Читать книгу Der Lebensretter - Anny von Panhuys - Страница 5
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ОглавлениеIn einer unbeschreiblichen Stimmung hatte Liselotte Wolfram die Villa im Tiergartenviertel verlassen. Sie eilte vorwärts wie gejagt, und als ihr ein leeres Auto entgegenkam, hielt sie es an, stieg ein, nannte eine beliebige Strasse und eine beliebige Hausnummer. Als sie bereits im Wagen sass, fiel es ihr ein, in dem Haus und der Strasse hatte einmal ein Dienstmädchen von ihnen gewohnt, nachdem es sich verheiratet hatte. Nun sass Liselotte in der geschlossenen Taxe, und die Gedanken stürmten quälerisch auf sie ein. Masslos verwöhnt bisher, schien es ihr, weil ihr ein Wunsch versagt worden war, als müsse deshalb die Erde stillstehen, als wäre deshalb alle Zukunft undurchdringlich düster. Blossgestellt fühlte sie sich auch. An Juwelier Hellers Geschäft würde sie sich gar nicht mehr vorbeiwagen. Sie erinnerte sich deutlich, dass sie, als sie die Kette probierte, zu ihm gesagt hatte: „Sie dürfen, auch wenn Sie Gelegenheit dazu haben sollten, diese Perlen auf keinen Fall verkaufen, mein Vater holt sie bestimmt.“
Der alte würdige Herr Heller wusste ganz genau, wer Franz Wolfram war. Die Farbenfabrik Wolfram im Norden Berlins gehörte zu den ersten Unternehmen dieser Art. Wenn Franz Wolframs Tochter sich bei einem Juwelier zur Abnahme eines Schmuckgegenstandes verpflichtete, glaubte man ihr unbedingt.
Sie hatte dem Vater erklärt, sie würde irgend etwas Verzweifeltes tun und hatte Tante Ria schon Andeutungen gemacht. Nun musste sie einfach etwas Verzweifeltes tun! Die Freundinnen sollten sie nicht auslachen und der Juwelier sie nicht bei einer möglichen Begegnung zur Rede stellen.
Liselotte war es, als umwoge sie dichter Nebel, hinter dem etwas Schreckliches stand, das auf sie wartete. Aber sie empfand keine Angst, eher Stolz, als hätte sie eine Heldentat vor, wenn sie sich auch noch nicht klar darüber war, welcher Art sie sein würde. Sie fühlte nicht einmal im Unterbewusstsein, dass sie nur ein ganz törichtes, verantwortungsloses Geschöpf war, das einen gütigen Vater in Verzweiflung stürzen wollte. Das Auto hielt, Liselotte aber war so benommen von ihren Gedanken, dass sie ruhig sitzenblieb.
Der Chauffeur öffnete die Tür: „Wir sind da, Fräulein!“
Sie blickte ihn sekundenlang fragend an, dann aber stieg sie schnell aus, gab ihm Geld, ein Vielfaches des Betrages, den der Taxameter anzeigte, und lief davon wie eine Verfolgte.
Der Chauffeur schüttelte den Kopf, als er umkehrte.
Liselotte war aufs Geratewohl losgegangen und begann erst jetzt, während sie durch unbekannte Strassen irrte, zu überlegen, was sie überhaupt tun sollte. Es schwebte ihr vor, sie müsse ins Ausland fliehen, dort untertauchen in fremder Umgebung, unter fremden Menschen.
Sie hatte ihr ganzes erspartes Taschengeld eingesteckt, es waren etwas mehr als dreihundert Mark. Sie erinnerte sich an einen mehrwöchentlichen Sommer- und Badeaufenthalt in Aachen, und wie verhältnismässig leicht es gewesen sei, von dort aus die Grenze nach Belgien zu überschreiten. Einfach als Spaziergänger. Und war sie erst einmal jenseits der deutschen Grenze und drüben im Ausland, wollte sie nach Lüttich. Das war eine grosse und lebhafte Stadt, in der sie sicher so gut verschwinden konnte, als wäre sie nie gewesen ...
Sie musste zunächst nach Köln reisen, wenn sie ihren Plan ausführen wollte, überlegte sie. Im erstbesten Café wollte sie das Kursbuch zu Rate ziehen und feststellen, wann ein Zug nach Köln ging. Morgen vormittag spazierte sie dann schon über die Grenze. Alles andere fand sich, brauchte jetzt nicht überlegt zu werden.
Liselotte malte sich aus, dass ihr Vater und Tante Ria, die ihn aufgestachelt hatte, in dieser Nacht, in der sie nicht mehr im Hause war, kein Auge schliessen würden.
Wie würden sie ihre Hartherzigkeit bereuen!
Beinahe taten sie ihr leid.
Aber sie konnte sich nicht auslachen lassen von den Freundinnen, nicht zur Rede stellen von Juwelier Heller.
Sie verginge ja vor Scham.
Also blieb ihr kein Rückweg.
Was aus ihr würde, war ja gleich, ganz gleich ...
Liselotte befand sich jetzt, ohne recht zu wissen, wie sie hierhergekommen, mitten auf einer Brücke der Spree. Sie ging mit gesenktem Blick ihres Weges, doch plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Schreie und wildes Gejohl waren jäh hinter ihr laut geworden. Sie wandte sich erschreckt um und sah einen Trupp Menschen hinter einem Mann herjagen, und der Mann kam gerade auf sie zugerast.
„Aufhalten! Ein Wahnsinniger!“ schrie ein Chor von Stimmen, die zum Brausen anschwollen.
Liselotte war es, als riefe man es ihr zu, sie dachte nicht daran, dass auch Passanten aus der entgegengesetzten Richtung über die Brücke kamen.
Sie stand in verzweifelter Starrheit, sie konnte den Wahnsinnigen nicht aufhalten, dazu gehörten andere Kräfte als die ihren.
Und nun befand sich der Unheimliche, dem das Haar in wirren Strähnen in die Stirn hing, schon dicht vor ihr, keuchte heiser: „Aus dem Weg, Weibsbild!“
Er stiess nach ihr, und Liselotte, ohne es zu wissen, was sie tat, blind und taub vor Angst und Schreck, kletterte hastig über das Brückengeländer. Sie wollte sich von aussen festhalten, bis man den Tollgewordenen eingefangen hatte.
Da stürzte er vor, schlug ihr auf die Hände, bis sie sich von ihrem Halt lösten.
Und ehe noch jemand helfen konnte, wirbelte ein Seidenschal hoch auf wie eine Fahne, stürzte ein schlankes Mädchen hinunter in das graue Wasser.
Schreie des Entsetzens gellten auf, übertönten das Freudengeheul des Wahnsinnigen, der schon von seinen Verfolgern erreicht und festgehalten wurde. Er schien jetzt ziemlich ruhig geworden und lachte nur:
„Alle Weiber müssten so ersäuft werden!“
Ohne den geringsten Widerstand liess er sich wegführen.
Es handelte sich um einen plötzlich Erkrankten, der unweit der Brücke wohnte, und den man in eine Irrenanstalt hatte überführen wollen. In letzter Minute war er seinen Wärtern entwischt, und Liselotte war sein Opfer geworden.
Es achtete niemand mehr darauf, auf welche Weise man ihn wegbrachte, alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den schmalen Mädchenkörper, der wie ein grosses Paket auf das Wasser aufgeschlagen war.
Immer mehr Leute eilten herbei, beugten sich über das Geländer und schauten erregt den erfolglosen Schwimmbewegungen zu.
Liselottes armer Kopf brachte keinen klaren Gedanken auf, Todesangst, grässlichste Todesangst schnürte ihr die Kehle zu, mühsam würgte sie ein paar Hilfeschreie hervor. Verzweifelt bemühte sie sich, ans Ufer zu kommen, und obwohl sie schwimmen konnte, gelang ihr keine einzige richtige Bewegung.
Von der Brücke aus beobachtete man voll atemloser Spannung die ergebnislosen Bemühungen des Mädchens, das dem sicheren Tod des Ertrinkens geweiht schien. Man redete lebhaft aufeinander ein, man schalt sich gegenseitig feige, aber keiner wagte den Sprung hinunter, und es gab doch bestimmt ein paar gute Schwimmer unter den vielen Neugierigen.
Bis jetzt war auch kein Polizist erschienen.
Plötzlich drängte sich ein Mann von ungefähr dreissig Jahren durch die Menge.
„Was gibt es hier zu sehen?“ fragte er, und weil er sich inzwischen sehr energisch weit genug vorgeschoben hatte, konnte er sich gleich selbst überzeugen, was unten im Wasser vorging.
Blitzgeschwind warf er seinen Mantel ab, und im nächsten Augenblick schwang er sich über das Geländer und schoss mit kühnem Sprung in die Tiefe. Mit einigen weitausholenden Armbewegungen teilte er das Wasser, und gleich darauf hatte er die Ertrinkende erfasst und schwamm mit ihr dem Ufer zu.
Liselotte Wolfram war nahe darangewesen, die Besinnung zu verlieren, gerade im letzten Augenblick hatte sie der starke Arm des Fremden an sich gezogen. Mit seiner Last kam er eben ans Ufer, als ein Schutzmann auftauchte, der ihm nun entgegentrat.
Ein Herr hielt Liselottes Handtäschchen hoch und erklärte: „Die Handtasche hat die Ärmste verloren, es sind Visitenkarten auf ihren Namen darin.“ Obwohl er den Namen gelesen, nannte er ihn nicht laut. Er hatte das Gefühl, dem jungen Mädchen wäre vielleicht damit gedient. Er reichte dem Schutzmann ein Kärtchen und die Tasche.
Liselotte triefte vor Nässe, ihr war zum Sterben elend von dem herbstkalten Wasser und der Angst und dem Grauen, die sie eben durchgemacht hatte. Ein Auto war plötzlich zur Stelle, und der Retter half Liselotte in den Wagen. Der Schutzmann schrieb den Namen von der Visitenkarte in sein Notizbuch, und in diesen wenigen Sekunden drängte sich der Retter durch die Menge, fand seinen Mantel, von einem Jungen behütet, und eilte davon.
Niemand achtete auf ihn, alle Aufmerksamkeit galt dem Mädchen im Auto. Als der Polizeibeamte Namen und Adresse des Retters anfordern wollte, war der Unbekannte fort und nirgends mehr zu sehen. Die Rettungsmedaille schien ihn nicht zu locken.
Eine ältere Krankenschwester, die zufällig über die Brücke gekommen und den Vorgang miterlebt hatte, erbot sich, Liselotte, die zunächst keiner ärztlichen Hilfe bedurfte, nach Hause zu bringen. Ihr übergab der Schutzmann das Handtäschchen. Im Arm der Krankenschwester lehnte Liselotte Wolfram, und die gute Helferin wurde ebenso nass wie die Gerettete. Liselotte schämte sich dieser Rückkehr vor Vater und Tante.
Aber die Todesangst, die sie ausgestanden, hatte alle eingeschlummerte Vernunft wieder gründlich wachgerüttelt.
Sie dachte nicht mehr daran, in die fremde Welt hineinzufahren, um irgendwo draussen zu verderben. Das schien schon weit, weit hinter ihr zu liegen.
Und sie hätte jetzt auch nicht mehr weggekonnt, weil sie ja nun nichts weiter war als ein armes, durchnässtes Menschenkind, dem zunächst nichts wichtiger auf der Welt schien als das eine, wieder trocken zu werden und sich von dieser Aufregung zu erholen.
Liselotte schüttelte sich entsetzt bei der Erinnerung an das, was sie erlebt hatte.
Ihr war es, als sähen sie wieder die tückischen Augen des Wahnsinnigen an, als flüchte sie davor wieder über das Geländer der Brücke und fühle abermals die harten Schläge auf ihre Hände, die sie zwangen, den Halt loszulassen und in das schreckliche graue Wasser zu stürzen.