Читать книгу Marietje singt - Anny von Panhuys - Страница 9

VI.

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Als man das Hotel verliess, um nach Berlin abzureisen, ging Marietje schon sichereren Schrittes die Treppe hinunter, als sie sie vor ein paar Tagen hinaufgestiegen war.

Während der langen Fahrt gab es so viel Neues zu sehen, dass Marietje kaum merkte, wie die Zeit verging.

Spät in der Nacht lief der Amsterdamer D-Zug in Berlin ein. Marietje befand sich in einer riesengrossen Halle, irgendein Mann mit einem blanken Schild an der Mütze und in einer grünen Jacke nahm ihr das Ledertäschchen aus der Hand, das ihr Gertrud Frenzau in Amsterdam gekauft hatte, und als sie sich dagegen wehren wollte, lachte man. Dann stand sie plötzlich neben Gertrud Frenzau und deren Vater auf einem grossen Platze, auf dem viele Laternen brannten. Wagen mit und ohne Pferde standen dort, und dann schob sie der alte Herr in so einen Wagen hinein, und nach einer Fahrt, die ihr wie ein Fliegen dünkte, hielt das Gefährt vor einem grossen Hause.

Viel mehr wusste Marietje am anderen Morgen nicht mehr, als sie, erwachend, sich den Schlaf aus den Augen rieb und verwundert um sich sah, wo sie sich denn überhaupt befand.

Dann fiel ihr allmählich ein, bass sie nun wohl in Berlin sei.

Sie sprang mit raschem Entschlusse aus dem Bett, warf einen Unterrock über und trat an das Fenster, dessen Scheiden ein Spitzenvorhang deckte, über den sich grossblumige, bunte Satingardinen breitfarbig bauschten.

O welch schöne, elegante Häuser und die vielen, vielen Wagen und Menschen! — Es war hier in Berlin augenscheinlich noch lebhafter als in Amsterdam.

Es klopfte an die Tür.

Gertrud Frenzau in schleppendem Morgengewande und lose aufgestecktem Haar stand auf der Schwelle.

„Guten Morgen, Marietje.“

Die Sängerin reichte ihr die Hand. Sie befand sich in prachtvoller Stimmung und wie warm pulsierende mitteilsame Freude ging es von ihr aus. Sie trug eine grosse Rose am Spitzenausschnitt und ihre Finger liebkosten die Blume. Erich Hillenbach hatte als Willkommen in aller Frühe einen Korb köstlicher Rosen geschickt und durch einige beigefügte zärtliche Zellen seinen Besuch angemeldet.

Gertrud hatte ihn seit Wochen nicht gesehen, nun war sie glückselig, ihm bald wieder gegenüberzustehen.

„Machen Sie sich fertig, Marietje,“ sagte sie, „mein Bräutigam wird bald kommen, und ich möchte doch, dass er Sie gleich kennenlernt. In meinen Briefen habe ich ihm bereits von Ihnen geschrieben.“

„Ja, Mevrouw.“ Wie ein gehorsames Kind bejahte Marietje.

So gern sie es getan, hätte sie doch um keinen Preis gewagt, Gertrud Frenzau zu bitten, sich diesem fremden Manne, von dem sie eben zum ersten Male hörte, nicht zeigen zu müssen. Am liebsten hätte sie ein paar Tage lang überhaupt kein fremdes Gesicht mehr sehen mögen, bis sie sich erst ein bisschen eingewöhnt haben würde.

„Also ziehen Sie sich an, Marietje, ich will auch gehen, mich schön machen, sonst überrascht mich mein Liebster im Morgengewande. Den Morgenimbiss schicke ich Ihnen gleich, durch unser später Aufstehen nach der langen Reise von gestern konnte heute keine Frühstückszeit eingehalten werden.“

Sie ging singend hinaus, ihre helle Schleppe fegte in weicher Schlangenwindung hinter ihr her.

Sie freut sich, dass ihr Bräutigam kommt, dachte Marietje und überlegte sehr ernsthaft, ob sie sich wohl auch so freuen würde, wenn sie Heiko Barends erwartete. Und im Spitzenhemd und schimmernden Seidenrauschrock spazierte sie vor den Spiegelschrank.

Während sie sich betrachtete, fiel ihr ein, als Heikos Frau durfte sie solche Sachen nicht tragen, selbst wenn sie ein paar tausend Gulden mit in die Ehe brachte. — Da würde sich Heiko nicht an sie heranwagen, um sie zu küssen, und die Markener würden sie hochmütig schelten und eingebildet.

Ein dralles, sauberes Mädchen erschien mit einem Brett, auf dem Kaffee, Brötchen und Butter standen. „Guten Morgen, Fräulein.“ Sie deckte mit flinken Händen auf dem Tische auf.

Marietje murmelte einen befangenen holländischen Gruss.

Das Mädchen entfernte sich lächelnd und mit einem letzten neugierigen Blick.

Marietje liess es sich schmecken, an gesundem Appetit fehlte es ihr niemals, dann beeilte sie sich, so gut sie nur konnte, mit dem Anziehen. Sie zog den grauen leichten Rock wieder über, den sie gestern während der Reise unter dem Mantel getragen, und die dazu passende graue Seidenbluse mit dem kleinen herzförmigen Ausschnitt, den ein schmales Spitzchen abschloss.

Mit echt weiblicher Auffassungsgabe für dergleichen wusste sie mit all den verschiedenen Kleidungsstücken, die zu einer modernen Damentoilette gehören und deren Anwendung ihr noch vor kurzem völlig unbekannt gewesen, schon gut und sicher umzugehen.

Gross, schlank und blond stand sie inmitten des Zimmers, das ihr fortan als Wohnraum dienen sollte, und wartete darauf, geholt zu werden. Denn ohne direkte Aufforderung hätte sie ja nicht gewagt, das Zimmer zu verlassen.

Marietje wartete lange darauf, geholt zu werden, aber niemand kam. Draussen hörte sie klingeln, hörte Schritte gehen. Dann hörte sie nebenan sprechen. Gertrud Frenzaus Stimme und die Stimme eines Mannes.

Das mochte wohl der Bräutigam sein.

Marietje stand ganz mucksstill. Vielleicht vergass man sie vorläufig. Das wäre schon das beste, ging es ihr durch den Sinn. Marietje fürchtete sich vor den neugierigen Augen des fremden Mannes.

Nebenan wurde sehr lebhaft gesprochen und laut, doch da Marietje deutsch nicht verstand, ahnte sie nicht, dass man sich gerade über sie unterhielt.

Und dann klopfte Gertrud Frenzau an ihre Tür, und Marietje erschrak fast, so prachtvoll war sie gekleidet.

Ein rubinrotes Kleid, dessen fliessende Falten die üppige Gestalt der Sängerin aufs vorteilhafteste zur Geltung brachte, stand ihrem brünetten Gesicht ausgezeichnet. Ein rosiger Hauch drang sieghaft durch den elfenbeinfarbenen Puder, der ihr Gesicht überhauchte, und ihre Lippen brannten glühend.

„Kommen Sie, Marietje, mein Bräutigam möchte jetzt Ihre Bekanntschaft machen,“ und sie zog Marietje, die willig wie ein kleines Mädchen folgte, an der Hand hinter sich her in den Salon.

Ein Herr erhob sich aus einem der umherstehenden Sessel. Gross, überschlank, ein wenig nach vorn geneigt, stand er da und sah den beiden entgegen.

Das kleine Lächeln um seinen scharfen Mund wich.

Donnerwetter!

Er gab sich einen innerlichen Ruck. Was hatte sich denn seine zukünftige Gemahlin da ins Haus geschleppt? Das war ja, bei Gott, das war eine Schönheit ersten Ranges. Allerhand Achtung! Erich Hillenbach verstand etwas von schönen Frauen.

Eigentlich unüberlegt von Gertrud, sich ein so schönes Gegenstück zu schaffen. Sie war immerhin schon die Dreissigerin, die gleich auf der ganzen Linie geschlagen war, wenn die neben ihr stehende blonde Fischermaid nur die Lider hob. — Und wie matt erschien Gertruds pikantes überpudertes Gesicht gegen den milchweissen, pfirsichzarten Blondinenteint des grossen, prächtig gewachsenen Mädchens.

Erich Hillenbach schob der vor Schüchternheit gänzlich Befangenen lächelnd die Hand entgegen. „Goeden Morgen, Mejuffrouw!“

Marietjes Augen wurden gross vor Staunen, in heimatlichen Lauten begrüsst zu werden.

„Goeden Morgen, Mynheer,“ grüsste sie zurück, und ihre Schüchternheit begann schon etwas zurückzudämmern.

Gertrud, der das Erstaunen ihres Verlobten bei Marietjes Anblick nicht entgangen war, lachte.

Es klang scharf, dieses Lachen.

„Lassen Sie sich nicht von ihm täuschen, Marietje, sein ganzer holländischer Sprachschatz besteht in den Worten: „Goeden Morgen, Mejuffrouw!“

Sie lehnte sich zärtlich an ihren Verlobten.

Marietje stand wie eine Kleiderpuppe. Sie wusste nichts zu sagen. Am liebsten wäre sie wieder in ihr hübsches Zimmer zurückgekehrt, aber sie blieb in stocksteifer Haltung stehen und wusste nicht, was sie nun tun sollte.

Der kleine Kapellmeister erschien. Trippelnd, hastig. — Er begrüsste den Baron. Freundlich, aber mit etwas gequälter Freundlichkeit, die er sich Erich Hillenbach gegenüber wirklich immer erst abringen musste.

„Nun, gut geschlafen, in der neuen Heimat?“ radebrechte er in schrecklichstem Holländisch und holte sich Marietjes Rechte, die er mit festem Drucke umspannte.

Marietje verstand ihn aber doch. Sie nickte. Ihr junges, herbes Nordlandantlitz war wärmer geworden, seit der Alte ins Zimmer getreten war.

Wenn dieses kühle Geschöpf auftaut, muss es entzückend schön sein!, grübelte Erich Hillenbach, und während man sich setzte und ein Gespräch in Gang kam, in das Gertrud durch eine ab und zu verdolmetschte Frage auch Marietje hineinzuziehen suchte, beobachtete er die blonde Schönheit.

Der alte Frenzau meinte zu Gertrud, er wolle nachher einmal versuchen, Marietje zu einem ihrer Lieder zu begleiten und irgendeine heimliche passende Begleitung zu ihrem Gesang auf dem Flügel zu finden.

Gertrud erhob sich. „Wir wollen das gleich tun, Papa. Ich freue mich schon, Erich meine Entdeckung vorzuführen.“

Das Gönnertum war in der berühmten Sängerin wieder erwacht.

Mit ängstlichem Gesichtsausdruck folgte Marietje den Weisungen, die ihr Gertrud Frenzau gab. Sie stellte sich, wie diese es wünschte, neben dem Ebenholzflügel auf, der schräg ins Zimmer gerückt war, und mit Aufmerksamkeit beobachtete sie jede Bewegung des alten Kapellmeisters, der vor dem Instrument Platz nahm und ein paar tiefe Akkorde anschlug.

O, wie zaubervoll das klang! Ganz, ganz anders, als wenn der Lehrer auf Marken dünne Liedchen herunterhämmerte und dazwischen manchmal ein blecherner Ton aufgellte.

„Singen Sie das alte Fischerlied, das Sie sangen, als wir Marken verliessen,“ sagte Gertrud, „und lassen Sie sich nicht stören, wenn mein Vater dazu spielt.“

Die ersten Töne kamen gedrückt und matt aus Marietjes Kehle, dann aber vergass sie völlig, wo sie sich befand. Sie musste an den toten Vater denken, der sie dieses Lied gelehrt, und sah sich mit ihm auf seinem Boote draussen auf der Zuidersee. Langsam trieb das Boot mit dem Winde und über die Wellen hin schmetterte seine kräftige Stimme das Lied. Sie sang es mit dünner Kinderstimme nach, und der Wind zupfte ihr die Worte vom Munde und warf sie in die rauschenden Wasser, aber fest und stark trotzte das tiefe Männerorgan dem bösen Winde, liess sich von ihm nicht unterkriegen.

Deutlich meinte Marietje den Vater vor sich zu sehen.

Und der Tag stieg wieder vor ihr auf, da die Wellen den Vater antrieben und die Mutter an seiner Leiche zusammenbrach.

Marietje empfand, was sie sang.

Und der Alte am Flügel suchte weiche Akkorde zusammen, die sich wie hergewehtes Glockenläuten mit der hellen Mädchenstimme vereinten.

„Du liebste Frau ade.“

Wehmütig brach das letzte „Ade“ durch das Rauschen von Meereswogen, die des alten Musikers Hand aus den Tasten zauberte.

Mit leuchtenden Augen blickte Marietje auf den alten Mann, der ihr zunickte.

Lächelnd, zufrieden.

Der erste Versuch war glänzend gelungen, das Mädchen hatte sich durch sein Spiel nicht im geringsten beirren lassen, also war sie musikalisch.

Marietje singt

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