Читать книгу Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1 - Anny von Panhuys - Страница 4
1. Kapitel.
ОглавлениеKarola Overmans hübsches Puppengesicht war über und über von Tränen nass, förmlich gebadet hatten sich Wangen und Kinn in der Tränenflut, die nicht versiegen wollte.
Ihr Mann lief mit grossen Schritten im Zimmer umher, in dem mit allerlei luxuriösem Tand vollgestopften Damenzimmer, wo sich seine Frau am allerwohlsten fühlte.
Die zierliche Karola schluchzte zum Erbarmen.
„Was soll nur werden, Günter? Lieber, einziger Günter, was soll nur daraus werden? Trautchen wird jeden Tag weniger, ich habe es Dr. Frank heute deutlich angesehen, er glaubt nicht mehr an ein Besserwerden. Und wenn Trautchen sterben müsste —“
Sie rang die kleinen schmalen Hände und die Erregung versetzte ihr den Atem.
Sie packte ihren Mann am Aermel, krampfte sich darin fest.
„Um des Himmelswillen, Günter, höre endlich auf, durch das Zimmer zu marschieren, das macht mich so nervös, dass ich kaum noch weiss, was ich rede.“
Günter Overmans fuhr mit seinem Taschentuch leicht über das verstörte Antlitz der geliebten Frau.
„Liebste Karola, bitte, rege dich nicht so furchtbar auf, damit verschlimmerst du ja nur alles! Bedenke, wenn zum Beispiel mein Vater jetzt gerade hereinkäme und dich in diesem völlig aufgelösten Zustand sähe!“
Sie hob mit einem Ruck den Kopf und ein leichter Entsetzensschrei entrang sich ihr.
„O, Günter, wäre das furchtbar, wenn dein Vater mich so überrascht hätte. Dann hätte er mir bestimmt wieder viele böse Worte gegeben und behauptet, ich sei schuld, dass Trautchen krank ist.“
Günter Overmans strich über ihr leichtgewelltes hellblondes Haar, fragte fast heftig: „Was hat er dir denn wieder für Liebenswürdigkeiten gesagt?“
Sie hob den Blick.
Dunkelblaue grosse Augen besass Karola, aber die Lider, vom vielen Weinen rot und angeschwollen, nahmen den blauen Sternen alle Schönheit. Und um den Mund zuckte es schon wieder verdächtig, als bereiteten sich neue Tränenströme vor.
„Er hat gesagt, ich sei körperlich so ein Elendsmenschlein, so eine erbärmliche Hand voll Kleider mit nichts darin als ein paar Hühnerknochen, dass er dich nicht begreife und ihm das Kind leid tue, das mich Mutter nenne. Zum Glück verfüge das Kind ja über ein kräftigeres Knochengerüst und sei deshalb, und auch seinem Gesicht nach, ein echtes Overmanskind und er hoffe darum, es würde sich von seiner Schwäche erholen. Wenn es aber stürbe, sei das Selterswasser daran schuld, das in meinen Adern an Stelle von gesundem, rotem Blut laufe.“
Sie schluchzte schon wieder.
„Fast wörtlich hat er das zu mir gesagt, und als ich etwas entgegnen wollte, hat er mich angeschrien, er habe nun mal einen Narren an dem Kind gefressen und mit Trautchens Existenz stehe und falle die deine und die meine.“
Sie schlang die Arme um den Hals des vor ihr Sitzenden.
„Du kennst ja deinen Vater, weisst, er kann mich nicht leiden, und wenn es nicht um des Kindes willen wäre, könntest du mit mir hingehen, wo du wolltest. Seine Abneigung gegen mich ist so stark, weil du mich eigentlich gegen seinen Willen geheiratet hast, dass er auch auf dich keine Rücksicht nehmen würde.“
Günter Overmans nickte traurig.
„Leider ist Vater in vielen Dingen sehr hart und wir können im Grunde noch froh darüber sein, dass unser kleines Mädel sein ganzes Herz erobert hat. Unbegreiflich will es mir sogar manchmal scheinen. Alle die Liebe, um die ich als Kind und Heranwachsender vergebens bei ihm geworben, die schenkte er freiwillig unserer Kleinen.“
Sie lehnte ihre Wange fest an sein ihr zugeneigtes Gesicht.
„Gottlob, ist so ein Ausfall selten, meist beachtet mich dein Vater gar nicht, er hat zuweilen eine Art, über mich wegzugucken, die fast so wehe tut wie seine Zunge.“
Günter Overmans besann sich auf wirksame Trostworte, als es klopfte.
Die beiden sich umschlungen Haltenden fuhren auseinander und Karola sprang auf, wandte sich dem Fenster zu.
Es brauchte niemand zu sehen, wie sehr sie geweint hatte.
Das Mädchen trat ein, meldete mit einer Stimme, die förmlich von Respekt durchtränkt war: „Herr Overmans Senior ist eben gekommen und gleich zu dem Kind gegangen.“
„Schön!“ Günter winkte dem Mädchen, sich gleich wieder zu entfernen, und als sich die Türe geschlossen, nahm er den Kopf seiner Frau in beide Hände.
„Mut, du kleiner zusammengebrochener Lebenskamerad! Wasch dir die schönen geliebten Guckerln klar. Er darf nichts von unserer Angst ahnen, sonst trampelt er noch mehr auf uns herum, wie es leider schon geschieht. Und das Schlimmste ist es, sich nicht dagegen wehren zu können!“ In seinen grauen Augen blitzte es auf. „Zuweilen möchte ich es darauf ankommen lassen, möchte ihm entgegenrufen: Entweder respektierst du die Frau, die ich lieb habe, wie es sich gehört, oder ich werfe dir alles vor die Füsse, laufe mit Frau und Kind in die Welt hinein, erobere mir mit meinen beiden Händen ein bescheidenes Glück.“
Karola starrte ihn entsetzt an.
„Liebster, bester Günter, geradezu Wahnsinn wäre es, wenn du das tätest! Und auf ihn würde es nicht einmal Eindruck machen. Oder vielleicht doch,“ überlegte sie, „weil er das Kind dadurch verlöre. Das mit dem bescheidenen Glück erobern, ist etwas sehr Unsicheres. Wie wenigen gelingt es! Deine Liebe und Besorgnis gleicht ja alles, was mir dein Vater antut, reichlich wieder aus.“
Er war froh, sie wieder ruhiger zu sehen und küsste sie zärtlich.
Karola huschte in das mit allen Bequemlichkeiten eingerichtete Badezimmer. Dort wusch sie sich das Gesicht mit heissem Wasser, das Tränenspuren viel leichter auslöscht wie kaltes, spülte mit kühlem Wasser nach und bediente sich einiger kosmetischer Mittel.
Danach fühlte sie sich leidlich frisch, und nach prüfendem Blick in den Spiegel verliess sie die Badestube nach dem Korridor zu.
Einen Augenblick blieb sie tiefaufatmend draussen stehen.
Sie hörte hinter der Tür gegenüber sprechen, eine rauhe, harte Stimme fuhr eben über eine Antwort ihres Mannes hin wie mit grobkörniger Feile.
Karola hätte am liebsten Kehrt gemacht.
Die Angst vor Lamprecht Overmans, ihres Mannes Vater, bäumte sich wieder in ihr auf. Diese Angst, die ständig in ihr war, seit sie dem Gefürchteten zum ersten Male gegenübergestanden.
Sie war eine blutjunge arme Waise gewesen, als sie hier nach Stuttgart zu einer alten vornehmen Dame als Gesellschafterin kam, in deren Haus sie Günter Overmans kennen und lieben lernte, der sie aber erst nach vielen aufreibenden Auseinandersetzungen mit seinem Vater heiraten durfte. Sie war von einer geizigen und engherzigen Tante in einem abgelegenen württembergischen Nest erzogen worden, aber gerade, weil ihr die Flügel von Kind an zu sehr beschnitten wurden, hatte ihr von je die Sehnsucht nach Reichtum, Wohlleben und schönen Kleidern wie ein Fieber im Körper gesteckt, deshalb hatte ihr wohl die Erfüllung dieser Sehnsucht als herrlichstes Zukunftsbild vorgeschwebt.
Karola atmete noch einmal tief auf. Leicht war es wahrhaftig nicht, Lamprecht Overmans Schwiegertochter zu sein, aber sie brauchte sich doch von der galligen Tante keine Bitternis mehr einimpfen lassen, brauchte keine Launen einer unzufriedenen Brotherrin mehr ertragen, wie damals als Gesellschafterin. Sie lebte doch bequem, hatte alles in Hülle und Fülle, war eine elegante vielbeneidete Frau, besass wertvollen Schmuck und durfte mit Günter glücklich sein. Dafür musste sie schon das Opfer bringen, sich von Lamprecht Overmans ein bisschen tyrannisch behandeln zu lassen.
Sie bereute immer mehr, Günter etwas von den letzten Schroffheiten seines Vaters mitgeteilt zu haben.
Sie dachte, etwas froher gestimmt, ihr Mädelchen würde sich ja auch allmählich wieder erholen, so ein vierjähriges Dingelchen konnte doch wieder gesund werden.
Sie hatte die Miene des Arztes falsch gedeutet, hatte Gespenster gesehen.
Ein kleines Lächeln um die vollen Lippen, betrat sie das Spielzimmer des Kindes.
Lamprecht Overmans vierschrötige Gestalt sass in einem mit buntem Kretonne überzogenen Sessel, Klein-Traute hatte er im Arm liegen, wiegte sie langsam in täppischer Zärtlichkeit hin und her.
Die Nurse stand vor ihm und sagte eben: „Herr Dr. Frank ist gar nicht zufrieden mit dem Befinden des Kindes, es wird täglich weniger trotz der guten Pflege, ich sehe es deutlich.“
„Ich sehe es ebenfalls,“ bestätigte Lamprecht Overmans, und sein Gesicht, das dem des Sohnes ähnelte, nur dass bei ihm alles ins Vergröberte, fast Brutale verzogen war, verfinsterte sich. Er machte eine Kopfbewegung zur Nurse: „Sie können einstweilen gehen.“
Ein glimmender Blick unter halbgeschlossenen Lidern flog Karola entgegen, an der vorbei die Nurse das Zimmer verliess.
„Guten Tag, lieber Vater,“ Karola erzwang ihr freundlichstes Lächeln, „wie lieb von dir, dich so oft um Trautchen zu kümmern. Aber sie hängt auch so sehr an dir, sie fühlt die Liebe, die du ihr entgegenbringst.“
Lamprecht Overmans berührte mit verletzender Flüchtigkeit die ihm entgegengestreckte Hand.
„Das Mädelchen soll meine Liebe auch fühlen, es ist mein ganzes Glück, das Würmchen. Wenn nur die Furcht nicht in mir sässe, es verwandelt sich allmählich auch in so eine Mondscheinprinzess wie du bist.“ Er sah missbilligend den Sohn an, der ein paar Schritte von ihm entfernt Platz genommen. „Sowas zu heiraten! Eine Bretzel vom Bäcker ist handfester, und wenn man Hunger hat, kann man sie wenigstens noch vertilgen.“
Karola behielt ihr Lächeln bei. Sie war es ja gewöhnt, von ihrem Schwiegervater unangenehme Dinge anhören zu müssen.
„Lass, bitte, das Zähnefletschen,“ fuhr er sie jetzt missbilligend an, „auf mich übt es keinerlei Wirkung aus, wenn du mir dein tadelloses Gebiss zeigst! Und nun wollen wir einmal deutsch miteinander reden, da wir gerade beisammen sind, wir drei, die allein die Geschichte angeht.“
Er erhob sich, setzte die Kleine, deren dunkelbraunes Haar sich in kurzen Löckchen um das Köpfchen legte, in einen bequemen Stuhl, schob ihr ein neues Bilderbuch, das er aus seiner Tasche gezogen, in die kleinen Hände und sagte weich: „Jetzt guck dir die Putthühnchen und Miaukätzchen an, Trautchen.“
Die Kleine, deren Grauaugen in einem dichten Kranz langer schwarzer Wimpern und unter schmalen schwarzen Brauen standen, lächelte matt und gehorsam.
Lamprecht Overmans finsterer Blick streifte das Ehepaar.
„Ich habe mit Dr. Frank gesprochen, ich war vorhin bei ihm,“ begann er in einem Tone, der förmlich mit Feindseligkeit geladen war, „und was ich da hörte, war leider höchst betrübend.“
Er sah Karola an. Sein Blick tat ihr weh.
Der letzte klägliche Rest ihres Lächelns zerbrach davor.
„Es ist überhaupt nicht recht festzustellen, was dem Kind fehlt. Sein Blut läuft träge, sein Puls schlägt schwach, das Herz arbeitet mühsam, dazu kommt der Lungenspitzenkatarrh. Es ist zusammen ein bisschen viel für so ein Dingelchen. Ich setzte Dr. Frank sozusagen die Pistole auf die Brust und da gab er denn zu, er glaube nicht, dass die Kleine noch lange am Leben bleibe. Er rät zu Luftveränderung, sobald als möglich, meint, vielleicht liesse sich dadurch das Wunder bewirken, meinen Liebling am Leben zu erhalten. Hat ein Overmansgesicht die Kleine und ihre Art ist die Art der Overmans, aber die Armseligkeit ihrer Konstitution, die immer mehr zutage kommt, verdankt sie dir!“
„Lieber Vater, ich bitte dich,“ begann die junge Frau verängstigt. Weiter brachte sie nichts hervor.
Günter erhob sich.
Sein Vater ging doch zu weit in seiner Abneigung gegen Karola.
Er sagte etwas scharf: „Die Kleine hatte sich beim Baden durch die bodenlose Nachlässigkeit des früheren Kinderfräuleins eine starke Erkältung zugezogen, wie du weisst, und die folgenschwere Bedeutung der Erkältung wurde nicht sofort richtig erkannt. Aber Karola trägt doch keine Schuld daran. Sie ist doch vollkommen gesund.“
Lamprecht Overmans hob ein wenig die breiten Schultern.
„Ob so oder so, die Schuld an dem Dahinsiechen des Kindes trägt deine Frau! Entweder hat sie dem Kind die Schwächlichkeit vererbt oder sie ist eine miserable Mutter. Das Kinderfräulein ist nicht allein verantwortlich. Als Mutter kümmert man sich um alles, was das eigene Kind angeht. Wenn die Folgen der Erkältung so vernichtende sind, so ist das nur ein Beweis dafür, dass Frau Karola Overmans, die Zeit zu stundenlangen Besprechungen mit ihrer Modistin hat, ihr kleines Mädel ganz der Willkür des Kinderfräuleins überliess. Es ist ein Beweis dafür, dass sie nicht Zeit fand, beim Baden zugegen zu sein und Obacht zu geben.“
Er kam nicht weiter. Karola streckte ihm flehend die gefalteten Hände entgegen.
„Um des Himmelswillen, Vater, martere mich doch nicht zu sehr. Glaube mir, ich habe mir schon so und so oft ähnliche Vorwürfe gemacht, aber es nützt doch nichts.“
Ihre Stimme war tränenschwer.
Günter tat seine arme Frau bitterleid und der Zorn gegen seinen rücksichtslosen Vater wallte heiss in ihm auf.
Aber ein rührend bittender Blick Karolas beschwichtigte ihn.
Sie sagte leise: „Wenn Dr. Frank Luftveränderung vorschlägt, so bin ich sofort bereit, überall mit dem Kind hinzureisen, wohin er meint.“
„Um darüber zu reden, bin ich gekommen,“ gab er unfreundlich zurück. „Vorläufig soll das Kind nach St. Blasien im Schwarzwald, anschliessend daran nach Davos. Dr. Frank verspricht sich viel davon.“
Der schroffe befehlende Ton störte Karola gar nicht mehr, denn wie eine Himmelsbotschaft klang es ihr: Dr. Frank verspricht sich viel davon!
Also hatte sie bestimmt viel zu düster gesehen, als sie an ein Sterbenmüssen des Kindes gedacht.
Ihre Augen leuchteten auf, sie musste fröhlich dreinblicken.
„O, Vater, pass nur auf, unser Trautchen wird wieder frisch und gesund!“
Die Kleine hustete leicht.
Sofort war die junge Frau bei ihr.
Sie streichelte das Kind.
„Wir reisen bald weit fort, Trautchen, und dort wirst du ganz geheilt von dem bösen Husten. Mit der Eisenbahn fahren wir weit in die schöne Welt hinein und du wirst sehr, sehr viel sehen. Viel mehr, wie in allen Bilderbüchern zu sehen ist.“
Die Kleine blinzelte schläfrig.
„Trautchen ist müde, Mutti, Trautchen ist müde von die viele Bilder angucken.“
Ihr Köpfchen neigte sich seitlich herab zur Schulter.
„Bringe das Kind zu Bett!“ rief Lamprecht Overmans Karola zu. „Das heisst, die Nurse soll es tun, diese Person ist sich ja ihrer Verantwortlichkeit mehr bewusst als die vorige.“
Er ging zur Klingel, befahl dem eintretenden Mädchen: „Die Nurse soll Trautchen zu Bett bringen, das Kind bedarf der Ruhe.“
Das Ehepaar wechselte einen langen Blick.
Dass Trautchen auch Eltern besass, vergass Lamprecht Overmans meistens, wenn er, was man ja genau wusste, nur des Kindes wegen den Fuss in die elegante Villa am Herdweg setzte, darin seine ihm so unsympathische Schwiegertochter die Herrin war.
Die Nurse, Hedwig Ritter, erschien sofort und Lamprecht Overmans sah zu, wie das Kind im Nebenzimmer von ihr in das hübsche weisse Bettchen gelegt wurde.
Er selbst zupfte noch die breiten rosa Schleifen zurecht, die den schneeweissen Betthimmel aus allerfeinstem Tüll in malerischen Falten zusammenhielten und freute sich, weil das Kind das Bilderbuch von ihm mit ins Bettchen genommen.
Die Nurse musste am Lager Platz nehmen, er aber beobachtete noch ein Weilchen das Einschlafen des Kindes und schlich sich dann auf den Zehenspitzen zurück in das Spielzimmer, wo die Gatten in flüsternder Unterhaltung beisammenstanden.
Er brachte noch ein kleines Lächeln vom Bettchen des Kindes mit.
Er bückte sich neben Karola, hob ein kleines Spitzentaschentuch auf, das sich dabei ein wenig öffnete und einen kleinen Blutfleck enthüllte.
Die starken Brauen Lamprecht Overmans’ zogen sich dicht zusammen wie eine drohende Gewitterwand.
„Was bedeutet das?“ fragte er leise, aber splitternd kalt und scharf. „Trautchen hat vorhin gehustet, du gingst zu ihr. Sage die Wahrheit, hustet das Kind vielleicht Blut? Bisher hat mir noch niemand etwas davon gesagt. Ich glaube fast, ihr beide belügt mich in Dingen, die das Kind angehen und Doktor Frank, der meine Leidenschaft für das Kind kennt, will mich schonen. Also, ich fordere Wahrheit!“
Hart, fast drohend war der Ausdruck seines Gesichts.
Karola hob die linke Hand und blickte auf die Stelle, wo sie sich vorhin verletzt hatte.
Man sah noch deutlich die Spuren.
Sie hielt Lamprecht Overmans die Hand entgegen.
„Ich riss mich vorhin an einem Nagel, drückte das Tuch vor dem Abwaschen des Blutes zufällig dagegen.“
Er atmete sichtlich erleichtert auf.
„Also gut!“ sagte er und gab ihr das Tuch. „Aber ich rate dir, dergleichen nicht zu verlieren, es ist ekelhaft und widerwärtig für den Finder.“
Seinem Sohn schlug die Röte der Empörung ins Gesicht wie eine Flamme.
„Vater, deine Abneigung gegen Karola nimmt allmählich geradezu groteske Formen an. Bei jeder Gelegenheit kanzelst du sie ab wie ein böswilliges Schulkind.“
Lamprecht Overmans hob den Kopf, musterte den Sprecher von oben bis unten.
„Stellst du mich vielleicht zur Rede, Günter? Es klingt eigentlich so! Ich bin das aber nicht gewöhnt und dulde es nicht, merke dir das, bitte, ein für allemal.“
„Vater, du gehst zu weit!“ brauste der Jüngere auf.
Die starken Brauen Lamprecht Overmans’ nahmen schon wieder die Form einer drohenden Gewitterwand an, als er zurückgab: „Ich glaube, mein Lieber, wenn sich einer von uns beiden vergisst und zu weit geht, dann bist du es! Wenn du aber vielleicht meinst, mir etwas Besonderes sagen zu müssen, dann stehe ich dir gern zur Verfügung. Aber nicht hier. Das Kind schläft nebenan und die Nurse wacht bei ihm. Das Kind könnte im Schlafe gestört werden, auch verspüre ich keine Lust, die Aufmerksamkeit der Nurse zu erregen.“
Karola machte ihrem Manne heimlich Zeichen, einzulenken.
Und wie so oft schon vorher, sich dabei voll und ganz der eigenen Schwäche bewusst, lenkte er ein.
Lamprecht Overmans lachte kurz auf.
„Wir wollen Günters Zimmer aufsuchen,“ schlug er vor, „und uns dort besprechen, denn die Reise mit dem Kinde soll so rasch wie möglich vor sich gehen. Dr. Frank wird auch mitreisen. Er beabsichtigt sowieso, sich ein paar Ferienwochen zu leisten, und da lässt es sich mit seiner Begleitung ganz gut arrangieren. Wenn ich abkommen könnte, würde ich natürlich ebenfalls mitreisen, aber —“
Er brach ab, weil er es nicht für nötig hielt, zu erklären, weshalb er nicht abkommen kannte.
Karola musste den Atem einhalten, um keinen Laut von sich zu geben, denn wie eine erdrückende Last hatte sich bei den ersten Worten des Schwiegervaters die Angst auf sie herabgesenkt, er könne sie begleiten wollen.
Dr. Frank dagegen war ihr angenehm und sympathisch.
Man ging in Günters Zimmer, das mit seinen gediegenen Eichenmöbeln, ein paar ansprechenden modernen Gemälden und hübschen matten Teppichen voll Behaglichkeit war.
Eine reich geschliffene Kristallschale, gefüllt mit Frührosen in brennendem Rot, hob sich scharf von dem sanftdunklen Lila der Tischdecke ab. Aber so sehr sich die Farben zu verneinen schienen, so malerisch wirkten sie doch in dieser Zusammenstellung.
Es war Karolas Freude, diesen kleinen Winkel immer wieder neu und anders für den geliebten Mann zu schmücken.
Lamprecht Overmans liess sich auf das Sofa fallen, seine Augen streiften spöttisch die Schale mit den Rosen.
„Bitte, Karola, tue das Blumenzeug weg und die scheusslich gefärbte Decke, stelle einen Aschenbecher her, ich möchte rauchen!“
Karola gehorchte sofort.
Günter stellte den gewünschten Aschenbecher vor den Vater hin, daneben eine geöffnete Zigarrenkiste und reichte ihm Feuer.
„Nun komm endlich her!“ winkte er Karola, die noch abseits stand, und sie setzte sich neben Günter, damit sie ihn, wenn nötig, heimlich anstossen konnte, falls bei ihm wieder Rebellionsgelüste ausbrechen sollten, wozu er sichtlich neigte.
Lamprecht Overmans erklärte nochmals: „Also Dr. Frank wird, da er Trautchen bisher behandelt hat, nach St. Blasien mitreisen. Damit es aber kein Geklatsch geben kann, da Dr. Frank noch jung und unverheiratet ist, musst auch du mitreisen, Günter. Ich kann dich gerade jetzt ganz gut entbehren.“
Karola fühlte, wie ihr Gesicht vor Freude erglühte.
Dass Günter sie und das Kind begleiten würde, das hatte sie nicht im entferntesten zu hoffen gewagt.
Auch in ihren Augen spiegelte sich ihre Freude wider und Freude bringt leicht Hoffen mit.
Sie versicherte: „Glaube nur, Vater, wir drei, Günter, Doktor Frank und ich werden alles tun, was in unseren Kräften steht, damit Trautchen frisch und gesund zurückkommt!“
Die scharfen grauen Augen hängten sich fest an den weichen, jetzt rosig überhauchten Wangen der jungen Frau.
„Wir wollen alle hoffen, dass die Kleine frisch und gesund zurückkommt. Wehe euch, wenn es anders wäre! Würde dem Kinde etwas geschehen, dann braucht ihr euch überhaupt nicht mehr vor mir sehen lassen.“ Seine Abneigung gegen Karola brach wieder durch, als er ihr missachtend und anzüglich hinwarf: „Wenn ein Weibsbild knapp hundert Pfund wiegt, sollte es ihm polizeilich verboten sein, zu heiraten und Mutter zu werden.“
Günters Auflehnungsgelüste strudelten hoch wie das Wasser eines stillen Sees, in dem man Steine hineinwirft.
Karola haschte heimlich auf dem Sofasitz nach seiner Hand und ein fester, inniger Druck ihrer kleinen Finger glättete den Aufruhr in ihm.