Читать книгу Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1 - Anny von Panhuys - Страница 10

7. Kapitel.

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Am Bett des Kindes sass Karola und hing ihren trüben Gedanken nach.

Nur eine kleine Nachttischlampe mit bläulichem Seidenschirm brannte und über das Gesichtchen der Kleinen lag es wie ein hellgrauer Schein.

Karola dachte, wie eine Tote sah das Kind aus und sie nahm sich vor, morgen einen kleinen roten Seidenschirm für das Lämpchen zu machen, damit die Wangen ihres Lieblings davon rosig würden, damit sie sich der Illusion hingeben konnte, die Gesundheit erblühe wieder auf den schmalen Kinderwangen.

Hedwig Ritter trat leise ein.

„Gnädige Frau, ich möchte gern ins Bett, darf ich also gnädige Frau bitten, zu gehn. Herr Overmans ist auch soeben nach Hause gekommen.“

Karola erhob sich zögernd, aber da die Nurse im Zimmer des Kindes schlief, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu entfernen.

An so vieles hatte sie heute abend denken müssen und neue Hoffnungen hatte sie aufgebaut, denn sie wollte immer noch an ein Wunder glauben, darauf hoffen und warten.

Sie warf noch einen letzten, langen Blick auf das schlafende Kind und verliess dann den Raum mit einem leichten Kopfneigen gegen die Nurse.

Weshalb durfte sie nicht das Zimmer mit Trautchen teilen, nicht die ganze Nacht in ihrer Nähe sein?

Aber Lamprecht Overmans hatte bestimmt: Die Nurse muss bei dem Kind schlafen, sie ist als Pflegerin ausgebildet und dafür da, jederzeit dienstbereit zu sein!

Und was Lamprecht Overmans bestimmte, war so gut wie der Befehl eines Vorgesetzten.

Karola fand ihren Mann im Wohnzimmer in einem Korbstuhl sitzend.

Seine Stirn erhellte sich bei ihrem Anblick, in seinen Augen leuchtete es auf.

Sie sah ihn traurig an.

„Wie tot hat Trautchen jetzt wieder in ihrem Bett ausgesehen,“ klagte sie, noch immer unter dem starken Eindruck von vorhin, „aber weisst du, daran trägt nur der blöde blaue Seidenschirm die Schuld, der über dem Nachttischlämpchen liegt, morgen nähe ich einen leuchtend roten. Der rote Schein malt ihr dann rosige Bäckchen.“

Er sagte wie bittend: „Du wirst dich in deiner Angst um das Kind noch zugrunde richten. Denke doch, bitte, auch an mich und daran, dich für mich zu erhalten. Was soll denn werden, mein Lieb, wenn das Unglück, auf das wir doch vorbereitet sind, wirklich geschieht?“

Sie erwiderte seinen Blick voll Verzweiflung.

„Ach, ich nehme mir so oft vor, stark zu sein, schon deinetwegen, aber es gelingt mir doch nicht. Wenn das Unglück wirklich geschieht, ist alles gleich, dann mag werden, was will.“ Sie murmelte: „Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie wirr es in meinem Kopfe aussieht, aber die Angst vor deinem Vater ist doch das Schlimmste.“

Er erhob sich und nahm sie mit unendlicher Zärtlichkeit in die Arme.

„Glaubst du, Karola, dass ich dich über alles in der Welt liebe?“

Sie sah ihn nur stumm an, aber in ihrem Blick lag vollste Bejahung.

Er fragte weiter: „Glaubst du, ich würde dir jemals etwas raten, was nicht zu deinem Besten wäre?“

Sie bewegte verneinend den Kopf.

Er sagte nach längerem Zögern: „Der Doktor und ich wissen zwar keinen Rat, wie du um das Traurigste und Schmerzlichste, um Trautchens Tod herumkommst, aber wir wüssten einen Ausweg, dich von der Angst vor dem Vater zu befreien und zugleich endgültigen Frieden zwischen dir und ihm zu stiften. Es könnte sich dann noch alles gut zwischen euch beiden gestalten.“

Karola erwiderte mit zitternder Stimme: „Nie wird das geschehen, nie, wenn uns das Kind für immer verlässt. Er wird mich dafür hassen!“

Günter Overmans schien die Gelegenheit überaus günstig, Karola jetzt von dem Vorschlage Nelly Browns zu sprechen.

Er sagte leise: „Ich möchte dir gern davon reden, auf welche Weise sich zwischen meinem Vater und dir noch alles gut gestalten könnte.“

Ihr ungläubiges Gesicht liess ihn den Satz noch einmal etwas betonter wiederholen.

Er gab sie frei, schloss die Fenster und zog sie dann sanft mit sich zum Sofa.

„Aber leise, sehr leise müssen wir uns unterhalten, mein Lieb, niemand darf auch nur den Bruchteil eines Satzes auffangen.“

Sie schenkte ihm einen Blick, in dem sich ihre ganze Liebe zu ihm kundtat.

„Ich weiss, Günter, du gäbest wer weiss was dafür, mir helfen zu können. Was ihr euch aber auch ausgesonnen habt, der Doktor und du, ihr werdet bestimmt kein Mittel gefunden haben, deinen Vater günstiger gegen mich zu stimmen, ausser, wenn unser Kind so gesund wird, wie er es wünscht, und dann bedarf es auch keines besonderen Mittels mehr. Dann würde sich alles von selbst zum besten ändern.“

Ihr Mann rang mit sich. Sollte er es wagen oder nicht?

Er begann zögernd. „Wir dachten nämlich, der Doktor und ich, man müsste, falls Trautchen —“

Er stockte schon. Es war doch eigentlich schrecklich, immer von dem möglichen Sterben des Kindes zu reden.

Noch lebte und atmete es ja.

Gottlob, dass es noch lebte und atmete.

Noch durfte er immer wieder versuchen, die Fahne der Hoffnung aufzupflanzen.

Er sagte mit förmlicher Inbrunst: „Unser Trautchen muss gesund werden!“

Um ihre Lippen zuckte der Schmerz.

„Und wenn sie nicht gesund wird?“

„Dann muss mein Vater getäuscht werden, Karola, denn unsere ganze Zukunft hängt davon ab, bedenke das. Und vor allem dein Seelenfrieden. Erinnere dich, bitte, an die kleine Babette, die wir am Schluchsee trafen.“

Karolas Augen weiteten sich.

„Meinst du, wir könnten das Kind an Stelle Trautchens annehmen? Aber ich bitte dich, so etwas ginge doch gar nicht ohne deines Vaters Vorwissen und er müsste doch auch Trautchens Tod erfahren.“

Er bettete ihren Kopf an seine Brust.

„Geliebte kleine Frau, was wir dir vorschlagen, geht etwas weiter. Bitte, erschrick nicht.“

Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Sie legte ihm hastig die Hand auf den Mund.

„Ich soll mein totes Kind gegen die lebende Kleine umtauschen, damit nach Davos gehen, mindestens ein Jahr dort leben und dann mit dem falschen Trautchen nach Stuttgart zurückkehren? So etwas soll ich tun? Davon soll ich sprechen und darüber nachdenken, und mein Kind lebt noch! Günter, mein Kind, unser Kind, lebt noch, und du redest davon, als sei es schon gestorben. Das ist ja furchtbar! Und furchtbar ist die ganze Zumutung. Glaubst du, eine einzige Mutter auf der Welt würde ihr Kind auf diese Weise hergeben? Täte sie es, verdiente sie den Namen Mutter nicht. Günter, dem Doktor nehme ich den Vorschlag nicht einmal so übel, er hat sein eigenes Interesse im Auge, er meint es wahrscheinlich sogar gut mit uns, aber wenn er Trautchen noch so gern hat, sie bleibt für ihn immer nur ein kleines fremdes Mädel. Doch dir, Günter, habe ich nach diesem Vorschlag sehr viel zu verzeihen. Und ich tue es, weil ich weiss, nur durch deine Liebe zu mir konntest du dich soweit verirren.“

Günter Overmans streichelte ihre blassen Wangen.

„Wenn uns Trautchen erhalten bleibt, brauchen wir niemals wieder davon reden, wenn es aber anders kommt —“

„Und wenn es anders kommt,“ empörte sie sich, „so tausche ich doch mein Kind nicht um wie eine Ware!“

Er lächelte müde.

„Du hast wohl recht, mein Lieb, ganz recht, und ich bin ein miserabler Mensch, dir so etwas zuzumuten. Aber wenn das Glück gegen uns sein sollte, wenn Trautchen fort muss und mein Vater dich weiter, oder wie zu erwarten ist, noch mehr quält, dann kann und darf ich nicht mehr untätig zusehen, dann lasse ich es darauf ankommen und wenn er uns die Wege weist.“

Sie erwiderte ernst: „Auch ich bin sehr, sehr glücklich durch dich, Günter, aber, bitte, erwähne das nie mehr, was du mir vorhin unterbreitet hast.“

Sie sah ihn bewegt an.

„Ich bin im Grunde ein eitles Ding, ich gebe das ehrlich zu. Aber mein totes Kindchen gäbe ich nicht her, um mir damit ein reiches, sorgloses Leben zu erkaufen.“

Er küsste sie innig.

„Noch einmal, mein Lieb, verzeihe, dass ich dir vorschlug, was jene Frau dem Doktor vorgeschlagen.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ein toller und sonderbarer Vorschlag ist es, und handelte es sich nicht um mein eigenes geliebtes Kind, fände ich das Gaukelspiel, das die alte Tänzerin ausgesonnen, fast lächerlich.“

Sie beendete das Thema.

„Etwas anderes möchte ich noch mit dir besprechen, Günter. Ich las nämlich heute ganz zufällig in einer Freiburger Zeitung von einer namhaften Kinderärztin dort. Es war ein kurzes Feuilleton über sie. Man brächte kranke Kinder aus aller Herren Länder zu ihr, um ihr Urteil zu erfragen, hiess es. Und ich möchte nun gern, dass sie unser Trautchen untersucht.“

„Das ist eine gute Idee,“ lobte er, „wir wollen darüber morgen früh mit dem Doktor reden.“

Am nächsten Morgen traf er Just Frank, der schon von einer seiner Frühpromenaden zurückkehrte, in der Nähe des Hauses, und erzählte ihm gleich von der Freiburger Aerztin.

Der Doktor war sofort bereit dazu, das Urteil der Aerztin anzurufen.

„Ich begreife nur nicht, dass ich noch nicht selbst daran gedacht habe,“ verwunderte er sich nachdenklich, „Frau Dr. Lütteritz ist ja eine Berühmtheit in unserem Vaterlande. Sie soll eine riesige Praxis haben, die selbst den Neid der Gerechten erregt, hörte ich.“

Er sah Günter Overmans fragend an.

„Haben Sie Ihrer Gattin in der betreffenden Angelegenheit schon eine Andeutung gemacht?“

Der Gefragte nickte.

„Ja, schon gestern abend, die Gelegenheit war gerade günstig. Aber meine Frau erklärte mir, niemals würde sie einwilligen, niemals — und seien wir ehrlich, Herr Doktor, unnatürlich wäre es, wenn sie anders dächte. Ich jedenfalls schäme mich, auch nur ein paar Stunden lang anders gedacht zu haben.“

Just Frank kniff ein wenig die Lippen ein, aber er wagte dem festen Ton gegenüber nicht das bescheidenste Wörtchen einer Erwiderung.

Günter Overmans fasste den Doktor unter, ging mit ihm auf und ab vor der Gartentür, und erzählte ihm nun, was er gestern abend noch zufällig belauscht, dass er aber seiner Frau davon noch keine Mitteilung gemacht, weil er fürchtete, sie aufzuregen und weil auch so rasch kein Ersatz für die bösmäulige Nurse zu verschaffen war.

Der Doktor widersprach.

„Sie dürfen das Frauenzimmer keinen Tag länger in der Nähe Ihrer Gattin dulden, von der sie so geringschätzend spricht.“

Karola war eben aus der Gartentür auf die Strasse getreten und hatte den Satz aufgefangen. Als die Herren gerade Kehrt machten, stand sie vor ihnen und fragte, den Doktor dabei ansehend: „Wen darf mein Mann nicht länger in meiner Nähe dulden, wer spricht geringschätzend von mir?“

Günter Overmans erschrak über Karolas unvermutetes Erscheinen, aber was blieb ihm jetzt weiter übrig, als ihr die Wahrheit zu sagen, wenn auch in etwas zarterer Form.

„Rausschmeissen! Ganz energisch rausschmeissen!“ riet Just Frank. Und sich an Karola wendend, meinte er: „Ich glaube, Sie werden auch allein mit der Pflege des Kindes fertig, gnädige Frau, wenigstens für einige Tage. Zugleich rate ich Ihnen, Ihre Zelte hier abzubrechen, da auch die Vermieterin hier sich nicht sehr taktvoll benommen hat. Sie durfte das Geklatsche der Ritter gar nicht anhören. Ich schlage vor, so bald wie möglich mit dem Kind nach Davos überzusiedeln und in Freiburg Station zu machen, um die Kinderärztin Dr. Lütteritz zu besuchen.“

Karola nickte. „Ja, Herr Doktor, so soll es sein! Im übrigen bin ich glücklich, wenn ich mich mehr um Trautchen kümmern darf, und nicht immer seitab zu stehen brauche, als sei ich von der Nurse nur aus Gnade und Barmherzigkeit zugelassen.“

„Also ist ja alles in bester Ordnung,“ meinte Just Frank, „und nun los, gehen wir der Ritter gleich zu Leibe, dann haben Sie den unangenehmen Fall wenigstens bald hinter sich.“

Sie betraten alle drei das Haus gemeinsam und betraten gemeinsam die Stube, die der Nurse und dem Kind als Schlafzimmer diente.

Es war darin schon tadellos aufgeräumt und die Fenster standen weit offen, um die köstliche Morgenluft einzulassen.

Trautchen hatte heute ihren schlechten Tag, sie lag im Bett und ihr blasses Gesichtchen hob sich gar so fahl ab von der schneeigen Weisse des Kopfkissens.

Karola nahm sofort neben dem Lager Platz, redete leise und zärtlich mit dem Kinde. Den Gruss Hedwig Ritters hatte sie ebenso überhört, wie ihn die beiden Herren überhört hatten.

Die Nurse riss die Augen auf, sie begriff nicht, dass man es wagte, sie unhöflich zu behandeln, denn sie fühlte sich durch die Protektion Lamprecht Overmans als äusserst wichtige Person.

Was wollte man nur von ihr?

Der Doktor sah geradezu tückisch aus, fand sie.

Sie blieb nicht lange im unklaren darüber, was man von ihr wollte.

Günter Overmans trat ziemlich dicht an sie heran.

„Fräulein Ritter, ich empfehle Ihnen, sich eine andere Stellung zu suchen, jedenfalls sind Sie von dieser Stunde an entlassen. Sie werden sich wahrscheinlich noch an Ihre Unterhaltung mit Frau Blümli, unserer Wirtin, vom gestrigen Abend erinnern. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, mitanzuhören, in welchem verletzenden Tone Sie von meiner Frau sprachen. Das ist der Entlassungsgrund. Mit dem Kind haben Sie gar nichts mehr zu tun, und im übrigen werde ich Ihnen das Gehalt für die nächsten drei Monate als Entschädigung für die sofortige Entlassung zahlen.“

Hedwig Ritter war bei den ersten Worten, die sie über den Kündigungsgrund aufklärten, zusammengezuckt.

Sie hätte sich selbst ohrfeigen mögen für ihre Unvorsichtigkeit von gestern abend.

Ihre schräg stehenden Augen glimmten ihn an wie die Augen einer tückischen Katze, und die Lippen aufwerfend, hielt sie ihm entgegen: „Ich bin von Herrn Overmans senior engagiert worden und kann nur von ihm entlassen werden.“

„Trautchen ist mein Kind, und mein Vater würde sich in so einem Fall, wie Sie ihn durch Ihre Dreistigkeit geschaffen, bestimmt nicht für Sie verwenden.“

„Nein, ganz bestimmt nicht,“ sekundierte ihm Just Frank und er warf Hedwig Ritter einen herausfordernden Blick dabei zu.

Sie lachte kurz und spöttisch auf.

„Tanzen Sie nur immer mit ums goldene Kalb, Herr Doktor, machen Sie sich beliebt bei den Overmans, allzu lange wird das Vergnügen sowieso nicht mehr dauern. Denn wenn Sie die Wunderkur nicht zustande bringen, die Herr Overmans senior von Ihnen erwartet, sind Sie ja doch nicht viel mehr als der liebe Niemand, dann ist die Leiter umgeplumpst für immer, auf der Sie sich schon ganz hoch oben gesehen als bekannter Stuttgarter Arzt.“

Sie wandte sich Günter Overmans zu.

„Wann kann ich mein Geld erhalten?“

„Sofort!“ gab er zurück.

„Schön! Und damit Sie Bescheid wissen: Ich fahre von hier aus nach Stuttgart und beschwere mich,“ trumpfte sie auf.

Er sagte erregt: „Am liebsten möchte ich Sie hinauswerfen, aber ich befinde mich nicht in meinem eigenen Hause.“

Hedwig Ritter erwiderte scharf: „Nein, Sie befinden sich hier nicht in Ihrem eigenen Hause, aber in Stuttgart ist es doch um kein Jota anders. Die Villa am Herdweg gehört Ihrem Vater, und ob er Ihnen und Ihrer Frau, wenn Sie ohne das Kind ankommen, auch nur noch das Wohnrecht darin lässt, ist sehr zweifelhaft.“

„Was wagen Sie, Unverschämte!“ schrie sie Günter Overmans an.

Sie war zwar ein paar Schritte zurückgewichen, aber sie hatte noch die Stirn, zu antworten: „Ich wage es, die Wahrheit zu sagen. Und wenn Sie von Bad zu Bad, von Kurort zu Kurort ziehen mit dem Kind, und wenn Sie ausser Dr. Frank noch ein paar Hof- und Leibärzte mitschleifen auf Kosten des millionenschweren Vaters, so erreichen Sie doch nichts, etwas früher oder später gibt es keine Traute Overmans mehr.“

Karola nahm sich in Gegenwart des Kindes mit äusserster Kraft zusammen, aber sehr schwer, unendlich schwer wurde ihr die erquälte ruhige Haltung.

Es hatte entsetzlich grausam und herzlos geklungen: Etwas früher oder später gibt es keine Traute Overmans mehr!

Auch Günter musste sich zusammenreissen, sonst wäre er mit geballten Fäusten auf die hämisch Dreinblickende zugestürzt.

Das Kind aber blickte mit müden, teilnahmelosen Augen von einem zum anderen, weil alle so böse Gesichter machten.

Günter Overmans holte seine Brieftasche hervor und zählte mehrere Scheine ab.

„Hier ist Ihr Gehalt für diesen Monat und die drei nächsten Monate.“

Sie nahm das Geld, stopfte es nach sorgfältigem Durchzählen in die Tasche ihres braunen faltigen Rockes.

Günter Overmans befahl: „Und jetzt fort mit Ihnen! Das Postauto fährt in ein und einer halben Stunde hinunter an den Bahnhof Titisee. Sie können noch bequem packen und es erreichen.“

Hedwig Ritter sagte dreist: „Ein Zeugnis verlange ich auch!“

Günter Overmans neigte zustimmend den Kopf.

„Natürlich können Sie ein Zeugnis von mir erhalten. Vorausgesetzt, es liegt Ihnen daran, sich durch meine Unterschrift bestätigen zu lassen, dass Sie eine Heuchlerin und gemeine Person sind!“

Sie fauchte förmlich vor Wut.

„Gut, ich verzichte auf Ihr Zeugnis, aber denken Sie daran, noch ist nicht aller Tage Abend, und Ihr Püppchen da wird sich ja wohl in Kürze von Ihrem Vater noch ganz andere Dinge sagen lassen müssen, wie ich jetzt von Ihnen.“

Sie zeigte ungeniert mit dem Finger auf Karola.

Nun ging sie zur Tür.

„Ich will meinen Koffer vom Flur holen und dann ersuche ich Sie, das Zimmer zu verlassen, bis ich gepackt und mich umgekleidet habe.“

Karola nahm das Kind aus den Kissen.

„Du darfst in Muttis Bett weiter ausruhen, mein Herzchen.“

Die Kleine lächelte matt und drückte sich eng in die schützenden Mutterarme.

Hedwig Ritter stand an der weitgeöffneten Tür und liess die drei an sich vorbeigehen.

Ihre Augen sprühten Wut, als sie erregt rief: „Vielleicht kommt einmal im Leben eine Gelegenheit, mich Ihnen erkenntlich zu zeigen für den heutigen Tag, der Zufall spielt ja oft wunderlich!“

Das Ehepaar tat, als höre es gar nichts, Just Frank aber lachte ihr ins Gesicht: „Leben Sie wohl, Sie Sanftmütigste, Sie Perle aller Kinderpflegerinnen!“

Die Nurse trat ins Zimmer zurück und warf die Tür ins Schloss, dass Frau Blümli entsetzt aus der Küche gelaufen kam. Aber sie begriff rasch, um was es sich handelte.

Erstens tat das sonst so freundliche junge Ehepaar sehr zurückhaltend und zweitens teilte ihr Günter Overmans mit, man würde morgen bereits abreisen.

Sie tappte erschreckt in die Küche zurück und dachte reumütig an den gestrigen Abend.

Als sich Hedwig Ritter von ihr verabschieden wollte, wickelte sie ihre Hände fest in die Schürze und über die Schulter weg schimpfte sie: „Machen Sie nur, dass Sie fortkommen, ich dank’s Ihnen bestimmt nicht, dass Sie mir die besten Gäste, die ich seit langem gehabt, zum Hause hinausgescheucht haben. Sie Babbelliese!“

Da wandte sich die Nurse, aber die gleichmütige Miene, die sie aufsteckte, war erheuchelt, denn der Zorn erstickte sie fast.

Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1

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