Читать книгу Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1 - Anny von Panhuys - Страница 7
4. Kapitel.
ОглавлениеVor der Gartentür stand der dunkelblaue Benzwagen, Karola nahm neben Günter Platz und gleich darauf sauste das Auto auch schon dahin.
Karola hatte keinen Hut aufgesetzt und der leichte Wind spielte mit ihren losen, lockigen Scheitelhaaren und dem goldnen Gewirr im Nacken, das sich aus dem kleinen weichen Knoten stahl.
Der kosende, erfrischende Wind liess sie tief aufatmen nach den Beängstigungen der letzten Stunde, aber sie redeten kein Wort mehr darüber jetzt die zwei, die sich nach fünfjähriger Ehe noch liebten wie am Tage, da sie die Ringe gewechselt.
Auf wundervoller, durch ein Land der Romantik sich hinziehender Chaussee gelangten sie an das Gasthaus „Zur Seebrugg“, wo sie eine Erfrischung genossen, das Auto zurückliessen und den kurzen Weg zum Schluchsee zu Fuss machten. Bald hatten sie ihn erreicht. Schmal und langgestreckt lag sein Wasser vor ihnen, wie ein Hauch von Melancholie ging es von dem stumpfgrauen düsteren See aus.
Die Sonne barg sich schon hinter dem Wald, der die Ufer säumte, und es war Karola, als senke sich ein düsterer Schleier nieder, umhülle die Landschaft und ersticke jedes Hoffen für immer in dem Gespinst grenzenloser Trostlosigkeit.
Ganz anders hatte sie sich diesen See vorgestellt.
Ganz anders!
Als ein helles, freundlichschimmerndes Auge in dunkler Waldesmitte, als ein frohes Lachen der Natur, als einen Trost für Zage und Lebensbange.
Sie schmiegte sich eng an ihren Mann.
„Hier dürften nur ruhige, zufriedene Menschen hergehen,“ sagte sie leise, „wem schon bedrückt zumute ist, den schreckt hier so vieles, was Fröhliche gar nicht sehen würden.“
Ihre Rechte wies über die stumpfen Wasser.
„Schau nur, Günter, dort drüben zwischen den Baumstämmen spaziert der Tod umher, dort der Kahn am Ufer gehört ihm. Darin kommt er herübergefahren, um uns unser Trautchen fortzuholen.“
Günter Overmans überlief es kalt, und ihm war es fast, als grinse dort drüben hinter einem der Baumstämme wirklich des Knochenmannes grauses Antlitz hervor.
Er zog die geliebte Frau fest an sich.
„Karola, einziggeliebte Karola, was redest du nur? Um Christiwillen, nimm dich zusammen, werde nicht krank vor Jammer und Aufregung. Vergiss nie, bitte, vergiss nicht einen einzigen Augenblick, dass du mein Alles auf der Welt bist. So lieb ich das Kind habe, schon weil es unser Kind ist, so habe ich dich doch noch lieber. Ohne dich ginge ich zugrunde, wäre der elendeste Mensch. Deshalb erhalte dich mir, denke immer und immer an unsere Liebe. Sprich nicht solche Dinge wie eben, du erschreckst mich masslos.“
Sie fuhr sich mit der Rechten über die Stirn, hinter der viele schmerzliche und traurige Gedanken kreisten.
„Sei mir nicht böse, Günter, aber ich bin so sehr durcheinander von dem, was Dr. Frank heute gesagt, ich kann nicht damit fertig werden.“ Sie schob sich langsam mit ihm einige Schritte zurück. „Ich habe dich auch sehr lieb, Günter, ich habe dich unendlich lieb, aber wenn ich mir vorstelle, Klein-Trautchen wird eines Tages nicht mehr bei mir sein und niemals mehr wiederkehren, dann vergesse ich beinahe meine Liebe zu dir und denke, die ganze Welt würde zu einem grossen Grabe.“
Sie blickte sich scheu um, doch keiner war weiter in der Nähe zu sehen, als ein Stückchen hinter ihnen im Walde ein älterer Mann mit einem Mädchen. Anscheinend ein Bewohner des Dorfes mit seiner Enkelin.
„Wahnsinnige Angst habe ich vor deinem Vater. Und wenn du mir noch so fest deinen Schutz versprichst, ich wage mich bestimmt nicht in seine Nähe, wenn Trautchen nicht am Leben bleibt. O, weshalb tat der Himmel kein Wunder? Wie lieb und schön hätte alles werden können, wenn sich dein Vater endgültig mit mir ausgesöhnt hätte! Und nun wird er mich, da seine Natur nun einmal so ist, bald hassen wie seinen schlimmsten Feind.“
Unter den langen Wimpern drängten sich ein paar grosse Tränen hervor und sie zogen mit feierlicher Langsamkeit über die sanft gerundeten Wangen, erweckten heisse Rührung in dem Manne, der sich so entsetzlich machtlos fühlte, gegen das bittere Weh der liebsten Frau anzukämpfen.
Plötzlich schrie sie leicht auf und taumelte zurück, irgend etwas war ihr gegen den Kopf geflogen.
Günter bückte sich, hob einen kleinen bunten, aber schon stark verfärbten Gummiball auf.
„Siehst du, hier ist der Uebeltäter,“ suchte er zu scherzen.
Beide schauten sich um.
Der ältere Mann, der im Walde mit dem Kind gespielt, stand jetzt auf dem Weg zum Dorf, nicht allzu weit von ihnen entfernt.
Seinen Hut trug er in der Hand und man erkannte jetzt deutlich, dass er kein Bauer war.
Das Kind aber kam mit überhasteten, etwas grotesken Sprüngen näher, langsam folgte ihm der Mann.
Und als das Kind sich so näherte, und die beiden am Seeufer Stehenden es immer deutlicher betrachten konnten, fühlte Günter förmlich das Zittern des schmalen Frauenkörpers mit, und ohne, dass Karola ein einziges Wörtchen sprach, wusste er, was sie jetzt empfand.
Denn er erblickte ja dasselbe, was ihre Augen erblickten: Das kleine, schlicht und bäuerisch gekleidete, ungefähr vierjährige Mädchen, das täppisch lebhaft auf sie beide zusteuerte, weil es seinen Ball in den Händen Günters sah, ähnelte Trautchen fast zum Verwechseln.
Nur dass die Wangen des fremden Kindes, von der Gesundheit geküsst, in leuchtendem Rosenrot blühten und sein Körperchen vor Lebenswonne strotzte.
Die Lippen waren wie ein Herzkirschenpaar und die grauen Augen funkelten vor Uebermut.
Der Mann setzte sich jetzt auch in Trab, und er holte das Kind denn auch ein, gerade als es dicht vor dem Paare stand, seine dicken Patschhändchen verlangend nach dem Ball ausstreckte.
Karola war tief erschüttert von der Aehnlichkeit des fremden Mädelchens mit ihrem Kinde.
Der Begleiter der Kleinen, der mit einer gewissen saloppen Eleganz gekleidet war, wie man von nahe erkannte, grüsste durch eine leichte Verneigung, den Hut in der Hand.
„Ich bitte die Herrschaften vielmals um Vergebung, an dem unglücklichen Ballwurf trage ich die Schuld. Ich wollte den Ball nur gerade soweit werfen, um mein kleines Dickchen hier zum Laufen zu bringen. Und ich warf zu weit! Ich bitte nochmals recht herzlich um Verzeihung.“
Ein bewundernder Blick traf die reizvolle junge Frau.
Günter hatte dem Kind den Ball schon zurückgegeben, er bemerkte nun, dass Karola die Augen gar nicht von der Kleinen abzuwenden vermochte.
Er lächelte: „Das war ja nichts Schlimmes mit dem Ball. Uebrigens wollen wir auch ins Dorf, wenn es Ihnen recht ist, können wir ja zusammengehen.“
Der Aeltere, mit dem markanten Gesicht und dem leicht ergrauten Haar, nickte. „Aber gerne, mein Herr.“ Er lachte. „Da hat sich mein Babettchen schon ganz freundschaftlich an die Seite der jungen Dame gemacht, um recht genau das schöngestickte seidene Kleid zu bewundern. Mein Babettchen putzt sich nämlich gern und es gibt sicher mal ein Modenärrchen.“
Karola sah auf das Kind nieder und voll unsagbarer Bitternis dachte sie, warum war Trautchen nicht so ein frisches, gesundes Ding wie diese Kleine.
Die Tränen drängten sich ihr schon wieder in die Augen und die Kleine schaute zu ihr auf, blieb stehen und zwitscherte verwundert: „Hat dir mein Ball Weh-Weh gemacht?“
Karola schüttelte mit schmerzlichem Lächeln den Kopf.
Die Kleine schien flüchtig nachzudenken und zwitscherte nach einem Weilchen:
„Dann brauchst auch nit zu heule!“ Und nach kurzer, neuer Ueberlegungspause: „Babettli heult nur, wenn’s Weh-Weh hat.“
Günter wandte sich an seinen Begleiter.
„Meine Frau hat heute eine traurige Nachricht erhalten.“
Er sagte es, um Karolas tränenverschleierte Augen zu erklären.
Der Fremde neigte den Kopf.
„Da dürfen wir aber wirklich nicht stören.“
Er grüsste und wollte, seinen Schritt verlangsamend, zurückbleiben.
Doch Karola bat: „Gehen Sie doch mit uns zusammen. Das Kind erinnert mich so sehr an mein Liebstes und ich freue mich seiner Frische und Gesundheit.“
„Da hat die gnädige Frau wohl ein Töchterchen durch den Tod verloren?“ fragte der ältere Herr in mitfühlendem Ton.
Um Karolas Lippen zitterte der grenzenlose Mutterschmerz, der ihr Herz wundstach. Sie vermochte im Augenblick nicht zu antworten, ihr Mann tat es an ihrer Stelle.
„Unser einziges Kind, ein Mädelchen wie dieses im Alter, und ihm ähnlich fast wie eine Zwillingsschwester, ist schwach und leidend, ohne direkt krank zu sein, siecht es von Tag zu Tag mehr dahin und der Arzt gibt keine Hoffnung mehr.“
Der Fremde vermied jedes zudringliche Trostwort.
Er ehrte die Mitteilung durch längeres Schweigen, bewies dadurch, er besass Herzenstakt.
Die Kleine reichte Karola den Ball.
„Darfst ihn tragen, meinen Balli, und ich will dir’s Händli geben, du gefällst mir.“
Karola musste unwillkürlich über die niedliche Kleine lachen, und für kurze Zeit dämmte das drollige Geplauder des Kindes ihren Schmerz ein.
Der Fremde plauderte: „Das Kind gehört einer Nichte meiner Frau, die vor kurzem gestorben ist und nichts hinterliess als ein Dorfhäuschen, das gestern versteigert wurde. Meine Frau stammt aus der hiesigen Gegend, und weil sie gar zu gern wieder einmal Heimatsluft atmen wollte, reisten wir auf einen Jammerbrief ihrer Nichte hierher. Sie wollte uns vor dem Sterben ihr Kind übergeben, sie war schwer herzkrank. Ihr Mann verunglückte im vorigen Jahr in den Bergen.“ Er wies in einer bestimmten Richtung. „In der Nähe vom Hochfirst, bei einem fürchterlichen Gewitter.“
Er warf einen mitleidigen Blick auf das Kind.
„Das Würmchen ahnt noch nicht, wieviel es verloren hat, es meint, seine Mutter sei nur für ein Weilchen zum lieben Gott gegangen, um den Vater zu besuchen, aber da meine Frau und ich uns bemühen, seine kindliche Phantasie zu beschäftigen, wird ihm anscheinend die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter gar nicht lang.“
Er seufzte: „Die kleine Babette kann ja nichts dafür, aber Sie dürfen mir glauben, für uns bedeutet das Kind eine riesige Last. Man ist nicht mehr jung und elastisch genug für so ein Menschlein, und eigene Kinder haben meine Frau und ich nicht gehabt. Wir schwanken immer noch, ob wir die Kleine nicht ins Waisenhaus stecken sollen, denn ganz davon abgesehen, dass einem so eine Kleine mancherlei Last und Umstände macht, denkt man schon daran, was soll aus dem Kinde werden, falls einem etwas zustösst. Ich bin sechzig, meine Frau ist nicht jünger. Und dann hat man das Wurm ins Ausland geschleppt.“
Günter sah ihn fragend an.
Der Fremde lächelte ein wenig.
„Ach ja, Sie wissen ja weiter gar nichts von mir als das, was Sie eben hörten. Meine Frau und ich waren durch lange Jahre hindurch ein beliebtes und sehr gutbezahltes, gefeiertes Tanzduett, Ueber alle grossen Varietébühnen des Kontinents und vieler überseeischer Länder sprangen und hüpften wir, bis —“ Er lachte kurz auf. Es klang unfroh und fuhr fort: „Bis wir zu alt wurden für diese erstklassigen Etablissements. Die Varietés zweiten Ranges kamen an die Reihe und die dritten Ranges. Zum Schluss krebsten wir durch Singspielhallen niedrigster Ordnung, bis uns unser Selbstbewusstsein schliesslich ein energisches Halt zurief. Gerade in London kamen wir auf die Idee, unser Können für Unterrichtszwecke zu verwenden, und auf diese Weise bringen wir uns seitdem dort ganz gut durch. Wir unterrichten im Gesellschaftstanz, aber bilden ebenso für die Bühne aus. Einige Spargroschen liegen auch schon auf der hohen Kante, aber so ein Kind bedeutet eine erhebliche Störung. Wenn es wenigstens ein paar Jahre älter wäre! Meine Frau stösst sich nur an das Versprechen, das sie der Nichte gegeben, gut für das Kind zu sorgen, sonst hätte ich schon Umschau gehalten, wo es unterzubringen wäre. Auch ist’s ein allerliebstes Ding und tut einem leid. In kurzer Zeit werden wir abreisen und müssen es wohl schliesslich mitnehmen. Wir fühlen uns hier im allgemeinen doch nicht so wohl, wie wir hofften und allzu lange darf unsereins auch keine Ferien machen.“
Beim Plaudern war er gemächlich neben seinen Zufallsbekannten hergegangen, nun aber verhielt er den Schritt.
„Jetzt sage der Dame ein schönes ‚Grüss Gott‘ zum Abschied, Babette, nun müssen wir unseren Weg allein fortsetzen. Wir wohnen nämlich ganz abseits und wollen hier links einbiegen,“ wandte er sich an das Ehepaar. „Uebrigens mein Name ist Brown, früher, ehe wir uns naturalisieren liessen, wurde er zwar genau so ausgesprochen, doch ‚Braun‘ geschrieben. Ein häufig vorkommender Name ist’s, dort in England ebenso wie hier. Ich stamme aus der Ulmer Gegend, aber nun lebt niemand mehr dort.“
Karola neigte sich zu dem Kinde nieder.
„Gott segne deine Zukunft im fremden Lande, kleine liebe Babette!“
Als das volle rosige Gesichtchen dem ihren ganz nahe war, konnte sie nicht widerstehen, sie küsste die Kleine und ein paar heisse Tränen fielen auf die Wange des Kindes nieder.
Die Kleine zwitscherte verweisend: „Du darfst doch nit immer gleich heulen!“
Der alte Tänzer nahm schnell das Kind bei der Hand und zog es mit sich fort in den Seitenpfad.
„Komm, Babettchen, die Grosstante wartet auf uns.“
Er hatte bemerkt, wie fassungslos die schöne junge Frau war, weil sie wahrscheinlich wieder an ihr krankes Kind dachte, und er wollte ihr schnellstens den Anblick der Kleinen entziehen, damit sich die Aermste nicht weiter mit Vergleichen abquälte.
Karola aber schaute dem Mädelchen noch lange nach, das ein paarmal den Kopf wandte und Kusshändchen warf.
Sie sass dann wieder neben ihrem Manne im Auto und nach langem Schweigen, währenddessen beide ihren Gedanken nachhingen, sagte Karola voll Bitternis: „Weshalb ist nur alles so ungerecht verteilt auf der Welt? Die kleine Waise ist so übergesund, dass sie davon abgeben könnte, und unser Trautchen läuft wie ein Gespenstchen umher, wird täglich kraftloser, löst sich förmlich auf. Wir würden doch wer weiss was dafür geben, wenn unser Kind gesund wäre, und dieses andere Kind bedeutet für die Menschen, bei denen es leben soll, eigentlich nur eine Last. Wäre es da nicht gerechter, so ein Waisenkind, dem niemand besonders wohl will, wäre krank und stürbe, anstatt dass Trautchen vielleicht gehen muss, die so unendlich viel für uns bedeutet?“
Ihr Mann schüttelte abwehrend den Kopf.
„Solche Vergleiche passen nicht zu deinem guten Wesen und deiner anständigen Gesinnung.“
Karola verkrampfte die Hände ineinander.
„Du bist ein Mann und empfindest manches anders wie ich. Aber es hat ja auch keinen Zweck, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. Die kleine Babette besitzt in Ueberfülle, was unserm Trautchen fehlt, besitzt alles, was unser Liebling entbehren muss. Ach, Günter, es war so eigen, so überwältigend, als ich vorhin plötzlich das Mädelchen vor mir sah mit Trautchens Augen und Haar, mit ihrem Mund und Näschen, mit ihren Bewegungen. Es war, als stände Trautchen leibhaftig vor mir, aber als völlig Gesunde. Ich beneide das alte Paar, das sich seines grossen Glückes gar nicht bewusst ist, und mein Herz tut doppelt weh, wenn ich mir nun Trautchen vorstelle.“
Nach einem Weilchen begann sie wieder:
„Wenn sich Trautchen, wie wir gehofft, hier erholt und so dicke rote Bäckchen bekommen hätte wie das Waisenkind, brauchte mir nicht vor der Heimreise bangen.“
Günter Overmans sann traurig darüber nach, dass die Begegnung mit der kleinen Babette seine ohnehin schon so erregte Frau völlig durcheinandergebracht hatte.
Die Autofahrt nach Schluchsee, von der er sich ein Ruhigerwerden Karolas versprochen, wäre besser unterblieben.
Zu Hause erzählte dann Karola dem Doktor sehr lebhaft und mit zitternder Stimme von der Begegnung, betonte immer wieder die auffallende Aehnlichkeit zwischen den Kindern, machte Just Frank schliesslich neugierig.
Ihn interessierte die so übergesunde kleine Doppelgängerin Trautchens ebenfalls ausserordentlich.