Augen waren so bernsteinfarben wie ihre Haut und die kleinen Perlen in ihren Dreadlocks. Sie hatte nicht nur Flossen an den Füßen, sondern auch an den Händen. Eine reichte sie mir. »Yoda.«
Ich schüttelte eine Flosse und grinste. »Bist du so weise, oder was?«
»Klar. Kommen du musst.« Sie wackelte mit den Flossen, die sie sich neben den Kopf hielt wie übergroße Ohren. Ich lachte und der Schluchzer löste sich auf wie Wachs in der Sonne.
»Ich komme natürlich, Ehrensache.«
Yoda nahm eine Flosse ab und legte mir etwas in die geöffnete Hand. Eine kleine Muschel, rau und betongrau. Dann ließ sie sich zurücksinken und regte sich nicht mehr. Ich schloss meine Hand um die Muschel und blickte wieder in die Baumkrone. Plötzlich war da eine kleine Hoffnung. Ein Zeichen. Ein Anfang gegen das Ende. Ein Wegweiser. Yoda mit den Bernsteinaugen.