Читать книгу Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1 - Anny von Panhuys - Страница 8

5. Kapitel.

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Heinrich Braun, oder wie er sich seit seiner Naturalisation nannte, Harry Brown, sass an einem wundervollen Sommerabend vor der Tür des kleinen, mit einem Staketenzaun umgebenen Häuschens, das die Nichte seiner Frau hinterlassen, und atmete tief die reine Bergluft ein, in die harziger Tannenduft verwoben war, die köstliche Schwarzwaldluft, die so stark und rein ist und so eigen, dass alle, die in dem herrlichen Bergland geboren sind, sie nie vergessen, selbst nicht am fernsten Ende der Welt.

Ueberallhin verfolgt das Kind des Schwarzwaldes das Heimweh nach dem frischen Gottesodem, der über die mit Tannen bedeckten Berge und über die anmutigen Täler streicht.

Und so war es auch Helene Braun, oder wie sie jetzt hiess, Nelly Brown, ergangen, die ein Dorfmädel des Schwarzwaldes gewesen, auf kurios gewundenen Zickzackwegen eine Varietétänzerin geworden und mit dem Manne, dem sie sich verbunden, kreuz und quer durch die bunte Welt gezogen war, die immer dort gelebt, wo es am lautesten und buntesten hergegangen.

Immer wieder hatte sie ihre Heimatssehnsucht unterdrücken müssen, immer wieder, bis sie nun als alternde Frau doch endlich einmal heimkehren durfte, wenn auch nur für kurze Zeit.

Aber sie war fremd geworden in der Heimat durch die langen Jahre, nur ein paar alte Leute erinnerten sich ihrer noch.

Sie trat mit dem Kind an der Hand aus dem Hause, setzte sich neben ihren Mann auf die Bank, während die kleine Babette in überquellender Lebensfreude die Aermchen hochreckte und einen Juchzer ausstiess.

Das Häuschen von Babettes Mutter war versteigert worden mit allem Mobiliar, aber das Kind ahnte nichts davon, wie bald es hier zum letzten Male durch das kleine Gärtchen rennen würde, ahnte nicht, dass seine Mutter niemals wiederkehren würde von dem Besuch im Himmel.

Es ahnte nicht, dass die beiden alten Leute auf der Bank vor dem Hause eben die Rückreise nach London besprachen, und noch einmal gründlich erwogen, ob es nicht doch besser wäre, die Kleine hierzulassen.

Ein Waisenhaus würde sie aufnehmen, aber auch hier im Orte selbst wäre wohl manche Familie gern bereit, die Kleine aufzuziehen. Das Häuschen mit allem, was sich darin und darum befand, hatte sechstausend Mark gebracht.

Das Kind war also nicht mittellos, brauchte nicht um ein ‚Vergelts Gott‘ aufgezogen werden.

Sechstausend Mark waren auch für das alternde Paar eine sehr annehmbare Summe, und beide überlegten hin und her, aber sie kamen zu keinem Entschluss.

Nelly Browns Figur war noch schlank und jugendlich, die ständige Beschäftigung mit dem Tanz hatte sie gerade und elastisch erhalten, doch ihr Gesicht, das wohl einstens sehr hübsch gewesen, hatte sehr von Schminke und Puder gelitten, und ihr Haar war rostrot gefärbt, bildete im Nacken einen kleinen lockigen Knoten.

Die mit ihr einmal unter den Schwarzwaldtannen jung gewesen, waren Bäuerinnen, deren Haut Sonne und Wetter verbrannt und gegerbt, mit dünnen ergrauten Scheiteln und plumpen resoluten Bewegungen, die nichts von Grazie und Körperkultur wussten. Die morgens mit dem angefeuchteten Handtuchzipfel über Gesicht und Hände fuhren oder am Brunnen eine flüchtige Wasserprobe nahmen, die Schminke und Puder niemals berührt und niemals einen Augenbrauen- noch einen Lippenstift besessen hatten.

Nelly Brown aber benützte noch alle diese kosmetischen Hilfsmittel und viele andere dazu, weil sie jünger aussehen wollte als sie war. Weil sie noch lange nicht zu den alten Frauen gehören wollte und durfte. Weil das eine Existenzfrage für sie war, für sie und ihren Mann.

Ein Herr ging langsam am Zaun vorüber, und dem Paar fiel es auf, mit welcher Aufmerksamkeit er das spielende Kind betrachtete.

Ganz versunken schien er in den Anblick.

Bis Babette selbst aufmerksam wurde, und an das Lattentürchen laufend, ihn keck und dreist fragte: „Was willst du denn, Mann?“

Der Herr lachte belustigt, und zog, dabei das Paar auf der Bank ansehend, den leichten braunen Filzhut, rief in verbindlich liebenswürdigem Tone: „Das ist die kleine Babette, nicht wahr, und die Herrschaften sind Herr und Frau Brown, wenn ich nicht irre?“

Der alte Tänzer erhob sich, trat näher.

„Zu dienen, mein Herr, ich bin Harry Brown. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?“

Er öffnete mit einladender Geste die kleine Gartentür.

Der Herr folgte der stummen Einladung.

„Ich hörte von einem jungen Ehepaar Ihren Namen, Herr Brown, beide haben Sie und die Kleine am Schluchsee getroffen. Ein Ball vermittelte die Bekanntschaft. Als mich ein Spaziergang nun heute hier vorbeiführte, erkannte ich das Kind sofort nach der Beschreibung, was wirklich nicht schwer war. Ich bin nämlich der Arzt, der die kränkliche Doppelgängerin Babettes in die Kur begleitet hat und sie behandelt.“

Harry Brown verständigte seine Frau durch ein paar erklärende Worte. Er hatte ihr bereits von der Begegnung mit der verstörten jungen Mutter erzählt.

Ueber Nelly Browns stark verpudertes Gesicht flog es wie ein Schein von Anteilnahme.

Vielleicht war es auch nur ganz einfache Neugier.

Sie bat den Doktor, ein wenig zu verweilen, und eine graziöse Handbewegung lud ihn ein, auf der Bank neben ihr Platz zu nehmen.

Er verbeugte sich, murmelte, wie das so oft beim Vorstellen geschieht, undeutlich seinen Namen, und ein Weilchen später wunderte er sich eigentlich selbst, wie es gekommen, dass er zwischen dem alten Tänzerpaar sass und ihm von dem Dahinsiechen Trautchens, von dem Jammer der Mutter, und dem wenig angenehmen Schwiegervater der jungen Frau erzählte.

Doch vermied er es, Namen zu nennen und auf die näheren Verhältnisse des alten und jungen Overmans einzugehen. Auch nannte er den Wohnort der Familie nicht, betonte nur den Reichtum des Familienoberhauptes und seine Tyrannei der jungen Frau, die sich entsetzlich fürchte vor dem derben höhnischen Alten, wenn das Kind nicht genesen würde oder gar stirbt.

Nelly Brown blickte, in tiefes Nachdenken verstrickt, zu Babette hinüber, die ein Stückchen abseits stand und zu der kleinen Gruppe auf der Bank herüberschielte.

„Die arme junge Frau hat entschieden Pech,“ sagte Nelly Brown aus ihrem Nachdenken heraus, „aber schliesslich, alles Gute ist nicht beisammen. Sie lebt wenigstens in Reichtum und Sorglosigkeit, ihr Dasein ist auf gediegenen Fundamenten aufgebaut. Wenn sie sich dafür ducken muss, so ist das mehr oder weniger ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit.“

Leise Bitternis klang durch die Sätze, galt den langen durchtanzten Lebensjahren, die ihr und dem Gefährten ihrer Tage die heissersehnte Sorglosigkeit nicht beschert hatten, so dass man sich nun, wo das Alter begann, sehr nach der Decke strecken musste, damit ein Notgroschen blieb, falls Krankheit käme.

Die langersehnte Reise in die Heimat war schon ein Zuviel gewesen, das man dem Spargeld zugemutet.

Sie nickte vor sich hin. „Ja, ja, manchmal gibt es im Leben Ausgleiche.“

Von einem jäh aufspringenden Gedanken erfasst, sagte sie: „Babette geht bei uns drüben in London wahrscheinlich doch keiner besonders sicheren Zukunft entgegen, die junge Frau kann ja das Kind zu sich nehmen. Die Aehnlichkeit der beiden kleinen Mädchen wird auch den Schwiegervater bewegen, seine Einwilligung zu geben. Das Kind zu adoptieren, ist das Elternpaar allerdings noch zu jung, aber die Hauptsache wäre doch, falls das kränkelnde Kind stirbt, dem alten Herrn einen Ersatz für seinen Liebling zu bringen.“

Just Frank glaubte zuerst, das überraschende Angebot sei nur scherzhaft gemeint, doch als Harry Brown jetzt ausrief: Das ist eigentlich eine ganz ausgezeichnete Idee meiner Frau! bezweifelte er nicht mehr, dass der Vorschlag durchaus ernst gemeint war, den die Frau mit dem gemalten Gesicht gemacht hatte.

Er lächelte amüsiert.

„Meine Herrschaften, das wäre ein Fastnachtsstreich in den Augen des alten Herrn. Er würde rasen vor Zorn über die Zumutung, seinen Liebling durch ein fremdes Kind zu ersetzen.“

Sein Lächeln schwand.

„Mit einem solchen Vorschlag würde sich die junge Frau seine vollständige Ungnade zuziehen.“ Nach einer kleinen Pause schob er zögernd nach: „Eigentlich, wenn ich es recht überlege, ist es jammerschade, dass es nicht geht, denn die Aehnlichkeit ist eine sehr grosse, wenn es bei genauerer Prüfung natürlich auch manchen Unterschied zwischen den beiden Kindern gibt. So scheint es mir, die Züge der kleinen Leidenden sind betonter, ausgeprägter, und Babettes Gesichtchen sei weicher. Vielleicht kommt es nur dadurch, weil es voller und gesünder ist. Die Augen meiner Patientin sind etwas grösser, auch die Nase, das Haar ist vielleicht etwas weniger lockig. Alles in allem aber habe ich die Ueberzeugung, Ihre kleine Grossnichte verkörpert das Idealbild, wie es sich der alte Herr in seiner Vorstellung von seinem Liebling macht. Aehnlich aussehend erwartet er das Kind wohl eines Tages zurück.“

Er seufzte ergeben.

„Ich fliege als Hausarzt natürlich auch, sobald er sich überzeugt hat, ich habe das Wunder, das er von mir erhofft, nicht schaffen können.“

Nelly Brown blickte wieder zu Babette hinüber, die mit einem Nachbarkätzchen ein phantastisches Spiel begonnen.

„Wenn der alte Herr einem offenen ehrlichen Vorschlag nicht zugänglich wäre, müsste man eben eine Täuschung in Szene setzen,“ begann Nelly Brown nach längerem Nachsinnen. „An Stelle des kranken Kindes käme eben Babette in das reiche Haus und gilt dort als die gesundgewordene Kranke. Natürlich erst nach längerer Zeit, nachdem sich Babette völlig an die junge Frau gewöhnt hat und vergessen hat, was vordem gewesen. Man müsste ihr einreden, alles Frühere war nur ein Traum. Allmählich glaubt sie es und denkt nicht mehr daran. Da die Kranke doch bald sterben wird, wie Sie sagen, wer will es dann verhindern, wenn wir drei hier und die jungen Eltern einig sind, dass sie unter dem Namen Babettes stirbt, unter dem Namen Babette Kempen.“

Sie hatte zum Schluss überschnell gesprochen, als müsse sie ihren Einfall rasch loswerden, und ehe einer der beiden Männer auch nur den kleinsten Einwurf machen konnte, redete sie schon weiter.

„Man müsste dem alten Herrn eben etwas vormachen. Es geschähe ja im besten Sinne aus anständigen und begreiflichen Gründen. Ihm bliebe, wenn das Kind gestorben, doch wenigstens der Glaube, sein Liebling sei noch am Leben, die junge Frau brauchte nicht mehr vor Furcht zu vergehen und Sie, Herr Doktor, würden sicher sehr von ihm protegiert werden. Und schliesslich, um auch uns noch zu nennen, mein Mann und ich, wären mit unserer Kleinen eine schwere Verantwortung los. Wir erwogen gerade vorhin, als Sie kamen, ob wir nicht noch gewissermassen im letzten Augenblick das Kind einem Waisenhaus oder einer Familie übergeben sollten.“

Sie redete und redete, liess den Männern wenig Gelegenheit, sich zu äussern. Sie schilderte immer wieder die Vorteile des Vorschlages, der Just Frank anfangs nicht der Erwägung wert geschienen und nun, je weiter Nelly Brown sprach, je klarer ihm die Möglichkeit ward, schon wie eine Verlockung vor ihm stand.

Nelly Brown lächelte: „Uns allen wäre mit einem Schlage geholfen und es würde dabei niemand, aber auch niemand, nur der geringste Schaden zugefügt. Ausserdem liesse sich alles verhältnismässig leicht arrangieren, wenn wir einig sind. Wie in einem Theaterstück aufs Stichwort könnte alles klappen.“

Just Frank, der anfangs mehrmals ein heftiges Wort auf der Zunge gehabt, mit dem er die ganz dem Ausmalen ihres Planes Hingegebene unterbrechen wollte, ertappte sich schon dabei, das, was Nelly Brown vorschlug, zu überlegen.

Er sah sich plötzlich einer ganz gewaltigen Verlockung gegenüber.

Liess sich der Vorschlag verwirklichen, so war tatsächlich allen Beteiligten mit einem Schlage geholfen. Die arme Karola Overmans hatte ein gesundes kleines Mädel, an das sie Mutterliebe verschwenden durfte, das ihr zu Frieden und Ruhe mit Lamprecht Overmans verhalf, die kleine Waise fand eine schützende Heimat und Eltern, das Tänzerpaar war eine Sorge los, die es allzu rasch auf sich genommen, um eine Sterbende in Frieden einschlafen zu lassen und er, nun er würde sich bestimmt Lamprecht Overmans vollster Gunst erfreuen dürfen und durch diese Gunst bald ein gesuchter Arzt werden.

Er blickte die Frau neben sich plötzlich scharf an.

Vielleicht zu scharf.

Nelly Brown war in ihrem vielbewegten Leben genügend Menschenkennerin geworden, um den Blick richtig zu deuten.

Sie sagte ruhig: „Verehrter Herr Doktor, Sie grübeln jetzt nach, ob man mir, respektive ob man dem Ehepaar Brown wohl trauen darf. Wir könnten später Erpressergelüste verspüren und so weiter. Nicht wahr, das ging soeben durch Ihren Kopf?“

Just Franks stark abwehrende Handbewegung, sein fast zu lauter Protest: „Aber ich bitte Sie, verehrte Frau Brown!“ halfen ihm nichts, bedeuteten für die Frau nur eine Bestätigung.

„Also ich habe es erraten, was übrigens gar nicht schwer war,“ sagte sie, als hätte er bejaht, was er doch verneint hatte.

Sie lächelte ein bisschen überlegen.

„Wollen uns nicht mit Höflichkeitsphrasen bekomplimentieren, es hält nur auf! Also bleiben wir zunächst dabei: Sie trauen uns nicht. Den Verdacht möchte ich entkräftigen. Vor allem, Herr Doktor, wir reisen in allerkürzester Zeit ab nach London und werden kaum noch einmal im Leben die Heimat wiedersehen. Wir haben unser Brot drüben und können nicht noch einmal von vorn anfangen. Also müssen wir die Heimat schon aus Klugheitsgründen ausschalten. An der Erinnerung dieses jetzigen Aufenthaltes zehre ich bis ans Ende. Es ist ja auch nur noch die Natur, die mir hier Heimat ist, Freunde und Bekannte habe ich nicht mehr. Und das Bild meines geliebten Schwarzwaldes, das nehme ich mit im Herzen nach der grossen Stadt an der Themse. Also wir kommen nicht wieder, nie wieder, und wir denken auch nicht im geringsten daran, jetzt vielleicht ein Geschäft zu machen. Sie erzählten, das leidende Kind sei so kraftlos, es müsse allernächstens sterben. Es stirbt dann als unsere kleine Babette und Babette lebt weiter als das reiche Mädelchen. Ich versprach meiner sterbenden Nichte, gut für ihr Kind zu sorgen. Kann ich aber besser dafür sorgen, als wenn ich es in ein reiches Haus schaffe. Babette ist die letzte Verwandte, die ich auf Erden besitze, es wäre für mich eine Beruhigung, sie der gemeinen Alltagsnot entrückt zu wissen. Geld, Herr Doktor, oder sonst eine Entschädigung in irgendwelcher Form, erbitte ich weder, noch würde ich sie annehmen. Das dürfte Ihnen vielleicht schon eine kleine Garantie dafür sein, dass nicht Geldgier die Triebfeder zu dem Plan ist, den ich Ihnen in weiten Umrissen unterbreitete, den ich aber auch schon in seinen Einzelheiten übersehe, mit denen ich gern dienen will, wenn Sie meinem Vorschlag genügend Interesse, und mir genügend Vertrauen entgegenbringen.“

Harry Brown fuhr sich mit einem etwas grellen gelbseidenen Taschentuch über die Stirn.

„My dear, deine Phantasie ist dir durchgegangen, lass das Thema fallen, please, der Herr Doktor muss sonst wirklich glauben, du willst mit den Kindern einen Tausch, nach dem Rezept eines Kitschfilms, in Szene setzen.“

Ihm war, trotz seiner anfänglichen Begeisterung, die er laut geäussert, doch längst angst und bange geworden.

Nelly war so recht die Frau dazu, das, was sie als Plan vorgetragen, in die Tat umzusetzen.

Und er machte nicht mit, so verlockend die Geschichte auch scheinen wollte.

Brenzlich blieb so etwas auf alle Fälle.

Die Augen der Frau sprachen ganze Bände, als sie sich nun dem Lebensgefährten zuwandten, aber mit Worten war sie ihm gegenüber jetzt sparsam.

„Harry, my old boy, misch dich nicht ein, du weisst ein für allemal, wo es darauf ankam, war ich von uns beiden noch immer die Gescheitere.“

Ihre Augen wanderten wieder zurück zu dem Besucher.

„Vor allem, Herr Doktor, weiss ich Ihren Namen nicht —“

Er fiel ihr hastig ins Wort: „Verzeihung, Frau Brown, aber ich nannte ihn doch vorhin.“

Sie nickte zustimmend.

„Allerdings, aber Sie murmelten ihn etwas undeutlich und ich verstand ihn nicht, mein Mann sicher ebensowenig.“ Sie machte eine abwehrende Bewegung. „Bitte, wiederholen Sie ihn nicht. Wir brauchen gar nicht erfahren, wie Sie heissen. Das soll Ihnen eine Garantie mehr sein, dass wir Sie, wenn wir über meinen Plan einig werden, niemals behelligen würden. Wir wissen ja auch bis jetzt nicht, wie das kränkliche Kind heisst und nicht, was sein Vater und der gefürchtete Grossvater sind, wissen auch nicht, in welchem Orte Deutschlands die Herrschaften und Sie, Herr Doktor, leben, ja, wir wissen nicht einmal, wo das betreffende Kind mit seiner Begleitung hier im Schwarzwald wohnt. Ich nehme an in Titisee, vielleicht aber auch in Höhenschwand oder St. Blasien. Wir brauchen es ebensowenig zu wissen, wie das andere, wir wollen nur wissen, dass wir der Sorge um die kleine Babette enthoben sind und es ihr gut gehen wird in der Zukunft. So, Herr Doktor, ich habe wohl klar genug gesprochen, und Ihnen vor allem den Beweis geliefert, Sie dürfen uns vertrauen. Nun überlegen Sie sich alles und besprechen Sie sich mit dem Vater. Die Mutter ist vorerst am besten auszuschalten, denn ihr muss alles noch ganz anders klargemacht werden, weil sie sonst bestimmt nicht darauf eingeht und nicht darauf eingehen kann, weil sie eben die Mutter ist. Aber entscheiden Sie sich bald, denn wir wohnen hier nur noch dank der Freundlichkeit des neuen Hausbesitzers, die wir doch nicht allzu lange ausnützen möchten.“

Just Frank erhob sich hastig.

Er fühlte, es war nicht mehr der geringste innere Widerstand mehr in ihm gegen den Plan vorhanden. Auf seine Entscheidung allein kam es ja auch nicht an, wenn es aber so wäre, dann würde sein Wehren jetzt nichts weiter mehr bedeuten, als Angst vor etwaigen Folgen, falls etwas schief ginge.

Es war, als erriet Nelly Brown auch diesmal wieder seine Gedanken.

Sie zupfte an ihrem schwarzen Kleide herum, blickte auf ihre eleganten Schuhe nieder. Auf elegantes Schuhzeug hielt sie, und hätte lieber gehungert, als sich mit einem billigen Schuh gezeigt. Ihre Tänzerinneneitelkeit liess das nicht zu.

„Gefahr besteht gar keine!“ erklärte sie, ohne dass er die Besorgnis laut geäussert. Ihre Stimme ward zum Flüstern: „Das Allerwichtigste ist es, dass Sie ganz genau wissen und davon überzeugt sind, die kleine Schwächliche wird bald sterben müssen.“

Just Frank erwiderte lebhaft: „Natürlich weiss ich es, das ist ja gerade das Verzweifelte, wenn der Tod einem Zeit liesse, könnte man auch noch hoffen.“

Er machte einen kleinen Schritt. Nein, er wollte der Versuchung nicht länger sein Ohr leihen und lieber fortgehen.

Nelly Brown hielt ihn resolut am Aermel fest und er taumelte unwillkürlich zurück, sank wieder auf die Bank nieder.

Die Frau flüsterte weiter: „Schenken Sie mir noch ein wenig von Ihrer Zeit, Herr Doktor, denn wer weiss, ob sich noch einmal so eine gute Gelegenheit zu einer Aussprache zwischen uns findet. Wenn Sie gehen, dann plagen Sie sich, trotzdem Sie die Vorteile meines Vorschlags anerkennen, mit allerlei Wenns und Abers herum, mit verfrühten und höchst überflüssigen Gewissensbissen, und lassen sich, als natürliche Folge davon, hier nicht mehr sehen. Die Sache drängt aber, wenigstens was unser Einigwerden betrifft, und deshalb möchte ich Ihnen noch schnell von den Einzelheiten meines Planes sprechen. Er muss gelingen, wenn er resolut, klug und verschwiegen ausgeführt wird.“

Just Frank rang mit sich. Aber weshalb sollte er die alte Tänzerin eigentlich nicht weiter anhören? Das verpflichtete ja zu gar nichts.

Harry Brown erhob sich, wollte zu dem Kinde gehen.

Seine Frau lachte. „Bleib nur hier, Mister Hasenfuss, es ist gut, wenn du dich gleich mitorientierst, wenn mein Plan zur Ausführung käme.“

Er schüttelte den Kopf.

„Mir summt es hinter der Stirn schon genügend, ein ganzer Spatzenschwarm scheint da Flugübungen zu veranstalten.“

Er winkte der kleinen Babette, die ihm entgegengesprungen kam.

Ein leichter Geruch von Parma-Veilchen entströmte dem Kleide Nelly Browns, ihr Puder wiederum duftete nach Nelken, und die Brillantine, die ihr gefärbtes Haar zum Glanze des Mahagonis zwang, roch ganz anders, ein wenig säuerlich.

Diese unangenehm ineinander zerfliessenden Parfüms störten Just Frank, verursachten ihm Kopfweh.

Oder trug nur das lebhafte Flüstern der Frau die Schuld daran? Trugen die Anweisungen und Erklärungen die Schuld daran, die alles, was ihm noch Bedenken schuf, so einfach und leicht erscheinen liessen.

Nelly Brown merkte genau, sie fing den Mann neben sich immer mehr ein für ihre Idee. Für diese Idee, die ihr vorhin erst durch den Kopf geschossen und ihr jetzt schon so vertraut und selbstverständlich geworden, als hätte sie seit langen Tagen darüber nachgesonnen.

Eben spazierte der alte Tänzer mit dem Kind an der Hand vorbei.

Er sagte halb ernst, halb belustigt: „Meine liebe Nelly, so endlos lange Jahre sind wir nun schon verheiratet, aber dein Talent zur Intrigantin entdecke ich erst heute.“

Sie zuckte die Achseln.

„Ich möchte der kleinen Babette und uns helfen, wenn dabei noch zugleich eine Hilfe für andere wird, so kann es sich um keine böse Tat handeln.“

Ihr Mann blickte auf das Kind nieder und spazierte mit ihm an der Hand weiter durch die kurzen und engen Gartenwege.

Just Frank atmete, als die Versucherin ihr Flüstern eingestellt, tief auf.

Es beschwerte seinen Kopf ganz gewaltig, was ihm die alte Tänzerin auseinandergesetzt und was in der Ausführung gar keinen besonderen Schwierigkeiten begegnen würde.

Er ertappte sich dabei, dass er sich im Geist schon die Sätze zurechtlegte, durch die er Günter Overmans beeinflussen wollte.

Er gestand ehrlich: „Ihr Plan leuchtet mir ein, Frau Brown, aber ob ich den Mut aufbringen werde, den Eltern meiner kleinen Patientin davon zu sprechen, das bezweifle ich noch stark.“

Die Frau lächelte aufmunternd: „Sehen Sie, Herr Doktor, ich denke dabei an den Vorteil für mein Grossnichtchen, an die Entlastung für meinen Mann und mich. Ihnen rate ich, denken Sie nur an Ihren Vorteil dabei, der wohl auch nicht zu unterschätzen ist!“

Daran brauchte sie ihn gar nicht zu erinnern, er dachte gerade genug daran, ausserdem tat ihm die reizende junge Mutter leid, er verehrte sie sehr, vielleicht barg sich in seiner Verehrung sogar ein bisschen heimliche Liebe. Ihre Angst vor Lamprecht Overmans aber hatte vor allem sein Mitleid erregt.

Er erhob sich wieder, doch diesmal liess er sich nicht zurückhalten.

„Vielleicht komme ich wieder, Frau Brown, vielleicht sage ich mir aber schon, wenn ich kaum zehn Schritte hier vom Hause entfernt bin, Ihr Vorschlag war nichts weiter als ein Alpdruck.“

Er grüsste hastig und wandte sich. Er mochte der Frau keine Gelegenheit mehr geben, von neuem auf ihn einzusprechen.

Nelly Brown rief ihm nach: „Wir werden noch ein Weilchen bleiben, lassen Sie sich bald bei uns blicken. Auf Wiedersehen!“

Am Gartentor stand der Tänzer. Er sagte: „Wir werden uns wohl kaum noch sehen, viele gute Wünsche für die Genesung des Kindes!“

Und Babette reichte ihm ihr molliges Patschhändchen, und wie er die Kleine nun noch einmal ansah, dachte er, dass die überraschende, seltsame Aehnlichkeit fast wie ein Fingerzeig des Schicksals war.

Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1

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