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Arbeitsverweigerung

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Als ich ankam, saß Rafael Golowski in der Küche seiner Wohngemeinschaft beim Frühstück. Ihm gegenüber plauderte die aparte Brünette, die er bei der Preisverleihung am Vorabend abgeschleppt hatte, ohne Punkt und Komma. Mit ihrem beigefarbenen Kostüm wirkte sie wie ein Fremdkörper in diesem Chaos aus dreckigem Geschirr, Altpapier und Bierkisten. Golowski selbst sah müde und verkatert aus, aber er erkannte mich sofort und wurde noch eine Spur blasser. Alle Menschen erkennen mich sofort.

„Entschuldige mich einen Moment.“ Die junge Dame schien etwas irritiert, doch Golowski führte mich über den Flur und durch ein großes, unordentliches Zimmer auf einen Balkon.

„Warum ich?“ Er stellte die Frage, die alle stellen, und sah dabei in den Hinterhof hinunter. „Ich bin jung, mein Leben hat gerade erst angefangen.“

„Sie sind wohl gestern auf der Preisverleihung zu weit gegangen.“ Golowski schien sich nicht zu erinnern, sondern sah mich nur verständnislos an. „Ich zitiere: ,Was kümmert mich das Schicksal? Sehen Sie sich doch meine Bilder an: Ich bin unsterblich!‘ – Im Rathaus! Vor Publikum!“ Meine Stimme klang jetzt sarkastisch. „Kaufen Sie sich eine Zeitung. Ihre Unsterblichkeit steht als Überschrift im Lokalteil. Sie sind dran.“

Golowski schluckte, seine Schultern fielen herunter. Die Spielregeln musste ich ihm nicht lange erklären: Er hatte einen Tag. Wenn er in dieser Frist jemanden fand, der bereit war, an seiner Stelle zu sterben, konnte er bleiben, sonst war’s das.

Während Golowski in der Wohnung verschwand, um die junge Dame wegzuschicken, setzte ich mich auf einen der hölzernen Klappstühle. Ich hatte die Nase schon wieder gestrichen voll. Immer dieses Warten, immer das Gejammer der Leute. Und ihr ewiger Egoismus. „Warum ich?“ – wie oft ich diese Frage wohl schon gehört hatte. Es hing mir zum Hals heraus. Kein Mensch hat sich je für mich interessiert. Sie denken alle nur an sich selbst.

Beim aktuellen Auftrag kannte ich nicht einmal die Todesursache, ein Unfall wahrscheinlich oder ein angeborener Herzklappenfehler, vielleicht auch – mein Blick fiel auf die Blumenkästen mit Hanfpflanzen – irgendwas mit Drogen. Ich hatte keine Lust gehabt nachzufragen.

Schließlich kam Golowski mit einem Becher in der Hand wieder auf den Balkon und setzte sich zu mir an den wackligen kleinen Tisch. Er hatte sich ein grünes Hemd über sein T-Shirt gezogen, das seitlich ein wenig aus der Jeans hing. Mit seinem kurzen braunen Haar, den kräftigen Brauen und der markanten Nase war er ein gutaussehender Mann.

Zu meiner Überraschung fragte er, ob ich auch einen Kaffee wolle, aber dann begann das übliche Lamento. Wer wohl bereit sein könnte, für ihn zu sterben? Als erstes fiel ihm seine Mutter ein. Dann sein versoffener Mitbewohner Uli. Der sei ohnehin lebensmüde, neulich habe er versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. „Wahrscheinlich freut der sich sogar!“ Golowski schien seinen Optimismus wiedergefunden zu haben.

„Bis Uli aufsteht, können wir es uns hier ja gemütlich machen.“ Er verschwand kurz im Zimmer und brachte zwei dicke Sitzkissen. „Wollen Sie nicht vielleicht doch einen Kaffee?“

Als er mit der Thermoskanne und einem zweiten Becher wieder auf den Balkon kam, sah er nicht mehr so verstört aus. Er schenkte mir ein. „Entschuldigen Sie, wenn ich neugierig bin, aber man hat schließlich nicht so oft Gelegenheit …“ Er schaute mich jetzt direkt an. „Könnten Sie mir wohl ein bisschen von Ihrer Arbeit erzählen? Das ist doch sicher ein sehr interessanter Job, den Sie da haben.“

Fünf Stunden und drei Kannen Kaffee später hatte ich ihm alles über meinen Beruf erzählt. Wie anstrengend er oft ist, weil Leute sich mit Zähnen und Klauen gegen das Sterben wehren – hier musste er zum ersten Mal lachen. Dass er mich langweilt. „Schließlich mache ich die Arbeit schon seit Ewigkeiten“, klagte ich. „Dass Engel alterslos sind, heißt ja nicht, dass für sie keine Zeit vergeht.“ Dass ich bei der Arbeit jede Menge Elend und Grausamkeit zu sehen bekomme. Gestern zum Beispiel war dieser Verkehrsunfall gleich hier in der Nähe mit 28 Toten – und das ist ja harmlos gegen Folteropfer, misshandelte Kinder oder dergleichen.

Er schien zunehmend fasziniert von meinen Erzählungen. Alles wollte er wissen, auch über mein sonstiges Leben („Gibt es das überhaupt für Engel, ein sonstiges Leben?“), vor allem aber über meine Arbeit.

„Machst du es eigentlich auch manchmal gern?“ – wir waren inzwischen beim Du angelangt. „Ich meine, die meisten werden sich ja nicht gerade freuen, wenn sie dich sehen.“

Noch nie hatte sich jemand so für meine Arbeit interessiert wie Rafael. „Hast du dir den Job aussuchen können?“, fragte er jetzt. „Kannst du ihn nicht hinschmeißen, wenn du so unzufrieden bist?“ Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Engel können keine eigenen Entscheidungen treffen, oder? Allerdings musste ich zugeben, dass ich noch nie versucht hatte, mich aufzulehnen.

„Eigentlich ein Skandal, wenn ausgerechnet ihr keinen eigenen Willen haben dürft“, fand Rafael.

Aus der Wohnung war jetzt Musik zu hören, jemand pfiff ziemlich schräg die Melodie mit. Das musste Uli sein. Wollte Rafael nicht lieber mit dem sprechen, als mir solche ketzerischen Fragen zu stellen?

Er seufzte und nickte. „Ja, ich sollte das unbedingt sofort tun, schließlich habe ich nicht beliebig viel Zeit. Entschuldige mich bitte einen Augenblick, ich bin gleich zurück.“

„Ich kann mitkommen.“

„Nein, lieber nicht. Jetzt, wo wir uns kennen, wäre mir das peinlich. Kannst du bitte stattdessen hier warten?“

Schon nach wenigen Minuten stand er wieder auf dem Balkon. Er sah enttäuscht aus. „,Du spinnst wohl‘, hat er zu mir gesagt!“

Rafael holte Salzstangen aus der Küche und stellte eine neue Kanne Kaffee auf den Tisch. Er lächelte ein wenig verlegen. „Eigentlich kann ich es Uli ja nicht verdenken. Die Frage ist schließlich eine Zumutung – selbst an einen lebensmüden Säufer. Eine Anmaßung.“ Aber er wolle so gern noch weiter leben … Ob er noch zu seiner Mutter gehen sollte?

Wir saßen jetzt schweigend da. Nach einer Weile zog Rafael einen Skizzenblock hervor. „Stört es dich, wenn ich ein paar Zeichnungen von dir mache? Ich könnte daraus …“ – er hielt inne. „Entschuldige, ich vergesse dauernd, dass ich ja gar nicht mehr malen werde, dass du mich abzuholen gekommen bist.“

Er schluckte, aber einen Moment später strahlten seine Augen schon wieder: „Darf ich dich trotzdem zeichnen? Bitte. Dabei kann ich auch besser entscheiden, ob ich mich traue, meine Mutter noch zu fragen. – Was meinst du, soll ich es tun?“

Dieser Mann rührte mich. Ich gab keine Antwort.

Er arbeitete jetzt konzentriert, rasch und energisch fuhr der Stift über das Papier. Sein Blick sprang in Windeseile von mir zu seiner Skizze und zurück, nur einmal hielt er kurz inne und lächelte mich an, dann wurde seine Miene wieder ernst.

Ob ich tatsächlich selbst wählen konnte, was ich tat? Ob ich entscheiden konnte, den Maler Rafael Golowski einfach nicht mitzunehmen? Schließlich macht auch niemand sonst seine Arbeit immer perfekt.

„Asrael?“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Rafael aufgehört hatte zu zeichnen. Der Skizzenblock lag vor ihm auf dem Tisch. „Ich glaube, ich will doch noch zu meiner Mutter gehen. Kannst du mich begleiten?“ Ich hätte ihn umarmen können, wie er mich so bittend ansah. „Vielleicht frage ich sie. Vielleicht auch nicht, aber dann hat sie mich zumindest noch einmal gesehen.“ Er wirkte fast kindlich in seiner Unsicherheit. Ich war jetzt sicher, dass ich heute zum ersten Mal einen Auftrag nicht ausführen würde.

Unterwegs erzählte er von ihr: „Sie war sehr krank, als ich klein war. Krebs, glaube ich. Als wir klein waren, müsste ich eigentlich sagen, denn ich hatte einen Zwillingsbruder, aber er ist an Lungenentzündung gestorben. Mit vier. Jedenfalls hat sie damals immer Perücken getragen, weil ihr die Haare ausgefallen waren.“

Mir war plötzlich unwohl und ich hörte nicht mehr richtig zu. Als Rafael sagte: „… immer gesund. Aber sie ist kein glücklicher Mensch, nie gewesen“, erreichten wir das Haus. Er drückte auf den Klingelknopf.

Eine hagere Sechzigjährige mit wächsernen Wangen öffnete die Tür. Das graue Haar hatte sie zu einem kleinen Knoten gebunden, die müden blauen Augen richteten sich nur kurz auf ihren Sohn, dann schaute sie mich an.

Natürlich war sie damals viel jünger, aber ich erkannte sie sofort. Wie eine Löwin hatte sie gekämpft, hatte versucht, mit mir zu handeln, schließlich die Spielregeln akzeptiert. Einer ihrer Söhne war für sie gegangen.

„Diesen nehme ich nicht mit“ murmelte ich noch, dann verschwand ich. Ich werde meinen Job kündigen.

Richtung Süden

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