Читать книгу Marietje singt - Anny von Panhuys - Страница 4
I.
Оглавление„Still, Marietje singt!“ Die Leute von Marken legten den Finger an die Lippen, sich damit gegenseitig zum Schweigen ermahnend, wenn die helle Mädchenstimme aufklang und klar und süss uralte Heimatslieder wach wurden.
„Still, Marietje singt!“ flüsterten sich schon die Kleinsten zu, wenn Marietjes Singen gleich perlendem Lerchengetriller aufstieg und über das kleine Eiland hinzog, vorbei an allen den einfachen Holzhäusern bis hinab zum Strande, wo die goldbraunen, von weissem Flockenschaum gekrönten Wellen der Zuidersee anschlugen mit gleichmässigem Rauschen.
„Still, Marietje singt!“ Heiko Barends dämpfte unwillkürlich seine plumpen Fischertritte, wenn er Sonnabends, vom Fischfang heimkehrend, an dem Hause der Witwe van Daalen vorüberging und aus einem der offenen Fenster ein Lied herauswehte, das wie bitteres Klagen und frohes Jauchzen war.
Heimlich spähte er dann wohl hinauf, ob sich nicht ein Mädchenkopf am Fenster zeigte, ob ihm nicht aus rosigem Gesicht Marietje van Daalens blaue Augen lachten. Er hatte sie ja so lieb, und sie musste das auch merken, die schlanke Marietje, ohne Worte, denn für vieles Sprechen war Heiko Barends ebensowenig wie die übrigen Bewohner der Insel Marken. Aber Heiko dachte, mit dem richtigen Verspruch könne man gut noch ein Jährlein warten, denn Marietje zählte erst knapp siebzehn.
Heiko schien es manchmal, als suche Marietje seine Gegenwart, und er freute sich darüber, und wenn er sich während der ganzen Woche mit seinem Boote draussen auf dem Fischfang befand, dachte er an Marietje van Daalen und meinte, über die ruhelose See ihre jauchzende Stimme zu hören, die zu singen vermochte wie keine andere auf Marken. Dann packte heimliche Sehnsucht den breitschulterigen Heiko Barends nach der blonden Marietje van Daalen.
Und eines Sonnabends, als Heiko wieder an dem Hause der Witwe van Daalen vorüberschritt, seinem eigenen Heim zu, klang Marietjes Singen heller, jubelnder denn je.
Aber Marietje van Daalen dachte just an diesem lauen Sommerabend, da ihr Gesang schöner erklang denn je, wenig an Heiko Barends, sie hatte viel zu viel damit zu tun, dem eleganten fremden Paar, das heute hier vorübergegangen und das ihr Gesang zu ihr heraufgelockt, alle Fragen zu beantworten.
Deutsche waren die beiden, aber die Frau sprach gut holländisch. —
Immer von neuem musste Marietje den zweien etwas vorsingen. Endlich aber wusste sie fast kein Liedchen mehr und meinte bescheiden, dass es nun wohl genug sein dürfte.
Die üppige, dunkelhaarige Dame, deren Finger ständig mit einer goldenen Lorgnette spielten, lächelte ihren neben ihr sitzenden dicken Vater an und sagte etwas auf deutsch zu ihm, dann drehte sie sich auf ihrem Stuhle herum, der rundlichen Witwe van Daalen zu.
„Hören Sie, liebe Frau, möchten Sie viel Geld verdienen?“
In den matten Augen der Witwe leuchtete ein kleines Gierfünkchen auf.
„O Mevrouw, ich besitze nichts an Wert. Vor sechs Monaten ist mein Mann in einer Sturmnacht draussen auf dem See ertrunken, und Geld können zwei arme Frauen wie wir, gut gebrauchen, nicht wahr, Marietje?“
Marietje nickte, und die beiden dicken, goldroten Korkzieherlocken, die sich aus der sauberen Haube hervorstahlen und ihr rechts und links vom Gesicht herniederhingen, pendelten hin und her.
„Nun also, gut.“ Die schwarzhaarige, beinahe auffallend gekleidete Dame lächelte behaglicher. „Ich denke, wir werden uns schon einigen.“ Und dann, ihrem Ton etwas Gewichtiges gebend, setzte sie hinzu: „Wissen Sie, wer ich bin?“
Die Witwe machte eine verneinende Bewegung. „Ich glaube, Sie wohnen seit ein paar Tagen im Gasthof am Strande, Mevrouw,“ erwiderte sie einfach.
„Ja.“ Die Dame richtete sich sehr gerade auf ihrem Stuhle auf. „Aber darum handelt es sich nicht,“ und langsam, mit scharfer Betonung fuhr sie fort: „Ich bin Gertrud Frenzau.“
Der dicke Graukopf neben ihr bestätigte mit schnalzenden Lippen laut: „Gertrud Frenzau.“
Es war, als kaue er die Silben vor lauter Wichtigkeit.
Die Witwe erwiderte nichts; der Name schien ihr keinen Eindruck zu machen, und ruhig blickten ihre matten Augen auf die Fremde, ruhig und abwartend, und Marietje stand neben der Mutter und schaute interessiert auf die glänzenden Ringe, die an den Händen der Fremden sassen.
„Ich bin Gertrud Frenzau,“ wiederholte die Frau, „und ich bin bekannt und berühmt in allen Ländern der Erde. Eine Sängerin bin ich und verdiene viel, viel Geld mit meiner Stimme.“
Die Witwe lachte dumm. „Mit Singen kann man kein Geld verdienen wie mit Fischfangen, nein.“
Die Dame tauschte einen raschen Blick mit dem Herrn, der deutlich ausdrückte: Wie kann man nur so weltfremd sein!
Dann lächelte sie: „Das verstehen Sie nicht, liebe Frau, weil Sie hier so abgeschieden von der Welt leben. Ich sage Ihnen, wer heutzutage eine schöne Stimme besitzt, kann Gold über Gold damit verdienen. Die Stimme Ihrer Tochter vermag Sie reich zu machen, liebe Frau.“
Die Witwe verzog nur den Mund ein wenig.
„Ich weiss, da drüben über der See ist das Leben anders wie bei uns; grosse Maschinen gibt es da, die alles schaffen, wozu wir unsere Hände brauchen, und merkwürdige Dinge gibt es dort, womit die Menschen Geld verdienen; aber dass man fürs Singen, womit man sich doch nur selbst vergnügt, noch Geld erhalten sollte — nein, das kann ich nicht glauben.“
„Liebe Frau, ich gebe Ihnen die Versicherung, es ist so. Ich verdiene damit Tausende von Gulden.“
„Ist das wahr?“
Das Gierfünkchen in den Augen der Witwe van Daalen leuchtete stärker denn vordem.
„Gewiss ist das wahr! Aber um so viel Geld zu verdienen, muss man auch eine Menge lernen. So singen, wie die Töne sich aus der Kehle herausdrängen wollen, das darf man nicht. Da muss geübt werden, fleissig geübt und studiert. Die Stimme bilden, nennt man das.“ Und Gertrud Frenzau begann lebhaft auf die Witwe einzureden.
„Sehen Sie, liebe Frau, deshalb bin ich ja heute zu Ihnen heraufgestiegen, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wie ich Ihnen vorhin bei meinem Kommen sagte, hörten wir Ihre Tochter ein paarmal singen und staunten über die herrliche Stimme. Es wäre schade, wenn diese Stimme hier in Marken bleiben sollte, ohne von der Welt gehört zu werden.“
Marietje hob den Kopf und sagte stolz: „Alle Markener haben Freude daran, wenn ich singe.“
Die Dame neigte nachsichtig den Kopf.
„Das glaube ich, Kind. Aber was ist die Freude der Insulaner im Vergleich zu der Freude, die Sie einer ganzen Welt bereiten können.“
Marietje begriff nicht und schwieg. Ihre Mutter aber fragte langsam: „Meinen Sie, Mevrouw, Marietje könne auch Tausende von Gulden im Jahr verdienen?“
Ihre breiten Arbeitshände rieben sich aneinander.
„Gewiss meine ich das, liebe Frau. Vielleicht auch noch mehr, wenn sie fleissig ist, Ihre Tochter, kann sie vielleicht schon im nächsten Herbst mit dem Geldverdienen beginnen.“
„Hast du’s gehört, Marietje?“ Die Witwe sah ihr Mädchen an. — „Ja, Mutter.“
„Um aber richtig singen zu lernen, müsste Ihre Tochter mit mir gehen, liebe Frau, müsste mich nach Berlin begleiten.“ Gertrud Frenzau liess ihre Lorgnette wieder in den Schoss sinken.
Sie wollte nicht weitersprechen, doch Marietje, sonst Fremden gegenüber schüchtern wie alle Markener Mädchen, ward plötzlich beredt.
„Fort von Marken soll ich?“ Sie schüttelte den Kopf, dass die Locken nur so flogen. „Hier fort, wo ich geboren bin, wo unser Häuschen steht, wo die Mutter wohnt, wo —“, sie brach jäh ab. „Wo Heiko Barends lebt,“ hatte sie sagen wollen, aber zur rechten Zeit fiel ihr noch ein, dass Heiko Barends diese Fremden nichts anging, ja, dass sie ihn nicht einmal kannten.
„O, sie hat sogar Temperament, die Kleine,“ warf Gertrud Frenzau ihrem Begleiter auf deutsch zu, und zur Witwe van Daalen gewandt: „Bei uns würde es Ihr Kind sehr gut haben.“
Die Witwe nickte: „Wenn’s nur nicht so weit wäre nach Berlin, ich weiss, das ist eine riesengrosse Stadt in Deutschland.“ Sie blickte sinnend vor sich hin und murmelte: „Aber wir sind arm, und Gold ist etwas sehr Schönes.“
„Wer auf Marken geboren ist, verlässt die Heimat nicht,“ sagte Marietje; aber ihre Augen hafteten wieder an den glänzenden Ringen der Dame, und ein leises Verlangen nach dem Schmuck beschlich ihre Brust.
„Kommen Sie nur erst einmal hinaus in die Welt, in die grosse Welt, dann werden Sie anders denken und sprechen,“ kam es überzeugend aus dem Munde der Dame. „Sie werden kaum Sehnsucht nach der Heimat verspüren. Auf Marken ist’s ja wie in einem verwunschenen Märchenreiche. Hier scheint die Zeit stillzustehen und es passiert niemals etwas Besonderes.“
Die Witwe zeigte ein wehleidiges Gesicht. „Vor sechs Monaten ertrank mein Mann.“
„Ich weiss.“ Die Dame wehrte ab. „Ich meine das auch ganz anders mit dem ‚passieren‘. Doch wir wollten ja von Ihrer Tochter sprechen. Also, liebe Frau, Sie handeln unverantwortlich, wenn Sie die wundervolle Stimme nicht der ganzen Welt schenken.“
Und dann begann Gertrud Frenzau den beiden eifrig Lauschenden redegewandt klarzumachen, was man von einer grossen Sängerin verlange und welche Aussichten Marietje winkten.
Als die dunkelhaarige Dame geendet, nickte die Witwe bedächtig. „Das klingt alles sehr schön und gut, aber ich möchte mir das, was Sie uns vorschlagen, noch ein paar Tage überlegen.“
In Marietjes Augen war bei der Erzählung Gertruds ein stilles Leuchten erglommen. Es musste schön sein in der Welt da drüben, jenseits der Zuidersee. Sie sah sich im Geiste schon auf so einer Bühne stehen, von der die Dame gesprochen, und ihr war’s, als schlüge schon jetzt tosender Beifall an ihr Ohr.
„Wenn sich alles so verhält, wie Sie eben sagten, Mevrouw,“ sprach sie laut, „dann möchte ich wohl mit Ihnen gehen.“
Ein traumseliges Lächeln spielte um den schönen, herbe geschnittenen Mädchenmund. Marietje dachte daran, wieviel Gutes sie zu tun vermochte mit dem Gelde, das sie mit ihrer Stimme drüben in der Welt, die jenseits der See lag, verdienen würde. Der Mutter Haus konnte sie auffrischen lassen, den gichtkranken Onkel Peter konnte sie unterstützen, und eine Menge Gulden blieben ihr noch übrig, wenn sie einmal heiratete.
Breitschulterig, ein junger, blonder Riese, trat die Gestalt Heiko Barends’ vor ihr geistiges Auge. Ein neues Schiff konnte Heiko gut gebrauchen — und ein paar feste, neue Netze. —
Marietjes Antlitz war wie von innen heraus durchsonnt. „Ja, ich möchte wohl Sängerin werden!“ sagte sie bestimmt.
Die Fremde lächelte: „Morgen reden wir mehr davon, doch heute, ehe wir gehen, singen Sie uns bitte noch ein kleines Lied.“
Marietje nickte. Sie trat einen Schritt zurück. Ihre Wimpern senkten sich und lagen wie breite Schatten unter den Lidern.
Eine alte holländische Weise hub Marietje van Daalen an zu singen, eine Weise, die der Vater sie gelehrt, als er sie vor Jahren ein paarmal mit hinausgenommen auf die See.
„Die See geht hoch, mein Schifflein schwankt,
Ich fahr’ voll Mut hinaus.
Ich fürcht mich nicht vor Regen und Wind,
Vor Sturm und Wogenbraus!“
Kräftig und voll klang der erste Vers; ein bisschen gedämpfter begann der zweite:
„Und hinter mir versinkt im Dunst
Die Inselheimat grau:
Gott schütze Marken, schütz’ mein Heim
Und schütz’ die liebste Frau.“
Und halblaut, wie in banger Ahnung eines herannahenden Unheils, schwebte es auf:
„Und kehrt mein Schiff nie mehr zum Land,
Zieht mich hinab die See.
Ade, o Marken, ade, o Heim,
Du liebste Frau, ade.“
Weich und verhallend erlosch der letzte Ton.
Die Witwe hatte die Hände vor das Gesicht gelegt, ein würgendes Schluchzen stieg ihr im Halse auf. Auch in den Augen Gertrud Frenzaus schimmerte es verdächtig, und der alte Herr sagte: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein einfaches Lied so tief wirken kann.“
„Singen Sie den letzten Vers noch einmal,“ bat die Dame.
„Und kehrt mein Schiff nie mehr zum Land,
Zieht mich hinab die See,
Ade, o Marken, ade, o Heim,
Du liebste Frau, ade — — — — —“
klang es von neuem.
Zwei Markener mit schweren Holzschuhen gingen an dem Hause der Witwe van Daalen vorbei.
Sie blieben stehen, um zu lauschen. Und die beiden alten Fischer erschauerten vor der tiefen Innigkeit, die Marietjes süsse Stimme in die schlichten Worte legte:
„Ade, o Marken, ade, o Heim,
Du liebste Frau, ade.“