Читать книгу Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1 - Anny von Panhuys - Страница 9

6. Kapitel.

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Während Just Frank die Bekanntschaft der kleinen Babette gemacht, war in St. Blasien ein Brief angekommen von Lamprecht Overmans.

Der Brief war nur kurz, aber Karola war ganz verstört nach dem Lesen.

Lamprecht Overmans schrieb: „Ich meine fast, Ihr färbt Eure Mitteilungen über Trautchens Zustand etwas zu rosig, um Euch bei mir beliebt zu machen. Vergesst, bitte, nicht, falls Ihr übertreibt, dass ich doppelt enttäuscht sein würde. Karola vor allem müsste mir dann Rede stehen, die grösste, schwerste Verantwortung trüge sie in meinen Augen. Ich höre, auf meinen besonderen Wunsch, auch öfter durch die pflichtgetreue Nurse über Trautchen und ich glaube, sie steht mit der Wahrheit auf besserem Fuss wie Ihr. Ich kann leider jetzt hier kaum abkommen, sonst würde ich mich persönlich überzeugen.

Sollte Doktor Frank mich ebenfalls täuschen, würde er sich meines Wohlwollens nicht mehr lange zu erfreuen haben.“

Dieses Schreiben hatte Karola in einen Abgrund von Furcht und Verzweiflung gestürzt, ihr Mann fand, trotz aller Mühe, die er sich gab, nicht die rechten Trostworte für sie.

Das Kind lag in seinem Bettchen und Hedwig Ritter sass am Lager, machte keine Miene aufzustehen, als Karola sagte, sie selbst wünsche jetzt ein Weilchen bei der Kleinen zu bleiben.

„Bedaure, gnädige Frau,“ kam es ölglatt zurück, „aber Sie machen einen etwas erregten Eindruck und das Kind braucht ruhige Gesellschaft, falls es munter wird. Herr Overmans Senior würde mir jetzt bestimmt nicht gestatten. Sie mit Trautchen allein zu lassen. Sie sehen aus, als ob Sie weinen möchten und wozu soll das Kind Tränen sehen. Ich kann die Gefahr nicht heraufbeschwören helfen und bitte ich Sie, mich lieber mit Trautchen allein zu lassen.“

Karola wollte eine empörte Antwort geben, aber ein Blick auf das in ganz leisem Schlummer liegende Kind, das ein lautes Wort aufschrecken konnte, liess sie schweigen.

Ihre Empörung mühsam meisternd, ging sie in das Wohnzimmer.

Schluchzend fiel sie ihrem Manne um den Hals.

„Günter, die grässliche Person, die Nurse, ist kaum noch zu ertragen. Deinen Vater informiert sie hinter unserem Rücken, verklatscht uns anscheinend, und mich behandelt sie ganz von oben herab. Weigert sich einfach, das Kinderzimmer zu verlassen, macht mir klar, dass ich lieber wieder gehen sollte, beruft sich auf deinen Vater. Und ich wollte so gern ein Weilchen still an Trautchens Lager sitzen, ihren Schlummer bewachen und dabei den lieben Gott, wie schon so oft vorher, wieder um die Gnade des Wunders bitten.“

Es klopfte. Just Frank trat auf das Herein ins Zimmer, und das verstörte Gesicht der reizvollen Frau fiel ihm sofort auf.

Er erfuhr denn auch den Grund und zornig entschlüpfte es ihm: „Machen Sie doch kurzen Prozess und werfen Sie das unverschämte Weibsbild einfach hinaus!“

Karola blickte ihn förmlich entsetzt an und wehrte ab.

„Aber ich bitte Sie, Herr Doktor, das wäre wohl fast wie Auflehnung gegen den Vater!“

Sie ging in die Schlafstube hinüber, weil sie fühlte, wie sehr ihre Nerven rebellierten. Sie vermochte jetzt keine Unterhaltung mit dem Doktor zu führen. Durch den Brief und das dreiste Benehmen Hedwig Ritters war sie sich wieder so recht ihres Kummers bewusst geworden.

Sie sank vor einem der kleinen Stühle unwillkürlich in die Knie, und die Hände faltend, betete sie, während tränenloses Schluchzen ihren ganzen Körper erschütterte, aus tiefstem Herzen emporsteigend: „Lieber guter Himmelsvater, bitte, mach mein Kind gesund. Rette es!“

Sie verbarg das Antlitz in den Händen, denn sie glaubte die verächtlichen Blicke Lamprecht Overmans auf ihrem Gesicht zu fühlen.

O, brauchte sie nur nie mehr vor ihn hinzutreten, nie mehr.

Sie vergass in ihrer geduckten Stellung Zeit und Ort, verlor sich in ein Labyrinth von traurigen Grübeleien.

Und nebenan sagte Günter Overmans zu dem Doktor: „Meine Frau reibt sich bei der ständigen Erregung auf. Irgendwie muss da endlich Wandel geschaffen werden! Es wird sowieso nicht mehr lange gehen zwischen meinem Vater und meiner Frau. Wenn unser Mädelchen nicht mehr sein wird, liegt für meine Frau ja völlig alles trostlos, denn um des von ihm vergötterten Kindes willen würde mein Vater wohl allmählich seine Art und Weise gegen meine Frau ändern und es wäre immerhin noch ein leidliches Verhältnis zwischen den beiden zustandegekommen.“ Er seufzte. „Ich muss natürlich zuerst an meine Frau denken, denn ich habe sie ja so über alles lieb, und leicht ist es nicht, das schöne Heim in Stuttgart aufzugeben und hineinzuspringen ins Ungewisse, ein geliebtes Wesen mithineinzureissen in Unsicherheit und Not und wer weiss in was für schwere Sorgen.“

Just Frank neigte den Kopf.

„Ich verstehe Sie, Herr Overmans, aber ich meine, Sie sollten nicht gleich daran denken, all die Daseinssicherheit, die Sie jetzt besitzen, hinzuwerfen und ein zartes, feines Geschöpf, wie Ihre Gattin, vielleicht der gemeinen brutalen Alltagsnot auszusetzen. Sie sollten lieber um das, was jetzt noch Ihr Eigen ist, kämpfen. Gerade um Ihrer Frau willen! Es ist sogar Ihre Pflicht. Ein einziges Mal lebt man nur, und wenn es auch wohl arme und reiche Menschen auf der Welt von je gegeben hat und weiter geben wird, ist es doch vorzuziehen, zu den reichen zu gehören. Namentlich wenn man so eine Frau hat, wie Sie.“

Mit vielen anderen Worten wiederholte er ihm mehrmals dasselbe, lockte dadurch die fast kläglich klingende Frage hervor: „Was aber soll ich nach Ihrer Meinung tun, Herr Doktor? Ich sehe keinen anderen Ausweg als den, mit meinem Vater zu reden, um meine Frau zu schützen. Und das ist in unserem Fall gleichbedeutend mit einem Bruch zwischen ihm und mir, mit einem Schlussstrich, den ich unter die Vergangenheit machen muss.“ Sein Selbstbewusstsein meldete sich. „Ich fülle doch meinen Platz in Vaters Unternehmungen aus, ich arbeite von meinem achtzehnten Jahre an bis jetzt, wo ich zweiunddreissig bin, kaufmännisch sowohl in seiner Pianofabrik, als auch in der Brauerei. Nur ein paar kurze Auslandsaufenthalte fallen dazwischen, um gründlich Sprachen zu erlernen, in fremden Betrieben mitzuarbeiten. Auch in Vaters Betrieben habe ich praktisch mitgeschafft, habe alles von Grund auf erlernen müssen und durchackern, wie ein Lehrling. Nichts hat er mir geschenkt, nicht das Langweiligste und Unangenehmste! Also ich glaube ohne Ueberhebung sagen zu dürfen: Ich kann etwas. Und da werde ich auch wohl anderswo mein Brot finden, Brot für Frau und Kind.“

Er stutzte bei dem letzten Wort, wiederholte es, und dann irrte ein trauriges Lächeln um seinen Mund.

„Aber das ist es ja gerade, das Kind schaltet schon aus, denn um das Kind geht es ja eigentlich nur. Bliebe es am Leben, gäbe es die Zukunftssorgen doch gar nicht.“

Der Doktor stand dicht neben Günter Overmans. Die beiden hatten bisher schon leise gesprochen, nun aber dämpfte Just Frank die Stimme bis zur äussersten Grenze herab, ohne deshalb auch nur im geringsten undeutlich zu werden.

„Nur auf das Kind kommt es an! Wird das Kind gesund, bringt es dem Grossvater rote Bäckchen und blanke Augen heim, erübrigt sich jede Zukunftssorge. Deshalb muss das Kind am Leben bleiben, muss frisch und gesund werden.“

Das verdüsterte Gesicht Günter Overmans erhellte sich jäh. Es war, als zöge man einen Vorhang davor fort.

„Liebster Doktor,“ stiess er atemlos hervor, „Sie erwecken in mir eine wundervolle Hoffnung, bitte, schnell, sprechen Sie, wird Trautchen wieder gesund werden?“

Just Frank half sich mit einer unbestimmten Kopfbewegung.

„Nein, leider nein, und trotzdem auch ja. Es kommt dabei nur auf Sie an!“

Der andere blinzelte nervös.

„Ich bin viel zu erregt jetzt, um Rätsel lösen zu können und ich bitte Sie deshalb, deutlicher zu sprechen.“

„Sind Sie imstande, mir ruhig zuzuhören, sind Sie imstande, Empörungsrufe zu unterdrücken und mir nicht im ersten Zorn völlig falschen Verstehens vielleicht Grobheiten zu sagen, die uns trennen müssten, Herr Overmans? Was mir sehr, sehr leid täte, denn ich möchte Hausarzt bei Ihrem Vater und Ihnen bleiben. Das ist meine Reklame, meine Brücke zur Karriere.“

Sehr eindringlich klang alles, trotz der verhaltenen Stimme.

Günter Overmans blickte befremdet.

„Das klingt alles so verwirrend, aber ich verspreche gern, wie auch die Rätsellösung lauten möge. Ihnen ruhig zuzuhören. Selbst dann, wenn Sie mir vorschlagen sollten, unser Trautchen bei meinem Vater durch eine genialgescheite Puppe zu ersetzen, die er für seinen Liebling hält. Puppen, die ‚Mama‘ wimmern, gibt es ja, vielleicht lassen Sie eine konstruieren, die ‚Opapa‘ ruft und sonst noch allerlei verzapft.“

„Beinahe besorgen Sie das Rätsellösen schon allein,“ gab Just Frank zurück, „nur dass ein echtes kleines Menschlein einer derartigen Puppe entschieden vorzuziehen wäre, ein Mädchen mit den Zügen Trautchens, ein kleines Fräuleinchen, das ihr gleicht wie eine Zwillingsschwester.“

Günter Overmans’ beide Hände hoben sich langsam in entsetzter Abwehr.

„Sie denken dabei an das Kind aus Schluchsee!“ Und er fragte: „Also haben Sie es inzwischen auch gesehen?“

„Gesehen und mit ihm gesprochen,“ erwiderte der Doktor, „mit den Verwandten des Kindes habe ich mich sogar sehr lange unterhalten.“ Er unterbrach sich. „Aber wenn es Ihnen recht ist, Herr Overmans, wollen wir uns lieber setzen, denn ich muss Ihnen viel erzählen. Aber leise will ich weitersprechen, denn niemand darf auch nur ein Sterbenswörtchen davon hören.“

Günter Overmans nahm mechanisch Platz und ihm gegenüber sass nun der Arzt und erzählte ihm von der Begegnung mit der kleinen Babette und von seiner seltsamen Unterhaltung mit der alten Tänzerin.

Plötzlich gebot ihm der Zuhörer Schweigen und er sah ihn dabei mit unverhülltem Zorn an.

„Ich möchte nichts mehr wissen von alledem, Doktor Frank. Sie beleidigen mich schon durch die Zumutung einer solchen Ungeheuerlichkeit, wie sie das Hirn dieser Deutschengländerin ausgebrütet.“

Just Frank bewahrte seine Ruhe.

„Verehrter Herr Overmans, ich fragte Sie, weil ich Ihre Empörung voraussah, schon ehe ich das Thema anschnitt, ob Sie imstande wären, Empörungsrufe und ähnliches zu unterdrücken. Sie versprachen mir, ruhig zuzuhören.“

„Ja, das tat ich. Aber wie konnte ich auch dergleichen erwarten, denn es handelt sich, um das gleich klarzustellen, um ein Verbrechen, das Sie mir zumuten,“ erfolgte die Antwort, die zwar leise gegeben wurde, aber mit Empörung geladen schien.

Just Frank erwiderte den Blick des ihm Gegenübersitzenden mit Offenheit.

„Nein, Herr Overmans, Ihr Urteil ist unüberlegt und vorschnell, es handelt sich um kein Verbrechen. Niemals würde ich irgendeinem Menschen ein Verbrechen zumuten, also auch Ihnen nicht und niemals meine Hand dazu leihen. Es ist allerdings ein delikater Fall, den die Gerichte, wenn sie davon Kenntnis erhielten, nicht straflos durchgehen liessen. Aber von Ihrem und meinem Standpunkt aus, sowie vom allgemein menschlichen, kann man den Plan vielleicht eigenartig und romantisch nennen, aber das Wort Verbrechen verdient er nicht.“

Da sein Gegenüber schwieg, wiederholte er beim Weitersprechen manchmal ganze Sätze, durch die ihn Nelly Brown überzeugt hatte, und er merkte, wie Günter Overmans ihm jetzt schon viel aufmerksamer zuhörte, von der ersten Empörung blieb immer weniger übrig.

Doch mitten im Satz brach Just Frank ab, ein Wehelaut aus dem Nebenzimmer, dem ein dumpfer Fall folgte, liess beide Männer aufhorchen.

Einen Augenblick später stürzte Günter Overmans zur Schlafstubentür, riss sie weit auf und dann rief er auch schon: Doktor! Doktor!

Karola war nach der Erregung, in die sie der Brief des Schwiegervaters und das impertinente Betragen der Nurse versetzt, aus ihrer knienden Haltung vor dem Stuhle umgesunken und ohnmächtig zusammengebrochen.

„Sie ist ganz verhetzt und übernervös aus Angst um das Kind und vor meinem Vater,“ klagte Günter Overmans und trug die am Boden Liegende, mit Hilfe des Arztes, auf ihr Bett.

Just Frank mühte sich um sie, tröstete den erregten Mann: „Es ist nur eine ganz leise Ohnmacht!“

Er dachte, dieses Ohnmächtigwerden der jungen Frau unterstützte seine Ueberredungsversuche von vorhin bei Günter Overmans gerade im geeigneten Moment sehr wirksam, illustrierte sie gewissermassen.

Es dauerte auch nicht allzu lange, bis Karola wieder die Augen aufschlug, die grossen, tiefdunklen Blauaugen, die, seit er sie zum ersten Male gesehen, über Günter Overmans Leben standen als die herrlichsten Sterne.

Niemals vordem war es Just Frank so sehr aufgefallen wie eben, von welcher rührenden Kindlichkeit das feine Gesichtchen der jungen Frau noch war, trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre.

Es würde vielleicht gar nicht einmal so schwer sein, sie für den Plan zu gewinnen.

Vor allem lag ihr doch auch an Ruhe und an einem guten Leben. Ihre immer sehr modisch und sorgfältig ausgewählte Kleidung, ihre Freude an wertvollem Schmuck waren beachtenswerte Bundesgenossen.

Karola klagte: „Ich schäme mich meiner Schwäche, aber es war so heiss heute, das hat mich erschlafft.“

Ihr Mann nahm ihre beiden Hände, führte sie abwechselnd an die Lippen, ohne zu sprechen.

Es war Ingrimm in ihm und auch Kummer.

Wie brav Karola zur Lüge griff, um nicht die Schuld auf den Vater zu schieben.

Die Hitze war gar nicht so besonders gewesen, nur der Brief aus Stuttgart und die Frechheit der Nurse hatten die schon durch und durch Nervöse umgeworfen.

Befand sie sich aber jetzt schon in diesem Zustand, was sollte erst werden, wenn das Kind wirklich starb und sie dann wieder mit seinem Vater zusammentraf, was doch gar nicht zu umgehen war?

Just Frank verabschiedete sich.

„Ich schaue noch einmal nach Trautchen und gehe dann in mein Hotel. Wenn Sie mich nochmals wünschen, bitte ich, wie immer, anzutelephonieren.“

Günter Overmans war es, als traf ihn dabei ein ganz besonderer Blick.

„Bleiben Sie noch lange auf, Herr Doktor?“ fragte er. „Denn dann mache ich Ihnen nach dem Nachtessen vielleicht noch einen Besuch.“

„Ich begebe mich nie vor Mitternacht zur Ruhe,“ erklärte Just Frank, „die Sommernächte hier oben im Schwarzwald sind gar so wundervoll. Ebenso die frühen Morgenstunden, die ich besonders liebe. Da laufe ich oft stundenlang in der Umgebung umher, lege mich irgendwo an einen saftgrünen Bergeshang und schaue den weidenden Kühen zu. Wenn es einen aber plötzlich packt, und man erinnert sich mit einem Male an die grosse lebhafte Stadt, in die man bald zurückkehren muss, und an all die graue stumpfe Kleinlichkeit, von der man dort erwartet wird, dann friert man in der köstlichsten Morgensonne. O, wie möchte man dann so herzensgern mit dem kleinsten Bauer tauschen in seinem niedrigen Hause, unter dem tiefgehenden, weitüberhängenden Dach, wie gern möchte man dann dem Kuhhirten zurufen: Gib mir deinen Stecken, das Zeichen deiner freien Herrscherwürde, und ziehe anstatt meiner in die laute Stadt! Aber wenn sich der Wunsch erfüllte, wäre man wohl erst recht ein armer Schlucker, weil man sich ja auf die Dauer doch nicht mehr in der überwältigenden Schlichtheit der Natur zurechtfände, man ist verdorben dafür, die Stadt hat uns das Blut vergiftet.“

Karola Overmans konnte schon wieder ein ganz klein wenig lächeln.

„Sie scheinen Anlage zum heimlichen Dichter zu haben, Herr Doktor!“

Er lächelte ebenfalls.

„Vielleicht!“

Er verabschiedete sich und während er seinem Hotel zuschritt, dachte er nur daran, ob ihn Günter Overmans heute wohl noch aufsuchen würde.

Er hatte so das Gefühl, es wäre möglich.

Er hatte ihm vorhin am Lager der Ohnmächtigen deutlich vom Gesicht abgelesen, er beschäftigte sich in Gedanken doch schon mit dem Plan, von dem er nichts hatte wissen wollen.

Und richtig, kaum hatte er auf der Veranda des Hotels sein Nachtmahl verzehrt, als Günter Overmans schon vor ihm stand und ihn bat, noch einen kleinen Spaziergang mit ihm hinaus in die Natur zu machen.

Just Frank war sofort dazu bereit.

Er liess seinen Nachtisch im Stich, holte seinen Hut vom nahen Garderobenhaken, und von allerlei oberflächlichen Dingen redend, wanderten die beiden irgendeiner kleinen Einsamkeit entgegen, um dort von dem zu sprechen, was ihnen auf dem Herzen brannte.

Weit draussen an der Alb fanden sie eine Bank, die ihnen für ihr Gespräch der rechte Platz zu sein schien.

Es war eine jener wundervollen hellen Sommernächte, die wie Extrageschenke des Himmels sind.

Köstliche Frische kam von dem Flüsschen her, mischte sich mit dem kräftigen starken Odem der Berge, und Günter Overmans fand, hier draussen in der Reinheit der Natur war es schwerer als in irgendeinem Zimmer, das Thema zu besprechen, das ihm keine Ruhe mehr liess seit Karolas Ohnmacht vorhin.

So phantastisch und unmöglich ihm der Vorschlag der alten Tänzerin auch erst geschienen, so beleidigt er sich gefühlt, weil ihm Just Frank davon gesprochen, so annehmbar dünkte er ihm, seit er wieder den Beweis erhalten, wie sehr Karola litt und wie sie sich meist nur zusammennahm, um ihn nicht zu erschrecken und zu betrüben, bis sie dann ab und zu widerstandlos wurde.

Er begann hastig: „Ich bin in grosser Besorgnis wegen meiner Frau, es geht einfach nicht so weiter. Raten Sie mir doch bitte, Herr Doktor, was geschehen soll, um ihr zu helfen.“

Just Frank erwiderte ohne Umschweife: „Sie wissen so gut wie ich, seelische Leiden lassen sich nicht mit Pillen und Tropfen verjagen. Die Angst, das Kind verlieren zu müssen, quält Ihre Frau stark, aber beinahe noch stärker ist die Furcht vor Ihrem Vater, vor seinen unverdienten Vorwürfen. Wie bald wird die Aermste Trauerkleider tragen, aber tiefer Schmerz verlangt nach Ruhe und Frieden, um still zu werden. Ihr Vater wird der Beklagenswerten diese Ruhe und diesen Frieden nicht gönnen. Wir brauchen uns ja darüber nichts vorzumachen. Es kann sogar geschehen, Ihre Frau glaubt schliesslich noch, seine Vorwürfe zu verdienen und belastet ihr überreiztes Hirn damit. Ihre Frau ist sehr zart und so könnte es möglich sein, dass sie, die durch die Reden Ihres Vaters schon mürbe gemacht ist, nach dem Verlust des Kindes ganz verwirrt würde. Sie leidet schon an einer Art von Verfolgungswahn durch Ihren Vater. Wenn das Gespräch auf ihn kommt, zuckt sie zusammen und zittert.“

Er brach ab, sagte nach einem Weilchen, anscheinend ganz unzusammenhängend mit dem Vorherigen: „Es ist ein gesunder Menschenschlag, der hier im Schwarzwald zur Welt kommt, die kleine Babette ist selbst wie ein derbes stämmiges Tannenbäumchen.“

Günter Overmans sah vor sich nieder.

Scheu flüsterte er: „Ich wage es nicht, meiner Frau davon zu sprechen.“

„Es ist vielleicht gar nicht so schwer, wie Sie glauben,“ ermunterte Just Frank.

„Ich werde es bei nächster Gelegenheit versuchen,“ kam es gepresst zurück. „Da Sie mir wiederholt versicherten, es sei keinerlei Gefahr mit der Ausführung des Planes verbunden, so willige ich in alles, wenn meine Frau einwilligt. Nur Ruhe soll sie endlich haben, jetzt und für die Zukunft!“

Seine Stimme war voll Qual.

„Sie will es ja durchaus zu keinem Zerwürfnis zwischen dem Vater und uns kommen lassen, und ich wage es nicht, weil ich ihr keine Garantie bieten kann, dass ich ihr, wenn ich mich vom Vater lossage, der sie quält, auch nur ein leidlich sorgloses Leben zu bieten vermag. Und sie soll und darf nicht in Not geraten.“

Just Frank neigte sich ganz nahe dem Ohr des anderen und wiederholte die Einzelheiten des Planes. Er betonte: „Trautchen ist schon viel zu schwach, um noch lange leben zu können. Die Browns bleiben in Deutschland, bis — nun ja, und mit den Papieren der kleinen Babette geht Trautchen zur ewigen Ruhe! Am besten ist’s natürlich, möglichst bald hier fortzureisen und uns wo anders mit den Browns zu treffen, Tür an Tür mit ihnen zu wohnen und offiziell die Kinder schon mit den Namen zu vertauschen. Da niemand etwas ahnt, wird niemand misstrauisch werden.“

Günter Overmans sass schweigend. Er leistete gar keinen Widerstand mehr. Mochte das geschehen, was er zuerst ein Verbrechen genannt, mochte es geschehen, wenn Karola einverstanden war.

Aehnliches geschah vielleicht öfter auf der Welt aus mehr oder weniger egoistischen Gründen. Ein Mensch starb, ein anderer, ihm äusserlich ähnlich, nahm seinen Platz ein und die Welt ging deshalb nicht aus den Fugen. Nicht eine einzige Schwarzwaldtanne stürzte, wenn Trautchen starb, und die mollige kleine Babette Karola und ihn Mutter und Vater nannte.

Er erhob sich. Er wollte es jetzt des Grübelns und Simulierens genug sein lassen, er fühlte sich matt und benommen.

„Wir wollen umkehren, Herr Doktor, sonst ängstigt sich meine Frau vielleicht über mein langes Ausbleiben.“

Er blickte zu den flimmernden, flirrenden Sternen auf, die in silberner, klarer Teilnahmelosigkeit so hoch über all dem Leid der Menschen stehen. In dieser köstlichen Sommernacht schienen die Sterne da droben heller und zahlreicher denn je, aber von keinem einzigen floss Trost und Wärme nieder in das Herz des Mannes, der schwer gekämpft zwischen Gattenliebe und Vaterliebe.

Schweigsam gingen die beiden späten Spaziergänger durch die prächtigen Anlagen an der Alb, und sie trennten sich mit flüchtigem „Gute Nacht“ vor dem Hotel des Doktors.

Als Günter Overmans die Gartentür der Villa, wo er wohnte, öffnen wollte, hörte er durch Gebüsch und Hecken, die das Gartengitter von innen bekleideten, die Stimme der Nurse eben in lautem Flüsterton sagen: „Meine Madame ist ja jetzt immer wie verrückt! Jetzt sitzt sie wieder am Bett des Kindes und starrt es mit ganz unheimlichen Augen an. Mich fragte sie, ob das Kind nicht am Ende gar tot sei, ihr schiene es, als spüre sie keinen Atem mehr. Nun, Grund sich aufzuregen hat sie reichlich; wenn das Kind stirbt, kann sie sich auf etwas von dem Schwiegervater gefasst machen! Wissen Sie, Frau Blümli, sie ist eigentlich nichts anderes als unsereins gewesen. Gesellschafterin war sie bei einer alten Dame in Stuttgart. Der alte Overmans hat die Heirat zwischen den beiden auch durchaus nicht zugeben wollen, nun wischt er ihr aber bei jeder Gelegenheit eins aus. Das Kind ist merkwürdigerweise sein ein und alles, wenn das ein Engelein wird, was wohl sicher ist, möchte ich nicht in ihrer Haut stecken! Das Kind tut einem ja leid, denn der Alte ist millionenschwer und die Kleine hätte sicher mal den ganzen Krempel geerbt.“

Also mit der Vermieterin unterhielt sich das empfehlenswerte Kinderfräulein so ungeniert über die Herrschaft. Sie schien das weise Sprüchlein nicht zu kennen: Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’!

Ehe sich Günter Overmans noch recht besonnen, ob er jetzt dazwischentreten sollte, sprach Hedwig Ritter schon weiter: „Ja, sehen Sie, liebe Frau Blümli, so sieht es hinter den Kulissen aus und man braucht reiche Leute eigentlich gar nicht immer zu beneiden.“

Die Vermieterin brummte etwas, anscheinend eine Zustimmung.

Schon fuhr die Nurse fort: „Wenn das Kind sterben sollte, verliere ich eine sehr gute Stellung, der alte Herr hat grosses Vertrauen zu mir. Von der jungen Frau lasse ich mir nichts sagen, gar nichts! Ich werde mich auch jetzt bei Herrn Overmans senior in einem Brief beschweren, dass sie mich vorhin aus dem Zimmer gewiesen hat, weil sie mit dem Kind allein sein will. Und ich schreibe ihm auch, dass sie mich gefragt hat, ob das Kind tot wäre.“

Im ersten Zorn wollte Günter Overmans jetzt vortreten und der abscheulichen Person gründlich seine Meinung sagen, wollte sie sofort entlassen.

Aber schon in nächster Sekunde fand er das sehr töricht. Es hatte ja alles Zeit bis morgen, hier draussen durfte er keine Szene hervorrufen.

Wie eigen das nur war, dass er jetzt, ohne sich auch nur im geringsten den Kopf zerbrechen zu brauchen, einen Entlassungsgrund für die Nurse hatte.

Denn die Entlassung der Nurse spielte eine Hauptrolle in dem Plan Nelly Browns.

Er trat jetzt absichtlich laut auf, öffnete die Gartentür mit beinahe zu viel Geräusch.

Die zwei Klatschbasen fuhren auseinander, als hätte man einen Kübel kaltes Wasser über sie ausgeleert.

Günter Overmans fragte mit erzwungener Ruhe: „Weshalb sind Sie nicht bei Trautchen?“

Hedwig Ritter, die noch eben wie das verkörperte böse Gewissen dagestanden, war nach der Frage überzeugt, der eben nach Hause Gekommene hatte nichts gehört von dem, was nicht für sein Ohr bestimmt gewesen.

Sie erwiderte sehr liebenswürdig: „Die gnädige Frau wünschte ein wenig mit Trautchen allein zu bleiben und da ging ich noch ein Weilchen in den Garten. Doch nun will ich sofort zu dem Kinde, denn ich meine, die gnädige Frau sollte sich jetzt lieber zur Ruhe begeben, ihr Nerven sind zu sehr herunter. Ich sagte eben zu Frau Blümli, wie sehr mir die arme gnädige Frau leid tut.“

Beinahe hätte Günter Overmans ihr ein kräftiges: Pfui Teufel, Sie gemeine Lügnerin! ins Gesicht gerufen, doch er beherrschte sich wiederum und verschwand mit kurzem Gutenachtgruss.

Frau Blümli meinte etwas vertattert: „Mir scheint, er hat was von Ihrem Geschwätz gehört!“

Hedwig Ritter schüttelte den Kopf.

„Ausgeschlossen! Wenn er gehört hätte, was ich sagte, wäre er eben bestimmt nicht so ruhig gewesen.“

„Ich weisst nicht, ich weiss nicht, mir kam er nicht recht geheuer vor,“ brummelte die dicke Frau Blümli, die diese sehr gut zahlenden Kurgäste aus Stuttgart gern noch längere Zeit im Hause behalten hätte.

Die Nurse klopfte ihr gönnerhaft auf die Schulter.

„Keine Bange, Frau Blümli, wenn ich Ihnen versichere, er hat nichts gehört, dürfen Sie sich darauf verlassen, ich kenne meine Pappenheimer und bin eine gute Menschenkennerin.“

Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1

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